Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Drittes Kapitel

Pater Paulus will das Dienen lernen, macht eine Wallfahrt und opfert ein blutendes Herz

Ein dienender Bruder fühlte den Ankömmling nach seiner Zelle.

»Du wurdest seit langem erwartet.« »Ich komme von weit her.« »Von Rom?« »Gesegnet du, der du in Rom dem Herrn dienen konntest.« »Du sagst es.« »Unser hochwürdigster Offizial selbst meldete dich unsrem hochwürdigen Prälaten an – hörte ich berichten ... Du scheinst den Weg nach den Zellen der Väter zu kennen?«

»Ich kenne den Weg.«

»Also warst du bereits einmal in unserm lieben Heiligtum?«

»Bereits einmal ... Du liebst das Kloster?«

»Von ganzem Gemüt.«

»Wir dürfen nichts lieben.«

»Du wurdest streng in Rom.«

»Nicht streng genug gegen mich selbst.«

Ein schwerer Seufzer war die Antwort des Mönchs ... Dann ließ er Pater Paulus in die für ihn bestimmte Zelle eintreten, ohne ihm zu folgen. Er stand in der Tür, sagte mit veränderter Miene und Stimme:

»Unser hochwürdiger Herr Prälat wünscht dich binnen kurzem zu sehen.«

»Ich werde kommen.«

Sobald die Tür geschlossen war, stürzte Pater Paulus zum Fenster. Seine Zelle lag über dem Klostergarten, darin unter dem leuchtenden Baldachin der blühenden Fruchtbäume die wonnigste Wildnis von Frühlingsblumen wucherte: Tulpen und Hyazinthen, Tazetten und Narzissen. Er sah die Plose und die Berge von Albeins; die Türme von Brixen und den Laubhügel, darauf das Schloß seiner Väter lag.

In dieser Zelle sollte er fortan dem Herrn dienen, Pönitenz tun und die Prüfung bestehen. Auch in der Bestimmung des Raumes erkannte er tiefe weise Absicht.

Er fand Hauskleid und Skapulier für sich zurecht gelegt. Desgleichen neues Schuhwerk. Die düstere Kutte, die die Söhne St. Augustins außerhalb ihres Heiligtums trugen, legte er ab und hüllte sich in das weiße, weiche Hausgewand. Es kleidete diesen Diener des Herrn schier fürstlich. Danach begab er sich zu seinem Vorgesetzten ...

Gegen Abend dieses Tages kam von Schloß Enna ein Bote nach Kloster Neustift. Der alte Florian war's. Er sollte dem hochwürdigen Herrn Prälaten den Tod des ältesten Sohnes seines Gebieters anzeigen; sollte melden, seines Herrn jüngster Sohn sei diesen Vormittag in der Gruftkapelle gesehen worden. Ob der hochwürdige Herr Prälat von einer Rückkehr des jüngsten und jetzt einzigen Sohnes des Grafen von Enna wüßte – da derselbe doch Augustiner geworden?

Von dem Pförtner erfuhr der Abgeschickte, aus Rom sei heute ein fremder Mönch eingetroffen. Der Diener des Herrn sähe jedoch aus wie ein Gebietender. Da rief der Bote, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen:

»Das ist er! Das ist unser Junker Rochus!«

»Nicht doch. Das ist Pater Paulus.«

»Den kennen wir nicht. Wir wollen unsern Junker Rochus wiederhaben. Laßt mich zu ihm!«

Aber Pater Paulus hielt mit den Vätern und Brüdern in der Klosterkirche Andacht. Da stellte sich der Bote in dem Gange auf, den die Geweihten gehen mußten, um aus dem Chor in das Kloster zu gelangen. Mit den andern kam Pater Paulus. Er hielt die Augen zu Boden geschlagen, sah bleich und stolz aus, Zoll für Zoll ein Herrensohn, ein Grafensproß. Dem treuen Diener seines Herrn wankten die Knie. Beide Arme streckte er nach dem Ehrwürdigen aus, als wollte er sein Junkerlein mit beiden Armen umfangen, und mit erstickter Stimme rief er seinen Namen:

»Junker! Junker Rochus!«

Ein Beben durchlief die hohe Gestalt, als würde ein Gestorbenes bei Namen gerufen. Mit totenhaftem Gesicht schaute er auf; sah den Alten an seinem Wege stehen; sah ihm mit einem erloschenen Blick tief in die Augen; schlug den seinen zu Boden – schritt weiter, schritt an dem treuen Freunde seiner glückseligen Kindheit vorüber.

