Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Zehntes Kapitel

Noch immer: »Wie aus dem Junker Rochus Pater Paulus wurde

Zwei Jahre später..

Nein, noch immer nicht auf meinem Gesicht eine Wandlung der Züge, des Ausdrucks, des Blicks, der mir aufprägt, was ich bin: ein armseliger Diener des höchsten Herrn, ein demütig« Knecht der alleinseligmachenden Kirche. Noch immer trage ich mein Haupt zu hoch, ist mein Gang zu aufrecht und stolz. Und ich habe doch gebetet, wie der Mensch nur beten kann; habe meiner Mutter Seele aus dem Fegfeuer losgebetet! Gekämpft habe ich mit Gott um einer Mutter Seele, habe mit ihm gerungen. Bezwungen habe ich ihn; er hat mir meiner Mutter Seele lassen müssen, kraft meines Betens und Ringens.

Du bist selig geworden durch deines Sohnes Liebe, o Mutter. Selig lächelnd schaust du auf mich herab...

Und doch – was ist es nur, daß ich dennoch kein guter Christ bin; dennoch kein getreuer Diener des Herrn, kein frommer Knecht der katholischen Kirche?

Etwas ist in mir, das noch nicht ganz abgetötet ist, noch nicht ganz Geist geworden: etwas vom Menschen ist immer noch in mir! Es ist Sehnsucht der Kreatur. Sehnsucht wonach? Herr, du gewaltiger Herr im Himmel und auf Erden, wonach sehnt sich mein junges Herz? Nach Weltfreude, nach Daseinslust, nach Glück des Geschöpfes, nach – Leben!

Ich darf mich nicht sehnen; ich muß jede Sehnsucht der Kreatur in mir ersticken, bis auf die leiseste Regung ausrotten; die leiseste Regung ist Todsünde.

Was habe ich sonst noch zu berichten? Ich meine von den Veränderungen, die seit jenem Sommermorgen in der Capella Sixtina mit mir vorgingen ...

Am nächsten Tage warf mich ein hitziges Fieber darnieder.

Ich krank? Junker Rochus krank? Konnte das möglich sein? Konnte ein junger Baum mitten in wonniger Frühlingszeit plötzlich verdorren? Ein fröhliches Tier der Berge plötzlich niederfallen, ohne von einer Kugel getroffen zu sein? Ein zu den Wolken sich aufschwingender, über Gipfeln kreisender Adler aus Sonnennähe plötzlich mit gelähmten Fittichen zur Erde herabsinken?

Ich lag in dem kleinen, gelben Hause, dessen Blütengarten der Sonnenbrand längst versengt hatte, und wußte nichts mehr vom Leben. Wochenlang lag ich bewußtlos in Fiebergluten. Ich wäre gern gestorben, konnte nicht sterben, mußte auf Tod und Leben ringen mit dem Knochenmann, der den Junker Rochus holen wollte, bevor dieser noch so recht der Junker Rochus gewesen.

Der hochwürdige Herr Sebastian Schwarz hat es mir nicht gesagt; ich weiß es jedoch, ich weiß, daß ich in meinen Phantasien nicht im heiligen Rom am gelben Tiber, sondern auf Schloß Enna am grünen Eisack war; daß ich in Vahrn unter den Kastanienbäumen weilte, unter der Kuppel ihres Domes dahinritt auf meinem Falben, von meinen Rüden umsprungen. Wir kamen an auf dem Platterhof.

»Judith! Judith!«

Ich jauchzte den Namen und um mich jauchzten Berg und Tal, Baum und Strauch, Himmel und Erde: »Judith! Judith!«

Da war sie! Fein und schlank, mit dem hellen Antlitz, darin die schwarzen Augen so seltsam gedankentief in die mit mir jauchzende Welt hinausschauten. Sie trug ihr dunkles Gewand. Ihre Tiere waren mit ihr: der Edelmarder und der Reiher, der Silberfasan und das Falkenpaar...

»Hast du deine ganze Menagerie glücklich beisammen, Zauberin, Hexe?« jubelte ich ihr zu, sprang vom Pferde, stürzte zu ihr, wollte sie umfassen, wollte weinen und lachen, wollte an ihr hinsinken, mit beiden Armen sie umfangen, wollte sie küssen.

Was war es nur? Ich konnte sie nicht anrühren! Regungslos stand ich, daß mir das Herz zerspringen müßte, wenn ich sie nicht in meine Arme riß, sie nicht küßte; fühlte, daß ich mich nicht zu regen vermochte: sie war für mich unberührbar geworden! Das Judithlein vom Platterhof unberührbar für den Junker Rochus, der sie doch so herzinniglich – nein, so leidenschaftlich, so verzehrend, so ewig liebte.

