Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Viertes Kapitel

Die heilige Barbara tut ein Wunder, und sonst allerlei Wundersames

Auf dem Wege zu ihrer Hochalm, woselbst sie nach dem Rechten sehen wollte, vernahm Judith laute Hilferufe einer Männerstimme.

Jemand mußte in den Klippen abgestürzt sein!

Ihre Hunde begleiteten sie, also machte sie sich mit ihnen sogleich auf die Suche. Um dem gewiß in Todesangst Ringenden ein Zeichen zu geben, daß er gehört worden sei, rief sie zurück:

»Hilfe kommt!«

Und von Zeit zu Zeit wieder: »Hilfe kommt!«

Sie blieb im unklaren: war sich der Verunglückte ihrer Nähe bewußt oder nicht? Seine verzweifelten Rufe dauerten fort; doch schon klang seine Stimme schwach und schwächer, Judith mußte ihren aufgeregten Tieren Schweigen gebieten, um besser zu hören und wenigstens die Richtung zu finden. Die Rufe kamen geradewegs aus den verhängnisvollen Wänden her.

›Wer kann es sein? Martin ist bei den Herden, und von den Knechten ist keiner oben. An der Stimme kann ich den Mann nicht erkennen. Sie klingt fremd .... Er ist es nicht. Aber – wenn er's wäre! .... Ich meine: wenn er abgestürzt sein sollte, und jetzt in Verzweiflung mit dem Tode ringen würde? .... Vielleicht liegt er mit zerschmetterten Gliedern, verschmachtend, unter Qualen umkommend? Denn der Mensch kann bereits vor Tagen verunglückt sein, hängt also seit Tagen an einer Klippe über einem Abgrund, einem Spalt; ruft um Hilfe, bis ihm die Stimme versagt. Wie schwach sie klingt! .... Was täte ich, wenn er es wäre; wenn er sterbend den Namen riefe, den er auf dem Grabe seiner Mutter gerufen hatte, und ich käme zu ihm: zu dem Sterbenden –‹

Und nun suchte sie nach dem Verunglückten, selbst von Verzweiflung gepackt, selbst in Todesangst ....

Nach langem mühseligen Klettern entdeckte sie den Abgestürzten über einer grauenvollen Tiefe auf einem Felsstück, das sich wie eine Nadel inmitten der Abgründe erhob. Ein Fremder war's!

Auch in ihrer Angst um den Mann, den sie zu hassen glaubte, hatte Judith nicht für einen Augenblick ihre Fassung verloren. Aber jetzt kam zu ihrer starken Ruhe ein heftiges Glücksgefühl: ein Fremder war's! Nicht dem einst Geliebten – dem jetzt Gehaßten brauchte sie Rettung zu bringen.

Wie aber Rettung bringen? Es blieb ihr unbegreiflich, auf welche Weise sich der Mann derartig versteigen konnte; wie er als Fremder überhaupt dahin gelangt war? Allein vermochte sie nichts; die Knechte mußte sie rufen. Von diesen mußten sich einige an Seilen hinablassen und den Abgestürzten heraufziehen. Zunächst warf sie sich flach auf den Boden, schob sich vorsichtig möglichst weit über die Wand vor, spähte hinab.

Soviel sie erkennen konnte, war es ein blutjunger Mensch. Nicht etwa ein fremder Senn, Hirte oder Bauer, wie sie geglaubt hatte. Auch kein Arbeiter. Es war jemand, der Herrengewand trug. Aber er sah sie nicht, hörte sie nicht, er war bewußtlos geworden. Vielleicht bereits tot, verblutet! Denn Judith sah sein Felsenbett von Blut gerötet.

Sie eilte zurück. Die Knechte wurden zusammengerufen, Seile und Tragbahre, Belebungsmittel und Verbandzeug beschafft; und sogleich wieder hinauf!

Keine Hilferufe mehr ... Also war er noch immer ohne Besinnung.