Bei der Beisetzung des zu Wien im Zweikampf gefallenen ältesten Sohnes des Grafen von Enna sah der Vater seinen jüngsten und liebsten Sohn wieder. Der gute Kaplan Plohner hatte sein christliches Erdenwallen längst beendet, und kein neuer Geistlicher war in dem verödeten Hause an die leere Stelle getreten. Der hochwürdige Herr Prälat selbst forderte Pater Paulus auf, dem letzten Erben des edlen Geschlechts das Grab zu weihen und auf Schloß Enna das Totenamt zu halten.

Mit versteinerten Zügen trat der Priester dem Schloßherrn entgegen. Weder Miene, noch Blick und Wort verrieten eine Bewegung. Als Fremder kam er ins Vaterhaus, daß alle scheu auf ihn sahen. In der großen Halle stand der Katafalk, auf den die Ahnenbilder herabschauten. Für den Grafen war vor dem geschlossenen und mit schwarzsamtenem Bahrtuch bedeckten Sarge ein Lehnsessel aufgestellt. Ringsum stand das wenige Gesinde, standen die Dorfleute, eine Versammlung gleichgültiger Leidtragender; nicht der Tote war heute auf Schloß Enna die Hauptperson, sondern der junge Priester, Pater Paulus mit Namen.

Er hielt die Leichenrede; und ihr Text war die Geschichte vom verlorenen Sohne, den der Vater wiederfand, wiederfand in seinem Tod, durch seinen Tod. Mit regungslosem Antlitz verkündete der Bruder am Sarge des Getöteten das Evangelium der Verzeihung, welches das Evangelium der Liebe war. Mächtig klangen seine Worte:

»Gelobt sei mein Herr durch die, welche verzeihen um deiner Liebe willen.

Und Schwachheit ertragen und Trübsal.

Glückselig die, welche sie ertragen werden in Frieden; denn von dir, o Höchster, sollen sie gekrönt werden.«

Ob Judith Platter die Botschaft hörte? Es war die ewig göttliche Sendung der verzeihenden, der himmlischen Liebe. Und wenn Judith Platter aus diesem Munde sie hörte, ob sie das Evangelium dann glaubte?

Er wußte nicht, ob sie gekommen war, wollte es nicht wissen. Mit seinem entgeisterten Blick sah er nichts. Nicht die hohe Wölbung, durch die die Stimme des Knaben einst wie ein Jubelhymnus schallte; nicht das Gesinde, darunter sich wohlvertraute Gestalten befanden; nicht seines Vaters Gesicht. Aber seine Rede, deren machtvoller Klang im Saale den Widerhall weckte, hielt er weder dem verlorenen und wiedergefundenen Sohne, der als stiller Mann vor ihm lag, noch dessen tiefgebeugtem, greisem Vater, sondern ihr – ihr: der Geliebten aus seiner glückseligen Jugendzeit. Und es geschah in dieser Stunde, daß Pater Paulus sich zum erstenmal der Gewalt bewußt wurde, die seinem Munde gegeben war und mit der er einstmals über die Seelen der Menschen herrschen wollte – herrschen würde ...

Durch die Frühlingspracht des verwahrlosten Parks trugen sie den Sarg zur Kapelle und senkten ihn in die Gruft, darin Generationen und Generationen des einst glorreichen Geschlechts zur Ruhe eingegangen waren. Nur noch einem Friedlichen konnte daselbst die letzte Stätte bereitet werden: dem letzten Grafen von Enna.

