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31

Bis zu ihrer letzten Stunde begriff Maira nicht, wie sie diesen Augenblick hatte überleben können. Die Felsen schienen zu beben, die Eisgefilde zu bersten. Ein Schneegewölk hüllte sie ein und drohte sie zu ersticken. Aber sie lebte – überlebte den Augenblick!

Grauenvoll war auch, wie sie, als sie ihr Leben wieder empfand, plötzlich einen anderen Lebenden neben sich fühlte; als eine Menschenstimme zu ihr sprach – nicht die Stimme der Gräfin Oberndorff.

Sie war nicht allein gewesen, da sie das Gräßliche vollbracht: ihre große, ihre ungeheuerliche Liebestat, die einem Morde gleichkam, hatte einen Zeugen gehabt.

Der Mensch dicht neben ihr sprach zu ihr. Er sagte ihr flüsternd: er habe alles mit angesehen, könne alles bezeugen, werde alles beschwören. Er stammelte ihr sein Entsetzen und Grausen, seine Bewunderung und Entzücken; er gestand ihr seine Liebe, gelobte zu schweigen wie das Grab, das über der Verschütteten zu einem hohen Hügel eisigen Glanzes sich wölbte.

Er flehte um Erhörung.

Um Erhörung, wenn auch nicht jetzt; wenn auch nicht bald, so doch einmal!

Einmal sicher, da sie in seiner Gewalt war; da er seinen Schwur nur zu brechen, nur zu sprechen und zu bezeugen brauchte –

Von allem Furchtbaren der Stunde war dieses das Furchtbarste.

Sie gab keine Antwort, blieb dem teuflischen Versucher gegenüber so stumm wie – jetzt die andere war. Gian Vitals Büchse, daraus die letzte Kugel abgeschossen worden, hielt sie krampfhaft umklammert: das Gewehr mußte wieder an seinen Platz gehängt werden, der Edelweißkranz, die Totenkrone, darüber. Tiefheimlich mußte es geschehen; denn in der Stunde, die seit dem heimlichen Fortnehmen der Waffe verflossen, war sie eine Verbrecherin, eine Mörderin geworden ...

Jetzt mußte sie sich bewegen. Sie mußte schreiten, davongehen; mußte wieder auswärtssteigen: den nämlichen Weg, den sie vor kurzem gekommen war, um einer zu begegnen, der sie nie mehr begegnen konnte, und gäbe sie ihr Leben darum. Auf dem Rückweg mußte sie einen Hügel umgehen, der sich inzwischen unterhalb der Adlerwände gewölbt hatte: in der weißen Landschaft ein weißes, gewaltiges Grab. Die grelle Nachmittagssonne schien darauf. Es war ein Funkeln und Flimmern, ein Glühen und Glänzen, als bildeten die köstlichsten, zu einem Hügel aufgeschütteten Diamanten die Gruft der schönen Frau.

Es würde sie sicher von Sinnen bringen; aber – sie mußte daran vorüber!

Der Mensch ging mit ihr, dicht neben ihr; sprach beständig in sie hinein, flüsternd, wie raunend. Er schwur beständig von neuem, wie das Grab zu schweigen, wenn sie – Und sie hatte aus Gian Vitals Büchse die letzte Kugel verschossen!

Sie antwortete nicht; sagte nicht nein und nicht ja ...

Endlich ließ er von ihr ab, und endlich war sie allein. Sie brach zusammen. Aber dann raffte sie sich auf, umklammerte wieder das Gewehr, ging weiter, stieg höher ...

Sie kam an, schlich zum Hause, schlich hinein, hängte das Gewehr an seinen Platz, darüber den weißen Kranz ...

Courtien hatte Feierabend gemacht. Er befand sich in dem Alpgarten und beobachtete die aus den Tiefen aufsteigenden Schatten der Nacht. Noch lag auf den höchsten Gipfeln Tagesschein.

Gerade als der letzte schwache Schimmer erlosch und Leichenfarbe die Gletscherwelt einhüllte, sah er Maira aus dem Hause treten, um ihn zu suchen. Er rief ihr zu: »Da bin ich! Wo bleibst du so lange? Ich fing schon an, mich zu sorgen.«

»Um mich?«

»Eine Lawine ging ab. Es gibt Föhn. Man merkt es an dem Dunst. Er steigt auf, gerade wie auf meinem Gemälde!«

»Siehst du wohl! Lieber, o Lieber! Siehst du wohl!«

»Ja, Maira – ich sehe die Nebel steigen!«

Er sprach in mächtiger Ergriffenheit, mit einem Ausdruck im Blick, als habe er eine Vision: sein vollendetes Werk!

