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5

Wirklich war die Gräfin Oberndorff in diesem besonders späten Frühling auf Maloja der erste Gast. Das Riesenhaus schien eigens für die schöne Frau eröffnet, eigens für sie erbaut zu sein: auf Paßhöhe, am Gestade des Bergsees, inmitten einer erhabenen Natur ein Palast mit marmorschimmernden Hallen, ausgestattet mit jedem Luxus einer verfeinerten Kultur, seinen Gästen als höchstes Raffinement diesen Luxus moderner Verfeinerung und im Gegensatz dazu eine Felsenöde bietend.

Die Gräfin bewohnte in der ersten Etage zwei Gemächer, von denen der Salon ein Eckzimmer war. Der vornehme Gründer hatte auch die Gastzimmer nach seinem Geschmack, dem Geschmack des Mannes von Welt, eingerichtet, so daß sich Gräfin Josette bei herabgelassenen Stores in Paris, in London oder in sonst einer ihren Lebensgewohnheiten angemessenen Umgebung fühlen durfte. Der Salon hatte Stukkaturen und Seidentapeten, hatte Möbel im Stile Louis XVI. und war in künstlerisch abgetönten matten Farben gehalten.

Die Gräfin ließ sich die Mahlzeiten auf dem Zimmer servieren. Der Oberkellner glich einem Hofkurier, seine Untergebenen schienen Lakaien zu sein; Porzellan und Silber trugen die gekrönten Initialen des gräflichen Gründers, und die Speisen waren nicht von einem gewöhnlichen perfekten Pariser Koch, sondern von einem großen Gastronomen bereitet: man dinierte auf Maloja wie bei dem Herzog von Soundso oder im Savoy-Hotel. In dem wohlriechenden Wasser der Kristallschale, darein Gräfin Josette ihre schönen Hände tauchte, schwammen Parmaveilchen, und ihren Frühstückstisch schmückte an jedem Morgen ein frischer Strauß »maréchal Niel«.

Die Illusion von Paris und London hörte indessen auf, wenn die Bewohnerin des eleganten Zimmers bei geöffnetem Fenster an dem zierlichen Schreibtisch saß und hinausblickte: hier die von rötlichbraunen Felsenmauern umschlossene leuchtende Seeflut, dahinter in der Ferne ein zweiter Bergsee blaute; dort die von roten Nelken glühende Halde mit dem altertümlichen Dorfkirchlein. Und ringsum die Korona der Alpenmajestäten, eine Welt, nicht geschaffen für die sogenannte große Welt, sondern für ein Geschlecht anderer Art, als jenes war, welches sich für den Genuß des Lebens geboren fühlte – nur für den Genuß.

Es geschah zum ersten Male, daß eine große Natur die Gräfin Oberndorff zu Betrachtungen nötigte, wie solche – nicht in ihrer Natur lagen.

Nie zuvor war ihr das Leben so wenig des Lebens wert erschienen. Nichts dieser Alpennatur Ebenbürtiges, nichts Großes war darin. Dagegen viel Kleines, Unechtes, Unwürdiges. War ihr Leben doch ein Fest der Eitelkeiten ohne Ende, ein immerwährendes Vanity fair, eine zu einem Gesellschaftsstück zurechtgestutzte, prächtig ausgestattete Komödie voll äußeren Glanzes und innerer Leere – inneren Dunkels.

Als Sivo Courtien sie damals fragte, weshalb sie die Gräfin Oberndorff geworden sei, hätte sie ihm nur die eine Antwort erteilen können: »Weil ich in Luxus leben wollte!« Deshalb also! Deshalb der Handel, der Verkauf: für ein Leben voller Luxus ein Leben ohne Liebe, also ohne Glück. Als ob bei Frauen, wie die Gräfin Oberndorff, Liebe zum Leben gehörte! Als ob Männer, wie Sivo Courtien, das Recht hätten, solche Frauen deswegen niedrig zu halten und zu verachten!

Dieses Mannes Verachtung ...

Daß sie in Sivo Courtiens Heimat den Gedanken daran nicht los ward! Bereits bei ihrer Ankunft auf Maloja hatte sie das Mädchen gesehen, das Sivo Courtien hochhielt, von dem er geliebt wurde. Denn es mußte Maira à Mara gewesen sein, die ihr am Seeufer begegnet war. Und diese Maira war ein schönes, stolzes Geschöpf, das sich nicht verkaufen würde und das – gleich ihrem Jugendfreunde – die Frau verachtete, die aus sich eine Ware machte.

Die nämliche Frage, die damals Sivo Courtien ihr gestellt, hatte sie seitdem oft an sich selbst gerichtet und oft sich selbst die Antwort erteilt. Immer die nämliche. Längst war sie zur Erkenntnis gelangt: schon damals in Rom. Schon damals war über sie die große Sehnsucht gekommen, die schließlich jedes Frauenherz einmal empfindet: die Sehnsucht nach dem Hohen und Höchsten des Lebens, das dieses zum Leben erst macht.