Judith bedachte alles. Sie ordnete alles an mit einer Ruhe, als handelte es sich nicht um ein Menschenleben. Während zwei sich hinabließen, beaufsichtigte sie das Halten des Seils. Es verstrichen bange Minuten, während derer Judiths Gedanken in weite Ferne wanderten:

›Wer mag es sein? Wenn die Seinen wüßten! Sie sind gewiß lustiger Dinge, lachen und scherzen vielleicht grade. Er scheint sehr jung zu sein ... Vielleicht hat er eine Braut. Sorglos denkt sie an ihn ... Ob keine Ahnung sie befällt, kein Bangen? Um es nicht aufkommen zu lassen, singt sie vielleicht, wie Kinder tun, wenn sie sich fürchten. Oder sie schreibt ihm soeben; sagt ihm, wie zärtlich sie ihn liebt, wie innig sie sich nach ihm sehnt, wie glücklich sie in seiner Liebe ist ... Wie es sein muß, jung zu sein und glücklich zu lieben?‹

Da vernahm sie von unten das Zeichen, daß die Männer den Abgestürzten erreicht hatten.

»Lebt er?«

»Er gibt nur schwache Lebenszeichen.«

»Vorsicht! Behutsam! Legt möglichst leise die Schlingt um ihn... Regt sich?«

»Nein.«

»Hält die Schlinge?«

»Sicher und fest.«

»Hebt ihn langsam, langsam auf... Und jetzt – zieht! Langsam, sehr langsam!«

Sie zogen ihn herauf und legten ihn nieder auf den Rasen zu Judiths Füßen. Während sie zum zweitenmal das Seil hinabließen, um die Retter heraufzubringen, lauerte Judith neben dem Bewußtlosen nieder. Es schien kaum noch Leben in ihm.

Er war wirklich noch blutjung. Und – der Abgestürzte glich einem Gestorbenen! Dem Junker Rochus glich der fremde Jüngling, der jetzt zu Judiths Füßen seinen letzten Seufzer auszuhauchen schien.

Obgleich ihr vor der gespenstischen Ähnlichkeit graute, verlor sie auch jetzt keinen Augenblick ihre Besonnenheit. Sie untersuchte die Wunden, wusch sie, verband sie. Dann flößte sie dem Ohnmächtigen Wein ein und rieb ihm Gesicht und Hände mit Essenzen, von ihr selbst aus heilkräftigen Alpenkräutern gebraut.

Nach langem Bemühen regte sich der Gerettete, der dem Junker Rochus von Enna glich. Er schlug die Augen auf.

Mit welchem Blick er sie ansah!

Es war ein Italiener und er kam aus seiner Vaterstadt Venedig. Wandern wollte er, die wunderschöne Welt sehen. Von Valsugana aus stieg er quer durch die Gebirge mit dem ganzen Ungestüm, der ganzen Unvernunft erfahrungsloser junger Leute in dem gefährlichen Gebiet dieser Alpen. Auf irgend welche Weise war er in die Dolomiten gelangt, hatte sich in dem Gewirr von Wänden und Wällen, von Zinken und Zacken verirrt, ward vom Steinschlag in die Tiefe gerissen. An der spitzigen Felsennadel blieb er hängen. Zwei Tage und zwei Nächte schwebte er zwischen Himmel und Erde, rief zwei Tage und Nächte vergeblich um Hilfe. Da hörte ihn die fremde Frau, die von solcher seltsamen Schönheit, solcher stillen Hoheit war. Sie rettete sein junges Leben; ihr dankte er, daß er auf der wunderschönen Erde im Glanze der himmlischen Sonne geblieben.

Barbaro Bossi hieß er und war ein Künstler, ein Maler ...

Judith kannte keinen Künstler, wußte nichts von Kunst, nichts von ihrer heiligen Schönheit. Ihr war's lieb und leid, daß der Gerettete Italiener war: leid, weil sie wider die »Welschen« noch immer eine leidenschaftliche Abneigung verspürte; lieb, weil durch des Jünglings Abstammung seine schier unheimliche Ähnlichkeit mit dem andern etwas weniger geisterhaft ward. Aus diesem Grunde sprach sie denn auch mit dem Venezianer weniger ungern in seiner wohllautenden Muttersprache. Sie fragte ihn:

»Ihr habt einen ungewöhnlichen Vornamen: Barbaro. Ich wußte nicht, daß das ein Name sei.«