Nach dem Leichenbegängnis sprach dieser Letzte mit dem Augustinermönch. Er sagte ihm, daß er ihn wiederhaben wolle. Ihn wiederhaben müsse er!

Welches war die Antwort?

»Ich wurde geistlich; geistlich bleibe ich. Ihr wolltet es nicht anders.«

»Deine Mutter. Nicht ich, nicht ich.«

»Du ließest es geschehen.«

»Jetzt lasse ich nicht geschehen, daß du geistlich bleibst.«

»Und du ließest es geschehen, weil du meinen Bruder hattest. Wenn du mich jetzt zurückforderst, so willst du mich nicht für dich haben, sondern für dein Geschlecht, deinen Namen. Deines Namens willen kehre ich nicht wieder zurück.«

Da rief der Mann aus: »Ich gebe dir Judith Platter zur Frau.«

»Judith Platter!«

Der Name klang wie ein Aufschrei.

»Sie gebe ich dir!«

»Sagtest du ihr ... Antworte!«

»Was willst du wissen?«

»Ich will wissen, ob du es ihr sagtest?«

»Ja.«

»Und sie? Judith Platter? Antworte! Ich will von dir wissen, was Judith Platter dir erwidert hat?«

Aber er erhielt nur Schweigen zur Antwort...

Da wandte sich auch der Mönch schweigend ab, und schweigend ging er.

Mein Sohn Paulus, du bist herrschsüchtig, herrschwütigen Geistes. Als solchen erkannte ich dich bereits während dieser wenigen Wochen. Du mußt deinen Gebietergeist gefügig machen. Beugen mußt du ihn – brechen. Dann erst wirst du dich aufrichten können. Deine Herrschsucht muß Demut werden. Dienen mußt du lernen. Dann erst darfst du herrschen ... Was kannst du mir darauf erwidern?«

»Daß Ihr im Recht seid, mein Vater.«

»Was willst du tun?«

»Meinen hochfahrenden Geist unterwerfen.«

»Wem?«

»Mir selbst.«

»Das spricht dein Hochmut aus dir.«

»Ja, hochwürdiger Herr.«

»Gott mußt du dich unterwerfen.«

»Ihr meint die Kirche.«

»Sie ist Gott... Auf welche Weise willst du dich unterwerfen?«

»Ich will mich demütigen. Dienen will ich lernen; lernen mich selbst bezwingen.«

»Wohl, wohl... Willst du dienen lernen, um über andre zu herrschen? Erforsche dich.«

»Das will ich.«

»Wie ich dich kennen lernte, wirst du dich selbst bezwingen, um andre zu unterjochen.«

»Ihr erkanntet mich recht.«

»Das ist aber nicht das Rechte.'

»Ich weiß es.«

»Und dennoch willst du –«

»Hochwürdiger Herr, legt mir Buße auf. Je strenger, um so besser.«

»Ich will dich nicht züchtigen, ich will dich bessern.«

»Laßt mich Dienste tun. Die allerunwürdigsten! Sendet mich aus, wo Ihr den Geringsten der Unsern hinschickt. Sendet mich zu den Mühseligsten und den am schwersten Beladenen. Schickt mich zu Aussätzigen und Übeltätern in Alpenwildnisse und Einsamkeiten. Habt kein Mitleid mit meinem rebellischen Geist, meiner widerspenstigen Seele. Ich flehe Euch an.« Nach einer Weile erwiderte der Greis milde: »Ich will meine Hände über dir falten und über deinem Haupte beten, daß Gott der Herr Erbarmen mit dir habe. Du bist mein Sorgensohn, und eben deshalb mein lieber Sohn.«

Von Stund an begann Pater Paulus sich in Demut zu üben und das Dienen zu lernen. Sie lebten einander so nahe, daß eine kurze halbe Stunde sie hätte vereinigen können; und sie waren durch Welten voneinander geschieden: dieser Mann und dieses Weib, diese – zwei Menschen!