Ihr Mann hatte sie niemals geliebt, sondern nur begehrt. Nur begehrt hatten sie andere Männer. Sie hatte es erkannt und davon sich abgewendet, mit jenem Ausdruck in ihrem schönen Gesicht, der es so rätselhaft machte. So blieb denn ihre große Sehnsucht ungestillt.

Auch daran mußte sie jetzt häufig denken: »Weshalb ließest du dich eigentlich von deinem Mann nicht scheiden? Wenn Sivo Courtien es zufällig gehört hätte; vielleicht daß er dich dann – weniger verächtlich gefunden.«

Ja – weshalb war sie eigentlich die Gräfin Oberndorff geblieben?

Eine große Müdigkeit war über sie gekommen; eine mehr und mehr sich steigernde Gleichgültigkeit gegen alles; eine Hoffnungslosigkeit, die Trostlosigkeit war. Und so blieb sie die Gräfin Oberndorff.

Vor zwei Jahren war der Graf gestorben. Er fiel in einem Duell wegen einer Operettendiva. Ein unwürdig hingebrachtes Leben endete mit einem unwürdigen Tode. Immerhin war es der Tod eines Kavaliers. Seine »Witwe« hätte sich befreit fühlen können; aber Müdigkeit, Gleichgültigkeit, Hoffnungslosigkeit waren stärker als das Gefühl von Erlösung. Vernichtender als je hatte sie die Empfindung, durch ihre Heirat befleckt zu sein und sich reinigen zu müssen. Wodurch? Durch eine andere Heirat mit einem jener anderen Männer? Es wäre dasselbe gewesen. Für eine Frau, die sich als Gattin wie eine Gefallene fühlt, gibt es nur eine Art von Reinigung, die zugleich die Erhebung der Frau ist: Liebe. Konnte sie lieben? Im Grübeln darüber verging die Zeit, währenddem sie äußerlich ihr Leben fortsetzte, dieses Leben der Leere und Öde und einer Sehnsucht, die niemals gestillt werden sollte.

Ein Einfall, eine Laune führte sie in diese wilde Gegend. Plötzlich gedachte sie des Mannes, für den es das Weib nicht gab: nur die Kunst als Lebensinhalt. Des Mannes erinnerte sie sich plötzlich, der sie verachtete und den sie – vielleicht gerade deswegen – im Grunde ihres Herzens niemals vergessen hatte.

Sivo Courtien ...

Immer wieder dieser Name! Seitdem sie in Sivo Courtiens Heimat war, lauschte sie auf dieses Namens Klang in ihrer Seele. Von ihrem Fenster aus sah sie den rötlichen Felsvorsprung in die bald smaragdgrüne, bald türkisblaue Seeflut sich erstrecken, darin das Spiegelbild der Schneealpen hinabtauchte: »Das ist Crap da Chüern, wo seine elterliche Hütte steht.« Und sie sah das armselige Gotteshaus auf der Felsenhalde, umgrünt von Zwergkiefern, Wacholder und den Dickichten der Alpenrosen; sah das kleine Totenfeld mit der niedrigen bröckelnden Steinmauer und den eingesunkenen Gräbern der Leute von Maloja, darüber die Wildnis hinwogte; sah die Schneegefilde und die Gletscher der großen Margna und des Monte del Forno; sah hinüber, wo die in die Purpurpracht ihres Haares gehüllte Teufelin ihres Opfers harrte. Und sie sah das junge Mädchen, dessen Liebe dem Künstler die Wege bereitet hatte.

Es mußte für eine Frau etwas Großes sein, einen Mann zu lieben, wie diesen Sivo Courtien ...

Eine seltsame Scheu hielt sie ab, sich nach dem Maler zu erkundigen. Sie hätte nur ein Kind zu fragen brauchen. Sicher wußte jedes Kind auf Maloja von ihm!

Und in der Seele der Frau, die zu den Frauen gehörte, die nicht glücklich machen, also nicht selbst glücklich sein konnten, ging mehr und mehr etwas Ungewöhnliches vor. Damals in Rom hatte sie den Ausspruch John Lavarys über sich erfahren, dem jedoch keine Beachtung geschenkt: es war so gleichgültig, ob sie einen Menschen glücklich machen konnte oder nicht. Und selbst glücklich sein ... Wußte sie doch damals nicht einmal so recht, daß sie eine unglückliche Frau war. Sie besaß das, was ihre Natur verlangte: Reichtum, Luxus, Schönheit. Liebe verlangte ihre Natur nicht: weder geliebt zu werden, noch selbst zu lieben. Währte es doch eine Weile, bis sie sich der Leere ihres Lebens überhaupt bewußt ward und zu der Erkenntnis gelangte, daß ein Leben voller Luxus nicht immer auch ein Leben voller Schönheit sei. Nur zu oft das Gegenteil davon. Zum Beispiel für die Frau eines ungeliebten Mannes. Dann konnte des Lebens Schönheit zu des Lebens Häßlichkeit werden.