»Ich wurde am Barbaratage geboren und daher nach der Heiligen getauft. Santa Barbara ist meine hohe herrliche Schutzpatronin. Wißt Ihr, daß Ihr meiner lieben Heiligen gleicht?«

»Gewiß nicht!«

Aber Barbaro behauptete hartnäckig: »Ihr gleicht ihr zum Erstaunen, fast zum Fürchten.«

»Zum Fürchten?«

»Ja, und denkt nur ... Da ich stürzte, empfahl ich meine Seele meiner Schutzheiligen – obgleich ich eigentlich ein rechter Heide bin. Haltet mich deshalb nicht gleich für einen schlechten Menschen, liebe Frau.«

»Weshalb sollte ich das?«

»Weil Ihr doch gewiß eine fromme katholische Christin seid.«

»Denkt nicht allzu Gutes von mir ... Wie aber kam es, daß Ihr zu Santa Barbara betetet, da Ihr doch nicht den rechten Glauben habt?«

»Sie stand plötzlich vor mir, als ich in den Abgrund sank.«

»Ihr saht sie?«

»Wie ich Euch vor mir sehe. Ich sah sie in der himmlischen Gestalt, in der ein großer Künstler sie schuf. Und da ich wieder zur Besinnung kam – wessen Antlitz neigte sich zu mir herab? Kein andres, als das meiner hohen Heiligen.«

»Wessen?«

»Euer wunderschönes Antlitz, liebe Frau. Und dann soll es kein Wunder geben!«

Der durch ein Wunder gerettete Jüngling betrachtete Judith so innig voll entzückten Staunens, daß sie sich abwandte ... Wie sagte er? »Euer wunderschönes Antlitz.« Sie sollte schön sein? Das hatte ihr noch niemand gesagt, daran hatte sie noch niemals gedacht. Sie selbst kannte von sich nur ihre Seele, und diese war unschön, war entstellt worden, verzerrt durch ihren Haß, der einstmals Liebe gewesen. Einstmals hatte sie eine schöne Seele besessen. Wer gab ihre verlorene Schönheit ihr wieder?

Abgewendet von Barbaro erkundigte sie sich:

»Woher wollt Ihr wissen, wie Eure Schutzpatronin aussah?«

»Ich sagt's Euch ja doch. Hörtet Ihr denn niemals von dem Bildnis der heiligen Barbara, welches Meister Palma gemalt hat?«

In ihrer herben Art entgegnete Judith:

»Ich hörte niemals von Künstlern und ihren Werken.«

»Ist das möglich? Das herrliche Gemälde befindet sich in meiner wundersamen Vaterstadt in der Kirche Santa Maria Formosa, und es gehört zum Höchsten, was die Kunst jemals gebildet hat. Die Menschen wallen zu dem Bildnis der Märtyrerin, als könnte ihr Bild Wunder vollbringen, von dem Völklein begeisterter Künstler völlig zu schweigen ... Ich muß es Euch noch einmal sagen, wenn Ihr's auch nicht hören möchtet.«

»Was?«

»Daß Eure Ähnlichkeit mit der Santa Barbara des Palma Vecchio jedenfalls das schönste Mirakel ist, welches die Heilige jemals vollführt hat. Ich will sie anbeten, indem ich Euch Verehrung und Adoration zolle. Erlaubt Ihr mir's, liebe Heilige?«

Unwillig erhob sich Judith von ihrem Platz neben dem Lager des Schwerverletzten, und verließ in gekränktem Schweigen das helle Gemach, darin sie ihren Gast gebettet hatte. Barbaro stieß einen leisen Schmerzensruf aus; er hatte nach ihr seinen rechten Arm ausgestreckt, vergessend, daß dieser zerschmettert, gelähmt war ...

Aber bei seiner großen Jugend konnte Judith keiner ihrer jungen Mägde die Pflege überlassen, mußte sie selbst diese übernehmen; fühlte sie sich doch als Matrone. Wenn sie an ihre Jugend dachte, so war ihr zu Sinn, als wäre sie niemals jung gewesen. Nur jung während ihrer Kinderzeit. Als jeden frühen Morgen Junker Rochus auf seinem Falben angesprengt kam, als des lieben Knaben wilde Rüden ihre Menagerie umtobten und sie mit Freudengeheul grüßten; jung nur damals, als der schmale schimmernde Reif ihr an den Finger gesteckt ward ....