Denn wie es für das erste Menschenpaar keine andre Bezeichnung hätte zu geben brauchen, so genügt der Name für alle getrennten Hälften der Menschheit, die mit Sturmesgewalt zueinander getrieben werden, um aus zwei Menschen den einen ganzen Menschen zu schaffen, den gottgeschaffenen Menschen, der zugleich ein seliger Mensch ist. Und wären die beiden Getrennten durch Unendlichkeit voneinander geschieden, so müßten sie einander sich suchen. Sie irren und irren, suchen angstvoll, verzweiflungsvoll; sie glauben gefunden zu haben; stürzen aufeinander zu; jauchzen auf; wollen sich ineinander verschmelzen, um nur zu oft erkennen zu müssen:

»Es ist nicht der Gesuchte! Ist nicht meine zweite Hälfte, nicht mein zweites Ich. Es war ein Irrtum, den wir beide büßen müssen. Und wir müssen uns trennen; denn wir können uns nicht vereinen. Müssen von neuem irren und suchen: mit Verzweiflung, mit Todesangst. Denn wir müssen unsern zweiten Menschen finden; sonst haben wir uns selbst nicht gefunden, sonst müssen wir aufschreien zu der Gottheit, die uns schuf: ›Es ist so beschämend, Mensch gewesen zu sein, ohne das Allermenschlichste erlebt zu haben!‹«

Oder die zwei sich verzweiflungsvoll Suchenden finden sich; streben zueinander mit Sturmesgewalt; werden durch eine stärkere Macht wieder voneinander gerissen. An dem Abgrund, der sie scheidet, stehen sie nun. Sie strecken die Arme aus, umfassen die leere Luft und erleben an sich die große Tragödie der Menschheit: Mann und Weib; zwei Menschen, die nicht ein Mensch werden können; denn:

»Keine Brücke führt von Mensch zu Mensch!«

So nahe von Judith Platter lebte Pater Paulus, daß er die Glocken von Vahrn läuten hörte; daß er, wenn er die Felsenlehne dicht beim Kloster bestieg, den Platterhof unter sich liegen sah. Wäre Judith grade aus dem Hause getreten und über die Terrasse geschritten, so hätte er die Farbe ihres Kleides erkennen können. Pater Paulus blieb jedoch in der Tiefe. Den Glockenschall vom Vahrner Kirchturm mußte er freilich hören; und er mußte dabei denken:

›Auch Judith hört das Geläut!‹

Bereits beim ersten Schall stand sie auf. Wenn die Glocke den Mittag ansagte, feierte auch sie mit dem Gesinde, um die Arbeit beim Einkehrläuten wieder aufzunehmen. Dann die Vesperglocke, das Abendläuten:

»Jetzt ruht auch sie. Gute Nacht, Judith ... Ave Maria, Regina Coeli!«

Um seiner irdischen Gedanken Herr zu werden, befleißigte er sich mit heißer Inbrunst des Dienstes des Himmels. Was Rom ihn nicht gelehrt hatte, wollte er in der Heimat lernen: Ergebung, Demut, Beugen von Haupt und Herz. Erst jetzt wurde jede Stunde seiner langen Tage und wachen Nächte zu einem Ringen mit sich selbst. Ein Kampf war's um Sein oder Nichtsein. Aber auch jetzt verschmähte er, seine Zuflucht zu den wundertätigen Hilfsmitteln der Kirche zu nehmen; durch sich selbst wollte er über sich selbst siegen.

Im Kloster tat er's in der Demut dem letzten der Brüder gleich. Aber er diente noch immer mit Herrschermiene. Um so tiefer neigte er das Antlitz, das so stolze Mienen zeigte. Er beaufsichtigte die Arbeiten auf den Feldern und Wiesen, in den Weinbergen und Bergwäldern; er besuchte die Armen und Trostbedürftigen in den höchsten Einsamkeiten; er hielt Wache bei Kranken und Sterbenden, die er nach ihrem Tode selbst einkleidete und in den Sarg legte. Er würde von Haus zu Haus, von Hütte zu Hütte gegangen sein, um Almosen zu erbitten, um zu betteln – wäre es ihm geboten worden.