Dann riß er sich kraftvoll wieder auf die Erde zurück: »Du warst auf dem Gletscher?«

»Ich komme von dort.«

»Dann mußt du's auch gehört haben.«

»Was?«

»Ein Schuß fiel.«

»Wann?«

»Als die Lawine abging ... Herrlich, daß du wieder zurückkamst!«

»Wie könnte ich nicht zurückkommen?«

»Unmöglich! Als du fort warst, und als ich anfing, mich um dich zu sorgen, mußte ich denken: wie es sein würde, kämst du nicht wieder zurück ... Es wird kalt, und du frierst.«

»Wir wollen ins Haus.«

»Wo du zu Hause bist!«

Er wollte ihr die Hand geben; aber sie fror plötzlich so heftig, daß sie ihm vorauseilte in das Haus, das ihr Zuhause war.

 

Es konnte Courtien in seiner märchenhaften Einsamkeit verschwiegen bleiben, daß die Lawine, deren Donner er vernahm, ein Menschenleben begrub: die Frau, die sein unheilvolles Schicksal gewesen. Dieses Schweigen war aber nur für eine Weile zu erhalten: nur für die Dauer seiner Arbeit. Bis er diese beendet hatte, mußte daher von neuem über ihn gewacht werden.

Der Lehrer von Maloja war Zeuge des Unglücksfalles gewesen, der einzige Zeuge! Er wollte die Gräfin in der Fornohütte aufsuchen, erfuhr von ihren Leuten, sie habe an dem herrlichen Tage eine Gletscherwanderung unternommen, allein ohne Führer, und wurde besorgt. Obgleich bei dem durchaus sicheren Wetter jede Gefahr ausgeschlossen war, eilte er der Bergsteigerin nach. Plötzlich – so erzählte er – sah er dicht vor sich eine Schneemasse wie schwebend in der Luft, wie durch einen Zauber über einer jäh abstürzenden Wand, unmittelbar über dem Gletscher gefesselt, und erblickte im nämlichen Augenblick die Gräfin – unmittelbar unter dem in den Lüften hängenden Verderben.

Vor seinen Augen geschah es ... Ein wahres Wunder, daß er mit dem Opfer der Berge nicht zusammen begraben wurde. Es betäubte ihn nur. Als er sein Bewußtsein wiedererlangte und das Entsetzliche begriff, eilte er halb sinnlos zurück, um das Furchtbare in der Fornohütte zu melden und aus Maloja Hilfe zu holen – obgleich jede Hilfe unmöglich. Man vermochte nicht einmal den Leichnam zu bergen, mußte den nächsten Sommer abwarten – wahrscheinlich sogar den nächsten Herbst, wenn das ungeheure Schneegrab mehr in sich zusammengesunken, die erzharte Eiskuppel über der Gruft einigermaßen abgeschmolzen war. Bis dahin mußte die Gräfin Oberndorff in ihrer Katakombe ruhen. Ein Königsgrab unter dem Gipfel des Monte Sissone, inmitten des Eismeers und ewiger majestätischer Einsamkeit ...

Der junge Servaz – er war an dem Unglückstage auf einem Botengange in Maloja gewesen – brachte die Nachricht herauf. Er teilte sie in aller Heimlichkeit Maira mit – so hatte ihm Gian Vital befohlen. Des weiteren ließ Gian Vital seiner Freundin über den Wolken – über den Menschen – mit seinem Gruße melden: die Nerina gehe ihrer schweren Stunde entgegen. Maira möge freundlich der Nerina gedenken; denn das Gedenken einer Guten und Reinen werde der Nerina mehr helfen als eine Fürbitte des Pfarrers Briccius Ladien.

Maira begab sich in ihre Kammer und rang in wildem Jammer die Hände: ›Das Gedenken einer Guten und Reinen.‹

Noch eine andere Sache hatte Gian Vital dem Knaben aufgetragen: »Hier hast du eine Kugel! Oben hängt meine Büchse. Die nimmst du herunter, daß weder er noch sie es sehen, und ladest die Büchse mit dieser Kugel! ... Man kann nicht wissen dort oben in der Einsamkeit – Aber besser: die beiden merken es nicht. Wenn du nur Bescheid weißt. Du weißt doch mit einer Büchse Bescheid?«

Da warf sich der junge Servaz in die Brust: »Ich will einmal auch Bären jagen!«

 

Der tragische Tod der schönen Gräfin Oberndorff auf dem Fornogletscher erregte ungeheures Aufsehen. Das ganze Grand Hotel Maloja unternahm Ausflüge nach der Unglücksstätte. Von Sankt Moritz und aus Pontresina kamen große Welt und nicht große Welt. Und es kam die große halbe Welt. Man umstand den Unheilsort, fühlte sich bewegt, legte Kränze nieder, streute Blumen.

Die Zeitungen brachten Artikel und Abbildungen; das Gemälde John Lavarys wurde veröffentlicht ...

Der Gründer des Grand Hotel Maloja, jener Graf aus Belgien, erteilte Auftrag zu einem prunkenden Denkmal. Es sollte aus rosenfarbenem Granit vom Monte della Disgrazia gemeißelt werden, als Grabschrift einen Bibelspruch tragen und unter dem Namen der Toten die feierlichen Worte:

»Ruhe in Frieden!«


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