Wenn sie dem Manne, von dem sie sich verachtet wußte, sagen könnte: »Diese Schönheit ist Häßlichkeit!« Wenn sie ihrem Leben jetzt noch die Schönheit geben könnte, bevor es zu spät war? Einen Lebensinhalt, einen Lebenswert!

Durch Beglücken selbst beglückt werden; durch Hingabe des ganzen Seins eines Mannes Welt ausmachen – es war doch eigentlich Frauenberuf, der einzig wahre. Zugleich das einzige, was das Leben der Frau lebenswert machte ...

Die Entdeckung, daß auch sie solcher Empfindungen fähig sei, erregten einen Aufruhr in ihrem Innern. Konnte der Mensch leben, ohne so zu empfinden? Konnte die Frau leben? Die Frau ohne Liebe war keine Frau, sondern ein Gespensterwesen, ein Schatten und Schemen. Ein solches war sie durch Jahre und Jahre gewesen. An den totengleichen Zustand ihrer Seele denkend, graute ihr's.

Auch ihre Welt war eine Welt der Leidenschaften. Oft war ihr zumute, als wären Weib und Mann nur für das eine geschaffen. Es war das Ewigeinzige von Mann und Weib: Leidenschaft zu erwecken und Leidenschaft zu empfinden. Oft hatte sie vor dem großen, grauenvollen Mysterium der Geschlechter Entsetzen ergriffen – unberührt, wie sie selbst von der Schlammflut geblieben war. Schließlich war sie auch dagegen gleichgültig geworden.

 

In den ersten Tagen ihres Aufenthalts auf Maloja blieb die Gräfin in ihrem Zimmer. Sie fühlte sich wie eine Schwerkranke. Vielmehr: sie fühlte, daß sie eine Schwerkranke gewesen sei.

Sie ließ einen Diwan an das geöffnete Fenster rücken und lag stundenlang in tiefer Ermattung, hielt die Augen geschlossen, sann und sann, konnte den Vorgang, der mit ihr geschehen war, nicht fassen, verlor sich in Staunen darüber, sich plötzlich verwandelt zu fühlen.

Wenn sie die Augen öffnete, grüßte sie die Majestät der Alpen. Aber sie liebte sie nicht. Sie fand nichts Gemeinsames zwischen sich und dieser Welt. Sie flößte ihr Furcht ein.

Noch immer nicht war Courtiens Name über ihre Lippen gekommen. Da sie ihn einmal nennen mußte, bereitete sie sich darauf vor. Sie übte sich förmlich, den wohllautenden Namen auszusprechen. Einmal ertappte sie sich dabei, daß sie ihn mit einem weichen, zärtlichen, einem leidenschaftlichen Tone nannte.

Sie erschrak und wurde böse; dann lächelte sie über ihren Schrecken sowohl wie über ihren Zorn.

Wenn er nicht auf Maloja war? Diese Möglichkeit hatte sie gar nicht bedacht. Und wieder erschrak sie – wieder mußte sie lächeln. Diese Möglichkeit war eine Unmöglichkeit: Sivo Courtien gehörte in seine Heimat, wie die Berge dahin gehörten. War er doch sogar in Rom heimwehkrank gewesen!

Wenn sie mit geschlossenen Augen ruhte, konnte sie sich Träumen und Phantasien hingeben, daß sie sich selbst nicht wiedererkannte. Die Vergangenheit versank in Dunkelheit, und die Zukunft leuchtete auf. In dem magischen Glanz sah sie sich selbst. Aber sie war nicht allein. Der Mann, der mit ihr war, hatte sie einstmals verachtet und jetzt – liebte er sie, betete er sie an; jetzt lebte er für sie, in ihr: in ihrem Wort, Lächeln, Blick – in ihrer Schönheit, die so herrlich war, daß sie selbst diesen Mann betört hatte. Seine Liebe war so groß, daß sie dem Haß glich. Aber hassende Liebe war die machtvollste Liebe; war die Liebe, die das Leben bezwang, stärker als der Tod, über das Grab hinaus.

Er wollte nicht lieben, der Tor, der Narr! Die Liebe des Mädchens, welches seinesgleichen war, verschmähte er, um der Liebe der Frau zu verfallen, die seinesgleichen nicht war.

Was galt die vornehme Frau dem Mann aus dem Volke, der einen tief eingewurzelten, ererbten Haß wider die Aristokratie empfand? Als Teufelin, als Unheilsweib: als das Weib vom Monte della Disgrazia! Aber gerade der vornehmen Frau würde er nicht widerstehen. Je mehr er in seiner Seele ein Sproß seines Volkes war, je mehr Bergbauer – um so sinnloser würde er sich betören lassen, um so rettungsloser dem Zauber verfallen: dem Reiz der Dame der großen Welt mit ihrer parfümierten Kultur, ihrer Überfeinerung und allen jenen Extravaganzen, die er im Grunde seines Herzens verabscheute. Und gar, wenn der große Demokrat ein großer Künstler war! Je größer als Künstler, um so leidenschaftlicher als Liebhaber – er mochte sich noch so sehr wehren, dagegen sich empören mit der ganzen Wucht seiner Bauernnatur.