Sie schritt an mir vorüber: mit weit, weit offenen großen Augen dicht an mir vorüber, ohne mich anzuschauen, ohne mich überhaupt nur zu sehen. Ihre Tiere folgten ihr. Nicht einmal Judiths Tiere kümmerten sich um mich! Sie schritt durch den Blumengarten; schritt über die Wiese, in den Kastanienwald. Tief und tiefer schritt sie hinein. Ich wußte, daß der Wald sie verschlingen, daß ich sie verlieren würde, wenn ich mich nicht regen, ihr nicht nacheilen konnte.

Und ich konnte kein Glied rühren! Hätte nicht nur mein Leben, sondern auch Judiths Leben davon abgehangen – ich konnte nicht! Sie entschwand meinem Blick. Nicht ein einziges Mal war sie stehen geblieben, nicht ein einziges Mal hatte sie zurückgeschaut...

Der hochwürdige Herr Sebastian Schwarz sagte mir nichts von solchen Phantasien; ich weiß jedoch, daß ich sie hatte, und erinnere mich ihrer wie eines langen, bangen Traums.

Ich befand mich im tiefen Dunkel, schien in den Lüften zu schweben, schien zu sinken und in Abgründe zu stürzen.

Das war das erste, was ich vom Leben – nicht empfand, sondern ahnte. Die nächtliche Finsternis, die mich umfing, durchglühten unirdische Strahlen, in denen ich die Gestalten von Michelangelos Jüngstem Gericht erblickte: den richtenden Titanen, an dessen Knie die um Erbarmen flehende, zitternde Mutter sich drängte. Und ich erblickte jene in Leichentücher gewickelte, einsam irrende, die Unendlichkeit durchsuchende Frau, darin ich meine Mutter zu erkennen geglaubt hatte. Auch das erste Menschenpaar sah ich, wie es geschaffen ward, wie es im Paradiese selig miteinander ruhte, wie es in Schuld verfiel und vertrieben wurde.

Durch Schuld war Eva an Adam gekettet, mehr noch als durch Liebe; ihre Schuld machte sie unlöslich von dem Manne, den sie zur Schuld verführt hatte.

Wie schwach dieses erste Weib war! Und dieses erste, schwache, schuldig gewordene, der Sünde verfallene Weib ward die Mutter des Menschengeschlechts. Um die schuldig gewordene Menschheit in seine Gewalt zu bekommen, um sie zu richten, zu strafen, zu verdammen, ward es geschaffen.

Des ersten Menschenpaares Schuld überlieferte die Menschheit dem Herrn! Aber das sind Gedanken, die an Gottes Thron rütteln.

Von Gottes Diener gedacht, sind sie Todsünde.

Weshalb denke ich an das erste Weib? ... Weil ich Judiths gedenken muß. Immer wieder Judiths! Sie wäre nicht schwach gewesen; sie wäre nicht in Schuld verfallen, also nicht verfallen der Reue und Strafe. Über Judiths Seele hätte Gott keine Gewalt gehabt – nicht Gewalt durch den Sündenfall. Nur durch die Liebe.

Immer wieder muß ich es denken.

Mit meinem mehr und mehr aufdämmernden Bewußtsein lichtete sich allmählich die Finsternis in mir und um mich. Aber immer noch schien ich nicht auf dieser Erde zu sein; denn der Mutter Antlitz neigte sich über mich, blaß und zart wie der Kelch einer weißen Blüte und mit seltsam stillem Blick. Und ich sagte meiner lieben Mutter:

»Also fandest du mich doch in der Unendlichkeit? Deine arme Seele ward also doch erlöst aus dem Fegfeuer? Deines Sohnes Liebe erlöste dich! Jetzt wollen wir miteinander eingehen in das Paradies; Judith wartet auf uns.«

Dann kam die Zeit, wo ich anfing, zu begreifen, daß ich auf Erden lebte, daß das über mich geneigte stille, blasse Antlitz mit dem mütterlichen Blick das gute Gesicht der alten Cristina war.

Sie sagte mir, ich sei schwerkrank gewesen, dem Tode nahe; ich sei vom Tode errettet: deshalb errettet, weil Gott mich ausgewählt hatte, sein Diener zu werden.

Ferner vernahm ich, der hochwürdige Herr Sebastian Schwarz hätte das Wunder, welches sich mit mir begeben, meinem Vater berichtet, und mein Vater schickte mir seinen Segen zu meinem frommen Entschluß, der meiner toten Mutter sehnlichsten Wunsch erfüllt, daß ihr lieber Jüngster dem Herrn sich weihte. Ich fragte, ob mein Vater mir geschrieben hätte? ... Nein. Nur dem hochwürdigen Herrn Sebastian Schwarz... Ob kein andrer Brief für mich eingetroffen wäre? ... Was für ein andrer Brief?