Daß der durch sie aus Todesgefahr Gerettete Barbaro hieß, daß dieser Barbaro aus Venedig dem Junker Rochus von Enna glich, sie selber dem Bildnis der Schutzpatronin dieses Barbaro und jenes Rochus – das alles kam freilich einem Wunder gleich. Ein Glück, daß der venezianische Rochus kein schwarzes, sondern bräunlich-blondes, vielmehr goldig-rötliches Gelock besaß und sich einen argen Heiden schalt.

Obgleich sie selbst keine gute Christin im katholischen Sinne war, vermochte sie sich unter einem »Heiden« so wenig etwas Klares vorzustellen wie unter einem Künstler und der »heiligen Schönheit« der Kunst – solchen feierlichen Namen gab der Fremdling der Sache. Ihrer Art nach sann sie über diese für sie geheimnisvollen Dinge und versuchte, sie zu verstehen.

Weshalb hatte sie sich eigentlich von des Jünglings bewundernden Blicken und begeisterten Worten gekränkt gefühlt? Gekränkt zu sein, lag doch wirklich nicht in ihrem Wesen. Wenn ein Mensch sie überhaupt treffen konnte, so traf er gleich ihr Herz. Das hatte bisher nur einer getan, konnte nie wieder ein andrer tun. Das Herzblut, welches sie des einen willen vergießen mußte, hatte sie gegen jeden Schmerz, der von Menschen kam, zeitlebens gefeit .... Wie traurig hatte er sie angeblickt, als sie plötzlich aufgestanden und schweigend gegangen war. Sie hatte seinen leisen Wehruf vernommen und – war doch gegangen. Erzürnt über ihre Herbheit, begab sie sich nachmittags in das Gärtlein – es war der Stolz ihres Besitztums – pflückte einen Strauß feurigroter Bauernnelken und blaublumigen Lavendels und brachte die Blumen als Zeichen ihrer Reue dem so hart Abgewiesenen.

Aber Barbaro erkannte sie nicht. Er lag phantasierend in heftigem Wundfieber.

Jetzt kam für Judith bange Zeit. Einen Arzt gab es nicht. Kranke Menschen und krankes Vieh heilten die Dolomitenleute mittels Kräutern, Salben und Sprüchen. Judith bedurfte auch nicht des Arztes; die Heilung lag in des Kranken Natur und ihrer sorgfältigen Pflege. Da sie des Fremden Natur nicht kannte, so konnte sie ihre Hoffnung nur in seine Jugend und in sich selbst setzen; sich selbst durfte sie vertrauen. Also wurde sie jetzt die treueste Pflegerin, wie sie die stärkste Retterin gewesen.

Manches ward ihr schwer. Wenn sie stundenlang still bei ihm sitzen und seine Phantasien mitanhören mußte. Er schien zu Hause eine Braut oder Geliebte zu haben, Giulietta mit Namen. Aber häufig rief er: »Giudetta!« Und diese Giudetta verwechselte er beständig mit der heiligen Barbara. Er schilderte sie: eine hehre Gestalt, eine wahrhaft königliche Gestalt, eher einer Herrscherin als einer Märtyrerin ähnlich. Machtvoll stand sie da, in reiche, über der Brust gegürtete rote Mantelgewänder wie in Purpur gehüllt, einen Reif mit spitzigen Zacken wie eine Krone auf dem herrlichen Haupt über ihrem tief herabflutenden flammenden Haar. Ein Werkzeug ihres Martyriums hielt sie gleich einer Siegespalme – gleich einem Zepter in der erhobenen Rechten, während die andre Hand die Falten ihres Mantels faßte. Unmöglich konnte sie, Judith Platter, an diese siegreiche Frauenerscheinung auch nur in einer Miene, einer Bewegung gemahnen ... Da geschah etwas, das Judith Platter durchaus unähnlich war: daß sie vor einen Spiegel trat und sich in dem Glase lange forschend betrachtete. Und es geschah, daß sie zum erstenmal in ihrem Leben ihre – Schönheit erkannte, die Schönheit ihrer Gestalt, ihrer Züge.