Nicht auf den Willen des Mannes aus dem Volk kam es an, sondern auf den Willen der vornehmen Frau. Und diese wollte!

Sie kannte Beispiele; oh, sie kannte Beispiele! Die vornehme Frau und der Dichter, der Künstler, Gelehrte ... Diese waren ganz andere Männer als jene, welche die Umgebung der vornehmen Frau, der Dame der großen Welt, bildeten. Es waren stolze Seelen, starke Naturen, Adelsmenschen, erhaben über die Niedrigkeiten, Häßlichkeiten, Gemeinheiten des Lebens. Und gerade darum ... Die vornehme Frau besaß die Kunst, die Kraft, um den Stolz dieser vornehmen Männerseelen zu brechen. Die Gräfin Josette Oberndorff kannte Beispiele genug.

Aber sie wollte Sivo Courtiens starke und stolze Künstlerseele nicht brechen – gewiß nicht! Den Gottesleugner wollte sie die Gottheit der Liebe erkennen lassen und ihn dadurch der Gottheit erst recht nahebringen. Seine Kunst sollte seine erste Göttin bleiben; doch sollte sie nicht die einzige sein. Daneben wollte sie stehen, selbst anbetend, selbst die Seele von einer Gottheit erfüllt.

Sie hatte gedacht, wie es sein müßte, wenn dieser Mann liebte; jetzt mußte sie denken, wie es sein würde, wenn sie liebte, sie, in deren Seele der Götterfunke der Sehnsucht gefallen war.

Mit geschlossenen Augen wachend, versuchte sie das Wundersame sich vorzustellen. Ein Strahlenmeer umwogte, goldene Lilien umglühten sie. Es war wie ein himmlischer Frühling. Mit ihrer Seele untertauchend in den Glanz, fühlte sie sich emporgehoben.

 

Als sie sich wiedersahen, erschraken beide.

Gräfin Josette hatte sich auf dieses Wiedersehen vorbereitet. Ausgemalt hatte sie es sich mit ihrer geschäftigen Frauenphantasie, deren Träumereien durch lange Jahre gegenstandslos geblieben waren. Um so glühendere Farben hatte sie gemischt und aufgetragen. Jedes Wort, das sie bei dem Wiedersehen zu Courtien sagen wollte, hatte sie zu sich selbst gesagt, und dabei auf den Klang ihrer Stimme gelauscht. Häufig mußte sie sich verbessern: Worte und Stimme mußten gleichgültiger klingen, weniger erregt. Hätte sie sich nicht vor sich selbst geschämt, so würde sie vor dem Spiegel ihre Miene probiert haben, damit sie zu ihren möglichst gleichgültigen Worten ein möglichst gleichmütiges Gesicht machte.

Dann kam es doch anders.

Sie trafen sich am Seeufer auf dem schmalen Wege, der von Maloja nach der dem Crap da Chüern gerade gegenüberliegenden kleinen Ortschaft Isola führt, einem nur aus wenigen grauen Hütten bestehenden Weiler am Fuße der Margna. Ein Ausweichen wäre auf dem Pfade zwischen Flut und Fels nicht gut möglich gewesen. Courtien hatte in den Alpenhöfen zu tun gehabt und befand sich auf dem Rückwege. In wenigen Tagen wollte er fort ... Da begegnete ihm auf dem schmalen Pfade zwischen Flut und Fels sein Schicksal.

Als er sie kommen sah, glaubte er eine Vision zu haben: die Frau, die er nicht vergessen konnte, die einzige Frau, die ihn zwang, ihrer zu gedenken, wandelte ihm leibhaftig entgegen! Er erkannte sie an ihrer Gestalt, ihrer Haltung, ihrem Gang und erschrak, wie gut er sie kannte: als wäre sie nicht nur ein einziges Mal, sondern viele Male an seiner Seite auf der römischen Landstraße dahingeschritten. Aber – die Gräfin Oberndorff auf dem wilden Maloja? Dann erst fiel ihm ein, daß viele vornehme Damen in das große Hotel kamen. Also war sie's wirklich!

Wie damals fühlte er plötzlich eine Erregung, heiß wie Fieberschauer. Und zugleich auch jetzt ein Gefühl von Feindschaft, Groll, Haß gegen diese fremde Frau. Weshalb trat sie ein zweites Mal in seine Welt menschenöder, himmelhoher Einsamkeiten, die der ihren in nichts glich? Und zu all diesen qualvollen Regungen plötzlich die für ihn ganz neue Empfindung des Schreckens über ihre Anwesenheit, über ihren Anblick, über ihre Schönheit, ihre Frauenherrlichkeit.

Er nahm sich vor, sie zu grüßen, respektvoll beiseitezutreten und – sie an sich vorübergehen zu lassen. Ganz gegen seine Art sollte sein Gruß tief und ehrerbietig sein. Vielleicht erkannte sie ihn nicht? Dann wäre sein Gruß unnötig gewesen.