Ich wollt« dem hochwürdigen Herrn Sebastian Schwarz antworten: »Aus dem grünen, grünen Vahrn, vom Judithlein!« fühlte jedoch von neuem meine große Schwäche; fühlte, wie ein gleich Sturmwind aufziehendes Dunkel mich einhüllte, wilde Wirbel in die Höhe trieben, in Abgründe niederrissen.

Allmählich genese ich. Tagtäglich erwarte ich den Brief. Der Brief muß kommen! Der hochwürdige Herr Sebastian Schwarz trug während meiner schweren Erkrankung viel Sorge um mich. Ein vortrefflicher Arzt behandelte mich, eine barmherzige Schwester pflegte mich. Ich hatte das römischer Fieber. Das Fieber haben in Rom viele, und viele sterben daran. Ich blieb leben. Und ich blieb leben, weil ich zu großen Dingen auserwählt bin; blieb leben, damit aus dem Junker Rochus ein Pater Paulus werde.

Der erwartete Brief aus Vahrn trifft nicht ein.

Ich warte trotzdem.««'

Denn – der Brief muß kommen!

Der hochwürdige Herr Sebastian Schwarz ist nicht in Rom, sondern befindet sich beim heiligen Vater in Castel Gandolfo. Jede Woche kommt er jedoch in die Stadt, um nach mir zu sehen. Er erscheint mir demütiger und armseliger als je, sein Gesicht welker als je. Aber ich weiß jetzt, welche Gewalt dieser armselige, welke Priester über die Gemüter hat; selbst über ein junges, ungestümes, heißes Herz voller Träume, Hoffnungen, Wünsche. Auch ich soll dermaleinst über die Seelen der Menschen Gewalt erlangen. Dafür ward ich auserwählt und berufen.

Der Heilige Vater weiß von mir.

An dem Tage, an dem ich Priester werde, wird mir der Heilige Vater seinen apostolischen Segen spenden: bin ich doch ein Graf von Enna, ein Sohn aus uraltem, edlem Geschlecht!

Im Geiste sehe ich Plus IX. Er steht unter Michelangelos Jüngstem Gericht vor dem Altar. Die ersten Sonnenstrahlen treffen die Lichtgestalt, die mit emporgestreckten Armen den katholischen Erdkreis segnet.

Und mich durchschauert die Gewalt des Mysteriums.

Der erwartete Brief trifft nicht ein.

Es kommt die Zeit, wo ich nicht mehr darauf warte.

Ich weiß: Judith hält mich für treulos; Judith wendet sich von mir; Judith verachtet mich.

Ich will über deine Seele Gewalt bekommen! Deine Seele soll mir untertan werden!

Und dann – Jenem ersten römischen Sommer folgten viele römische Jahre. Es waren Jahre beständigen Kampfes, beständiger Qual. Jahre waren es harter Vorbereitung, scharfer Selbstzucht und strenger, schier grausamer Aszese. Trotzdem war es nicht Selbstzucht und Aszese genug.

Ich entschloß mich, dem Orden Sankt Augustinus beizutreten. Weshalb grade dem dieses Heiligen? Es ist kein besonders mächtiger Orden – und ich strebe doch nach Macht! Meine junge Seele strebt danach, meinen Willen stark und unbezwinglich zu machen. Diesem Zweck gilt meine scharfe Selbstzucht, meine leidenschaftliche Aszese.

Um zu Macht zu gelangen, um eine große Gewalt über die Gemüter auszuüben, hätte ich dem Orden des heiligen Ignatius beitreten sollen. Der hochwürdige Herr Sebastian Schwarz riet mir dazu; denn unter dem neunten Pius bilden die Söhne Loyolas die Macht der Kirche. Es ist eine Gewaltmacht. Sie beherrschen Könige und Kaiser; sie beherrschen den Papst, beherrschen das katholische Universum. Und – ich will herrschen!

Zum Herrschen bin ich geboren, Herrschen ist mein wahrer Beruf – das hat der hochwürdige Herr Sebastian Schwarz in mir erkannt; das fühle ich in mir als jene dunkle Gewalt, die mich lenkt. Trotzdem wurde ich Augustiner.

Heute weiß ich weshalb: erst seit heute!

Im Kloster Neustift sitzen Augustiner; das Kloster Neustift liegt bei Vahrn; in Vahrn ist der Platterhof.

Vielleicht/ daß einmal der Tag kommt...


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