Eine heiße Scham überfiel sie; nicht anders, als hätte sie durch das Betrachten ihrer selbst, durch Erkenntnis ihrer Frauenherrlichkeit etwas ihrer Unwürdiges begangen.

Als Pater Paulus auf den Hof kam und das Vorgefallene vernahm, ließ er sich zu dem Geretteten führen; und als er sah, wie jung und schön und krank der arme Knabe war, wollte er selbst die Pflege übernehmen. Aber Judith wies ihn ab:

»Er liegt in meinem Hause und in meinem Hause habe ich zu bestimmen. Laßt Euch das wieder und wieder gesagt sein.«

»Sobald er ohne Fieber ist, soll er hinab ins Kloster gebracht werden.«

Auch das wurde dem Superior des neuen Augustinerklosters verweigert:

»Ich fand ihn auf der Felsennadel über dem Abgrund und meine Leute bargen ihn unter eigener Lebensgefahr. Also gehört der Fremde mir und dem Hof. Nicht eher lasse ich ihn davonziehen, bis er gesundet aus meinem Hause fortgehen kann, wohin zu gehen ihm gefällt.«

Zornig fuhr der Hochwürdige auf: »Da der Jüngling katholischer Christ ist, so besitze ich auf ihn ein Anrecht, wie ich ein solches auf Euch habe. Ihr mögt Euch dagegen wehren, wie Ihr wollt.«

Fast höhnend wurde dem Erzürnten erwidert: »Er nannte sich selbst einen Heiden. Über einen solchen habt Ihr keine Gewalt – so wenig wie über mich, die ich niemandem über mich Macht einräume. Das solltet Ihr endlich wissen.«

Er wußte es. Trotzdem stieg er immer wieder und wieder mit geschürztem Gewände den weiten mühseligen Weg von seinem Kloster zum Dolomitenhofe hinauf; ließ sich von den seine dunkle Gestalt hassenden Bestien feindselig anknurren, von dem Gesinde mit scheuer Ehrfurcht grüßen und von der Hausfrau als Fremden empfangen...

Heute nun stand er wieder am Lager des Fiebernden, lauschte auf dessen Irreden, erglühte und erbebte.

Die heilige Barbara rief der Phantasierende zu seiner Hilfe in Todesnot; die heilige Barbara half ihm, und – die Himmlische war ein irdisches Weib. Dieses trat zu dem zwischen Erde und Himmel Schwebenden, rührte ihn an, trug ihn auf den Armen empor, neigte sich über ihn, neigte sich zu ihm herab – küßte ihn .... Da wich der Priester aus dem Gemach und dem Hause. Vor dem Hause harrte er auf die Hausfrau. Als sie zufällig kam und ihn draußen stehen sah, wollte sie an ihm vorbeigehen, ohne ihn zu beachten. Da vertrat er ihr den Weg, zwang sie, stehen zu bleiben und auf ihn zu hören:

»Was bedeutet das? Was hat dieser junge Mensch, der sich selbst einen Heiden nennt, mit Santa Barbara zu schaffen? Wie kommt er dazu, die Heilige mit Euch zu verwechseln und in seinen Phantasien von Euch zu sprechen? In solcher Weise! Ist's wahr, daß Ihr ihn in Eure Arme nahmt und ihn –« Judiths Blick machte ihn verstummen. Nach einer Weile erst sprach sie:

»Ich habe nicht nötig, Euch auf solche Frage Antwort zu geben, wie Ihr nicht befugt seid, mir solche Frage zu stellen. Aber ich will Euch antworten! ... Die heilige Barbara ist des Fremden Schutzpatronin, wie sie das einstmals einem andern gewesen. Jenen hat sie jedoch nicht geschützt, wie sie diesen schlechtgläubigen Jüngling schützte, schlechtgläubig in Eurem Sinn. Denn der Fremde ist ein Künstler, und ein Künstler soll etwas Heiliges sein ... Freilich umfing ich den Geretteten mit meinen Armen, als sie ihn aus dem schrecklichen Grabe emporgezogen; und wenn mein Kuß ihn heilen könnte, so wollte ich meinen Mund auf seine Stirn und Wangen pressen, bis er genesen sein würde.«

Da schrie der Priester auf: »Würdet Ihr ihn auch auf den Mund küssen?«

»Auch auf den Mund.«

Sie ging an ihm vorbei.