So blieb er denn stehen, ohne zu grüßen, und wartete ab, ob sie ihn erkennen würde ... Ja – nein. Gott sei Dank, nein! Aber trotz dieses »Gott sei Dank« das Gefühl einer Enttäuschung ... Da stand sie vor ihm, und ihr Blick sagte ihm: auch sie hatte ihn sofort erkannt, auch sie hatte ihn nicht vergessen. Er sah, daß sie sehr bleich war und daß ihre Lippen zuckten, als sie ihn ansprach. Nur seinen Namen nannte sie: »Sivo Courtien!«

Ihre zuckenden Lippen und das Zittern ihrer Stimme ließen sie ihm als eine ganz andere erscheinen als die, die er seit langen Jahren im Gedächtnis trug. Und da er trotz seines Bergbauerntums im Grunde seines Wesens ein ritterlicher Mann war, fühlte er sich beschämt: er hatte dieser Frau in Gedanken zu tausend Malen schweres Unrecht zugefügt; denn zu tausend Malen hatte er ihrer in falscher Weise gedacht. Jetzt forderte seine Ritterlichkeit von ihm, sein Unrecht zu bekennen und womöglich zu sühnen.

Ihr unerwarteter Anblick und seine plötzliche Erkenntnis erweckten in Courtiens Gemüt einen Sturm, dessen Gewalt sich in seinen Zügen verriet. Es kostete ihn körperliche Anstrengung, sich die Worte abzuringen, die er sagen wollte, um ihr seine Schuld zu bekennen. Waren sie ausgesprochen, hatte er das seine getan und war frei von ihr – für Zeit und Ewigkeit frei!

So sprach er denn: »Ich wußte, wir würden uns noch einmal im Leben begegnen. Es mußte so sein. Weshalb Sie nach Maloja kamen, ahne ich nicht. Vielleicht mußten Sie kommen, damit ich Ihnen heute begegnen und sagen konnte: ›Verzeihen Sie mir!‹«

Wider seinen Willen sprach er rauh und feindselig: feindselig, wo er doch »sühnen« wollte. Mit einem großen Staunen in Blick und Stimme erwiderte die schöne Frau: »Was sollte ich Ihnen zu verzeihen haben?«

Courtien rief heftig: »Sie wollen großmütig sein. Aber ich bin nicht der Mann, gegen den irgendein Mensch großmütig sein kann. Auch nicht eine Frau, eine Dame, die ich gekränkt, vielmehr geradezu beleidigt habe. Das wissen Sie sehr gut, Sie wissen, daß ich Ihnen damals Unrecht tat: damals, auf der römischen Landstraße. Und überhaupt ... Sooft ich Ihrer gedachte! Beständig tat ich Ihnen in Gedanken Unrecht. Als besäße ich überhaupt ein Recht, mich mit Ihnen zu beschäftigen! Verzeihen Sie also. Ich habe noch niemals einen Menschen um Verzeihung gebeten, weder Mann noch Weib.«

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen.«

»Wie dürfen Sie das sagen? Sie mir, dem Manne, der Sie beleidigte.«

»Ich habe Ihnen nicht nur nichts zu verzeihen, sondern ich muß Ihnen danken.«

»Sie mir?!«

»Nach allen diesen Jahren, in denen wir uns nicht sahen. Aber ich konnte nicht früher kommen ... Das ist nicht wahr. Ich hätte früher kommen können, war jedoch nicht imstande, mich aufzuraffen. Ich war zu schwach dazu. Um herkommen und so zu Ihnen sprechen zu können, mußte ich viel erlebt haben, ich mußte erkennen ... Alles dessen bin ich mir erst seit kurzem bewußt geworden, um auch das noch zu sagen; denn ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Will das nicht vor Ihnen.«

Sie hatte wieder Gewalt über sich gewonnen, sprach sehr ruhig, sehr einfach. Ohne Absicht sagte sie jedes Wort in einer Weise, als redete sie in einer anderen Sprache, als die seine war, und müßte sich bemühen, sich ihm in der ihren verständlich zu machen. Ihm aber war's, als würde er von einem Schwindel ergriffen. Unwillkürlich sprach er ihr nach: »Sie wollen sich nicht besser machen? Wollen das nicht vor mir? ... Ich verstehe nicht –«

Er schwieg und hörte sie sagen: »Sie verstehen nicht, daß eine Frau sehr einsam sein und sich sehr unglücklich fühlen kann; verstehen nicht, daß diese Frau den Mann nicht vergessen kann, der den Mut besaß, ihr zu sagen: ›Dir geschieht recht, wenn du einsam und unglücklich bist‹ ... Mir geschah recht. Aber erst Sie haben es mir zum Bewußtsein gebracht. Es ist das, wofür ich Ihnen heute danke.«

Sie reichte ihm die Hand. Courtien wußte nicht, daß er ihre Hand nahm, in der seinen festhielt und sie unverwandt ansah, als hätte er alle diese Jahre darauf gewartet, diese schmale, vornehme Frauenhand zu fassen und in dieses blasse, schöne Gesicht zu sehen. Es wurde jetzt von einer jähen Röte überzogen, die es fast mädchenhaft erscheinen ließ.

 

Als Gräfin Josette ihm ihre Hand entzog und weiterging, setzte er seinen Weg nach Maloja nicht fort, sondern kehrte auf dem Wege, den er soeben gekommen war, wieder um. Es wäre ihm unmöglich gewesen, nicht umzukehren. Das wußte sie. Und sie wußte noch mehr: daß sie fortan über diesen Mann Macht besaß und daß es nur auf sie ankam, wie weit ihre Macht gehen sollte. Vielleicht unermeßlich weit, vielleicht nur in einen nahen Abgrund.

An ihrer Seite ging er den Weg wieder zurück. Zur Linken die blaue, unergründliche Seeflut; zur Rechten die grauen, unzugänglichen Felswände. Und zwischen Flut und Fels der schmale Pfad, auf dem Sivo Courtien seinem Schicksal begegnet war ... Auf diesem Pfade zwischen Flut und Fels gab es für ihn kein Entrinnen.

 

Jetzt schwiegen beide. Jeder dachte dasselbe: Wie ist das nur möglich? Was ist das nur mit mir? Zwischen uns besteht nichts Gemeinsames. Nie habe ich das so klar erkannt wie nach diesem Wiedersehen. Und dennoch ... Es kann nur ein Unglück geben. Und dennoch ... Was ist das nur mit mir? Aber es ist schön, daß der Mensch so etwas erleben kann.

Sie gingen möglichst langsam, als könnten sie dadurch Weg und Beisammensein ausdehnen. Und jeder von ihnen dachte: Wenn wir uns jetzt wieder trennen müßten? ... Und wir müssen uns trennen! – gab Courtien seinen eigenen Gedanken zur Antwort und mußte sich Gewalt antun, nicht laut auszurufen: »Wir müssen uns trennen!«

Er zwang sich, umzuschauen. Es war seine Heimat, war der Maloja, das Engadin. Er kannte diese leuchtende Alpenwelt, die trotz allem Fremdengewimmels voll unnahbarer Majestät blieb, wie ein Liebender das Antlitz der Geliebten. Jeder Gipfel war ihm ein vertrauter Freund. Dort drüben spiegelte sich das wilde Crap da Chüern in der Seeflut, und er sah das graue Dach der elterlichen Hütte, die sein Zuhause war. Wie konnte es nur geschehen, daß er, neben dieser fremden Frau hinschreitend, für nichts anderes Blick und Empfindung besaß als für sie? Seine Empfindungslosigkeit erschien ihm als Untreue gegen die Heimat, die seine Welt war; als Untreue gegen die Arbeit, die sein Lebenswerk war; also als Untreue gegen sich selbst. Diese Vorstellung gab ihm von seiner verlorenen Besinnung so viel zurück, daß er sich vornahm, noch einmal zu ihr zu sprechen. Seine Worte würden den Bann von ihm nehmen: »Da Sie nicht wissen, wie es mir inzwischen erging, will ich's Ihnen sagen. Ich bin noch weltfremder geworden, als ich bereits in Rom war; und noch deutlicher als damals in Rom habe ich Zweck und Ziel meines Daseins erkannt: ich lebe nur, um zu arbeiten, will nur dafür leben, kann die Menschen nicht ausstehen, die für etwas anderes auf der Welt sind. Zum Beispiel: für den Genuß des Lebens, für Vornehmheit, Eleganz und was dergleichen nutzlose Dinge mehr sind. Solche Menschen sind für mich Schmarotzer des Lebens, also schädliche Geschöpfe. Zwischen ihnen und mir besteht Feindschaft. Es gibt keine größere Feindschaft zwischen dem einen und dem anderen, als Verschiedenheit der Rassen. Es entsteht Rassenhaß daraus. Wenn zwei einander in nichts gleichende Menschen zusammenkommen und sich nicht sofort wieder trennen, muß einer von ihnen zugrunde gehen. Der Schwächere natürlich ... Ich glaube, etwas Ähnliches sagte ich Ihnen schon damals in Rom. Nur nicht so brutal. Da Sie mir nichts zu verzeihen haben wollen, bitte ich Sie auch jetzt nicht um Verzeihung, obgleich ich fühle, daß ich plump und grob bin und für Sie etwas beständig Aufreizendes, beständig Abstoßendes haben muß. Aber es ist gut so, wie es ist. Für mich wenigstens ist es so gut.«