Barbaros starke Jugend und Judiths treue Pflege besiegten Fieber. Erst jetzt zeigte sich so recht Judiths frauenhaftes Wesen, welches dem Jüngling gegenüber mehr und mehr etwas Mütterliches annahm. Wie sie bereits als Kind halbverdorrte Pflanzen zum Treiben und Sprießen, zum Grünen und Blühen gebracht hatte, so flößte sie dem erst jetzt dem Leben Wiedergeschenkten neue Lebenskraft ein. Aber sowohl während des Fremden Erkrankung als während seiner Genesung verfolgte sie beständig eine qualvolle Vorstellung:

»Wenn statt dieses Jünglings der andre todeswund in deinem Hause läge – würdest du auch an dem andern, dem dieser ähnlich ist, genau ebenso treulich deine Pflicht erfüllen? Und wenn er nur dadurch zu heilen wäre, daß du ihm Stirn und Wangen und Lippen küßtest – was dann? Du müßtest ihn sterben lassen! Denn einen Geweihten des Herrn darf kein Frauenmund berühren. Selbst wenn er dich um die Rettung seines Lebens durch einen Kuß anflehen würde – du müßtest ihn sterben lassen ... Aber er würde dich nicht anflehen! Nicht mit einem Laut, einem Blick.«

Bald brauchte der Fieberfreie nicht mehr im Bett und im Zimmer zu bleiben und konnte in einem bequemen Lehnsessel im Freien gebettet werden, wenn es anging, in möglichster Nähe der Hausfrau. Möglichst nahe bei Judith zu sein, war für den Genesenden Bedürfnis und Glück zugleich. Auf dem Hofe liebten Mensch und Tier den freundlichen Jüngling. Judiths Hunde, die gegen den Hochwürdigen die Zähne fletschten, umschmeichelten ihn stürmisch; Judiths Mägde konnten sich in Bedauern und Bewundern nicht genug tun, und ihre Knechte, die ihn aus dem Abgrund gehoben, betrachteten ihn als ihr besonderes Eigentum. Selbst der junge Martin konnte dem anmutigen Fremdling auf die Dauer nicht gram sein, was anfangs der Fall war, weil er bei dem Rettungswerk nicht mitgetan, sondern auf der Hochalm bei den Herden gesteckt hatte. Als er seinen Groll kaum überwunden, verfiel er plötzlich in Eifersucht. Also erschien er auf dem Hof nur, wenn er für die Heiden Salz hinaufschleppen oder eine Last frischer Butter heruntertragen mußte. Am meisten quälte den Wildling die Wut über sich selbst, weil er den Liebling des Hofes nicht hassen konnte, sondern trotz seiner Eifersucht dessen Zauber unterlag.

Eines Tages fragte Judith ihren Pflegling, ob er – da er den rechten Arm noch immer in der Binde trug – seinen Leuten nicht schreiben lassen wollte? Sicher sorgten sich die Seinen um ihn.

»Wen nennt Ihr die Meinen?«

»Eure Eltern, Geschwister, Freunde.«

»Meine Eltern sind tot; Geschwister besitze ich nicht, und meine Freunde, wie Ihr sie heißt, sorgen sich nicht um mich.«

Sie wollte es nicht sagen, sagte es aber doch:

»Dann vielleicht sonst jemand.«

»Wen meint Ihr, liebe Frau, mit diesem Jemand?«

»Ihr habt zu Hause vielleicht eine Braut?«

»Nein.«

»Verzeiht. Ich wollte Euch nicht kränken.«

Barbaro hatte ihre fast schüchtern gestellte Frage mit plötzlich verdüstertem Gesicht und harter Stimme verneint. Judith war böse auf sich. Wie kam sie dazu, solche Frage zu tun? Was ging es sie an, ob der fremde Mann eine Braut besaß oder nicht? Jene Giulietta ... Ihr geschah ganz recht, daß er sich jetzt mit diesem Gesicht, dieser Stimme bei ihr erkundigte: »Warum glaubt Ihr, daß ich in Venedig ein geliebtes Mädchen zurückließ? Sagt mir's!«

»Ihr rieft häufig einen Frauennamen .... Ich mußte es mitanhören.«

Das letzte klang wie eine Entschuldigung.