Er verstummte, als ob er ihre Bestätigung erwartete – oder ihre Ablehnung. Da das eine sowohl wie das andere ausblieb, zwang er sich weiter zu sagen, was er sich vom Herzen losreden wollte. Aber statt der erhofften inneren Befreiung empfand er den Druck auf seiner Seele nur um so lastender und quälender. Trotzdem sprach er weiter: »Ich habe mir eine gewaltige Aufgabe gestellt. Sie entfernt mich von den Menschen. Auch äußerlich. Ich gehe hin, wohin niemand mir folgen kann. Aber mich freut, daß ich Sie sehen und Sie um Verzeihung bitten konnte – wenn Sie mir auch nichts zu verzeihen haben. Es nahm mir eine Last ab. Fortan werde ich in meiner Arbeit und meiner Einsamkeit noch stärker sein können; denn ich gestehe Ihnen, daß mich mein Unrecht gegen Sie alle diese Jahre über gedrückt hat – wenn es mir auch erst heute so recht zum Bewußtsein kam. Fassen Sie dieses Geständnis auf, wie Sie mögen.«

Wieder schwieg er; und wieder wartete er, daß sie sprechen würde. Sie blieb jedoch auch jetzt stumm. Plötzlich fiel ihm ein, daß er nur von sich gesprochen und mit keinem Wort nach ihrem Ergehen und Leben gefragt hatte.

»Hoffentlich ging es Ihnen nicht immer schlecht?« begann er wieder.

»Es ging mir so, wie ich's verdiente.«

»Immer?«

»Jahre und Jahre.«

Ohne es zu wollen, sagte sie das, gerade das, was diesem Manne gegenüber das Richtige war; und sie sagte es in einer Weise, die mit der »vornehmen Dame« nichts gemein hatte; sagte es wie eine arme gequälte Menschenseele, die viele schlaflose, viele tränenvolle Nächte kannte. Mit dem untrüglichen Instinkt der Frau hatte sie, ohne es zu wollen, durch ihre Antwort das Mitgefühl, das Mitleid dieses Mannes angerufen, der wähnte, ungestraft unter Felsengipfeln, über Gletschermeeren leben zu können.

»Die ganze Zeit über waren Sie unglücklich?« rief er aus. »Und ich – sooft ich an Sie dachte, stellte ich Sie mir vor: geliebt, bewundert, in Glanz und Herrlichkeit. Auch dieses Bild, das ich mir von Ihnen malte, soll falsch gewesen sein? Denn Jahre und Jahre lebten Sie elend!«

Mehr als seine Worte verriet seine leidenschaftliche Erregung seine Empfindung. Aber noch war es zu früh für diesen Triumph, der ihr größter Sieg sein würde. Es war jedoch etwas Tieferes, das sie bei diesem Gedanken erfüllte; etwas ihr selbst völlig Neues, das sie über alle Fraueneitelkeit erhob. Sie begann zu ahnen, daß ihre Sehnsucht, zu lieben und wiedergeliebt zu werden, alles, was gut in ihr war, auslösen würde; daß diese Stunde eine Entscheidung, eine Schicksalswendung enthielt. Wehe ihr, ließ sie den Augenblick vorübergehen. Er würbe nicht wiederkehren. So wollte sie ihn denn fassen und festhalten.

Also setzte sie ihr Bekenntnis fort: in fast mädchenhaft schüchterner Weise, die sie ihm mehr und mehr als eine andere erscheinen ließ, als eine, die ihn verwirrte und zugleich entzückte. Die vornehme, elegante Frau, mit der er nichts gemein hatte, nichts gemein haben wollte – wie er beständig sich selbst wiederholte –, die für ihn bis dahin alle Parfüms der großen Welt umduftet hatten, bekam plötzlich etwas Rührendes, Hilfloses, der Schonung und Großmut des starken Mannes Bedürftiges. Die Gräfin sagte: »Sie baten mich um Verzeihung, und ich wußte nicht, was ich Ihnen hätte verzeihen sollen; denn Sie sind, es, der mir vergeben muß.«

»Ich? ... Ihnen!«

Es klang wie ein erstickter Aufschrei ... Erst nach einer Weile sprach sie weiter: »Sie hatten mich damals wachgerüttelt, und ich beharrte trotzdem in meinem unwürdigen Zustand. Anstatt meine Ehe zu lösen und dadurch meine Selbstachtung wiederzuerlangen, blieb ich schwach, feige – verächtlich. Lassen Sie mich das Wort aussprechen, das Sie zu fühlen mich lehrten. Es mag heute meine Buße sein. Sie ist leicht genug; denn sie besteht nur in einem Augenblick der Demütigung für die Schuld von Jahren.«

Mit seinen Blicken an ihrem Munde hängend, brach Courtien aus: »Demütigung! Wie darf mir gegenüber dieses Wort über Ihre Lippen kommen?«

»Gerade Ihnen gegenüber; denn gerade Ihnen bin ich dieses Wort schuldig. Überdies sind Sie der letzte Mensch, der von mir verlangen würde, eine Wahrheit unausgesprochen zu lassen. Ich müßte Sie nicht kennen.«

Der Mann aus dem Volk, den die vornehme Frau zu kennen glaubte, wehrte sich gegen diesen Ausspruch: »Sie mich kennen? Was bilden Sie sich ein! Ich bin für Sie ein Fremder, wie Sie mir eine Fremde sind. Und dann – fühlen Sie nicht, daß Sie mich demütigen, wenn Sie in solcher Weise über sich zu mir sprechen?«

»In solcher Weise zu Ihnen zu sprechen, gaben Sie mir selbst das Recht.«

»Wann hätte ich das getan?«

»Damals bei unserer letzten Begegnung, als Sie mir Dinge sagten, wie kein Mensch zuvor es gewagt hatte. Trotzdem blieb ich meines Mannes Frau.«

»Ist Graf Oberndorff mit Ihnen auf Maloja?«

»Ich bin allein hier. Ich bin hier, um Sie wiederzusehen. Nur darum.«

Erst nach einer Weile sagte sie ihm, daß Graf Oberndorff tot sei.