»Rief ich in meinen Phantasien etwa Giulietta?«

»Ja.«

»Rief ich den Namen sehnsüchtig, zärtlich, leidenschaftlich? Ich bitte Euch, sagt mir's.«

Da meinte sie ehrlich: »Mir schien es nicht so.«

»Seht Ihr wohl!«

»Aber –«

Sie schwieg plötzlich und blieb schweigsam. Unmöglich konnte sie ihm sagen, daß er in seinem hohen Fieber Giulietta häufig mit Giudetta verwechselte und daß er ihren Namen in einem ganz andern Tone gerufen hatte.

Das Gespräch schloß mit der Bemerkung Barbaros:

»Eines Tages werde ich Euch von dieser Giulietta erzählen. Es wird nichts sehr Frohes sein. Keinesfalls etwas so Gutes und Großes, wie ich Euch von – Euch erzählen konnte.«

Judith nahm sich vor, ihn nie an sein Versprechen zu erinnern ....

Ein andres Mal erzählte er ihr die Legende von der heiligen Barbara, von welcher Judith nur wußte, sie sei eine große Märtyrerin gewesen und eine große Heilige geworden. Nun hörte sie:

»Wie sie in Wirklichkeit war, mag ich sie gar nicht leiden, obgleich sie meine Schutzpatronin ist und mich durch Euch am Leben erhielt. Denn sie hat die herrlichen Götterbilder der Alten verflucht. Deswegen wurde sie von ihrem eigenen Vater vor den römischen Landpfleger geschleppt und der Gotteslästerung bezichtigt. Sie sollte ihre Schuld erkennen und zu den Göttern beten, die sie beleidigt hatte. Beten sollte die heimliche Christin, zu den in ewigem Schönheitsglanz prangenden Göttern der Griechen und Römer. Das wollte sie nicht; rief öffentlich den gekreuzigten blutigen Christengott an und wurde dafür öffentlich gemartert. Aber über Nacht heilten ihre schrecklichen Wunden, daß sie am nächsten Tage in voller Jungfrauenherrlichkeit von neuem vor den Richter geführt ward. Dieser ließ ihr alle Gewänder vom Leibe reißen und sie nackt und bloß durch sämtliche Gassen der großen Stadt führen, damit alle Welt ihre geheime Schönheit schauen sollte, die von göttlicher Gliederpracht war. Da flehte Barbara zu dem Heiland, er möge sie in dichte Schleier hüllen, damit sie sich nicht müsse zu Tode schämen. Sie blieb nackt am ganzen Leibe. Jedoch von allen Tausenden, die herbeiliefen, die Entweihte zu schauen und zu beschimpfen, wurde ihre Blöße von keinem Auge gesehen. Nur ihre himmlische Schönheit. Auf dieses neue Wunder hin übergab sie der Römer ihrem eigenen Vater zum Richten; auf einem hohen Berge schlug der Mann seiner Tochter das Haupt ab.«

Judith war bewegt. Besonders starken Eindruck machte ihr die Sage von der mystischen Verhüllung des jungfräulichen Leibes vor den gierigen Augen der Volksmenge. Das war schön! Aber mit welchem Entzücken der Erzähler von den Göttern der Heiden sprach! Und jetzt rief er aus:

»Die Santa Barbara des Palma Vecchio könnte eine Hera des Polykletos oder eine Pallas Athene des Phidias sein. Freilich niemals eine Venus! Niemals eine Göttin der Liebe oder sonst eine wonnige Frau, göttlicher Liebe fähig.«

Dabei sah er Judith an ...

Sie sollte der heiligen Barbara des großen Venezianers gleichen, jener gestrengen Jungfrau, die niemals hatte Liebe empfinden können –

Fast hätte Judith Platter gelächelt. Ganz leise, heimlich.


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