 

Sivo Courtien war gewohnt, sich gegen Stürme zu wehren. Ungebeugten Hauptes trotzte er ihnen: denen des Lebens sowohl wie denen, die aus dem Bergell auffuhren und als Orkan über Maloja hinrasten. Wenn der Föhn auf dem hohen Paß durch Tage und Wochen wie das wilde Heer tobte und heulte, so waren es für ihn Heimatstimmen.

Auch dem Sturm in seinem Innern ergab er sich nicht. Aber es rüttelte und riß doch mächtig an dem Mann, für den seelischer Aufruhr ein Element war, dessen Dasein er bis dahin geleugnet hatte, das für ihn nicht da sein sollte. Jetzt hatte es ihn doch gepackt.

Sie bat ihn um Verzeihung, klagte sich vor ihm an, demütigte sich vor ihm, ihm eine Schuld bekennend, die er ihr erst zum Bewußtsein gebracht hatte. Sie sagte ihm, sie besäße das Recht, so zu ihm zu sprechen – nachdem er zu ihr gesprochen hatte, wie es zuvor noch niemand »gewagt« hatte ... Und dies alles war nichts gegen das eine: daß sie seinetwillen gekommen war; um ihm zu begegnen, um so zu ihm sprechen zu können.

Ihr Mann war tot ...

Hätte Graf Oberndorff noch gelebt, wäre sie noch seine Frau gewesen, so würde er gegen sie gefeit geblieben sein; denn die Frau eines anderen ... Welche Phantasien! Ob sie die Frau eines anderen war oder nicht, was kümmerte das ihn? ... Nur zu sehr; denn um seinetwillen war sie gekommen, und – Graf Oberndorff war tot.

Dazu ihre zarte, blasse Schönheit, die ihm noch nie so wundersam erschienen war. Das feine Haupt beugte sich unter der Überfülle des seidenweichen, schimmernden Glanzes. Oder war es ihr Unglück, das auf sie drückte, daß sie gebeugten Hauptes neben ihm herging, der Enge des Weges wegen ihm so nahe, daß ihr leise rauschendes Kleid ihn streifte und er sich hüten mußte, sie nicht zu berühren? Aller Sonnenschein des Engadins schien das reizende Frauenhaupt zu umleuchten, so strahlend war die Pracht ihres Haares, darin sie sich hätte hüllen können wie das Gletscherweib vom Unheilsberge, das ihr gelöstes goldiges Gelock als Schleier um sich wob. Mit ihrem gesenkten Haupt hatte sie, die für ihn bis dahin das Vorbild einer vornehmen Dame gewesen, etwas fast Kindliches, das sie unendlich rührend machte. Und immer wieder der eine Gedanke: ›Deinetwegen kam sie! Nur um deinetwillen ...‹

Courtien mußte sich wehren gegen den wütenden Sturm, der seine Seele packte, mußte ungebeugter Seele auch diesen Orkan bestehen. Wofür war er Sivo Courtien? Die Hände geballt, die Lippen zusammengepreßt, stieß er hervor: »Mir tut leid, daß Sie um meinetwillen kamen. Sie hätten es nicht tun sollen. Überdies muß ich morgen schon fort ... Jawohl, schon morgen! Wenn Sie wüßten, wie es oben ist: wie in der Urwelt! Wie ich oben Hause: als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt. Groß ist's dort oben! Grausen würde Sie fassen vor solcher Größe. Hier unten bin ich schwach. – Ich bin es diesen Augenblick an Ihrer Seite. Wenn ich von hier fortgehe und hinaufsteige, werde ich stark sein. Dort oben, Gräfin, bin ich ein Herrenmensch, ein Übermensch ... Sie dürfen mich wegen meines Größenwahns auslachen.«

Die Gräfin Oberndorff lachte jedoch nicht, sie sagte: »Wenn Sie wirklich schon morgen fortgehen und so bald nicht wiederkommen – aus Ihrer Höhe nicht so bald wieder in unsere Tiefe hinabsteigen, so gehören Sie heute noch mir. Nur heute. Überdies ist der Tag bald zu Ende; bald ist es Abend. Also bekomme ich Sie nur für wenige Stunden. Wollen Sie mir diese geben?«

»Da es zum letztenmal im Leben ist –«

»Zum letztenmal!«

Sie sagte es, als wenn sie hätte sagen wollen: »Zum erstenmal!«


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