Bei allen diesen demütigen Verrichtungen bemühte er sich, seine herbe Stimme leise und weich zu machen, seinem harten Blick Milde zu geben. Fühlte er, daß der Versuch ihm mißlang, so verdoppelte er seine Anstrengung, sich selbst zu bezwingen.

Eine Prüfung war's, durch Vahrn zu gehen, und weder nach rechts noch nach links zu schauen. Er bestand sie. Eine Prüfung war's, in der Grabkapelle von Schloß Enna für den verstorbenen ältesten und einzigen Sohn des Hauses die Totenmessen zu lesen. Er bestand auch diese. Einer andern Versuchung wäre er jedoch nahezu erlegen.

Eines Tags aus der Kapelle tretend, schlich der alte Florian zu ihm heran, haschte nach seiner Hand, wollte die Hand des Ehrwürdigen küssen, wurde hart abgewiesen.

Weinend flüsterte der Getreue:

»Willst du deinen Falben nicht wiedersehen, hochwürdiger Herr? Er lebt noch immer, hat das Gnadenbrot, wird von mir gepflegt, als ob er der Junker Rochus selber wäre. Aber jetzt geht's mit ihm zu Ende. Ihr besucht ja doch sterbende Menschen, also erbarmt Euch des sterbenden Tiers. Euer alter Falbe ist's! Gewiß erkennt er Euch wieder. Wer Euch einmal gekannt hat, vergißt Euch nicht mehr. Geht mit mir zu Eurem Falben, lieber Junker, hochwürdiger Herr.«

»Ich kann nicht mit dir gehen. Aber ich danke dir, du Getreuester der Treuen.«

Des Priesters Stimme zitterte.

Ein andres Mal trat ihm wiederum eine Versuchung nahe... Er befand sich auf Schloßgebiet und kam dazu, wie eine der ältesten und herrlichsten Edelkastanien gefällt werden sollte; denn der Graf von Enna bedurfte dringend des Geldes und hatte verboten, die Bäume an Judith Platter zu verkaufen. Bei dem Anblick der Männer, die mit ihren Äxten auf den Baumriesen einhieben, verlor der Mönch alle Herrschaft über sich selbst. Er stürzte vor, um den gemeuchelten Baum mit seinem eigenen Leibe zu decken. Die Axt wollte er den Arbeitern entreißen und sie gegen diese selbst schwingen. Die Leute kannten ihn nicht und schrien ihn wütend an, was den Pfaffen der Baum schere? Er solle sich um Seelen kümmern. Das sei seines Amtes.

»Das ist meines Amtes,« sprach Pater Paulus den Männern nach; trat zurück; ging davon; ließ den Baum fällen; wich vom Wege ab; bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und weinte bitterlich.

Das reiche Land stand in voller Sommerpracht. Die Fruchtbäume mußten Stützen erhalten, damit sie unter ihrer Last nicht zusammenbrachen; die Rebstöcke verhießen eine köstliche Ernte, und der türkische Mais ragte als Wald höh« Schäfte, aus deren saftgrünen Blattkronen die länglichen lichten Kolben mit goldigen Blütenperücken hervorglänzten. So war überall Menschenhoffnung und Erdenschönheit, Gedeihen und Himmelssegen.

Am üppigsten und buntesten prangte der Sommer in dem Garten von Neustift, nicht anders, als hätte der Genius des Orts sich diesen zum Wohnsitz erkoren. Nur in dem Platterhof besaß das Klosterparadies einen Rivalen. An diesen erinnerte seine Blumenfülle den geistlichen Herrn, der aus dem Fenster seiner Zelle darauf hinabschaute, häufig halbe Nächte lang. Levkoien und Fuchsien, Glockenblumen und Mohn wucherten vergnüglich durcheinander; lange Gänge waren mit blauem und rosigem Rittersporn eingefaßt; andre mit endlosen Reihen prächtiger Dahlien oder mit mannshohen Hortensien. Es gab Felder von Nelken, Verbenen und Zynien. Wahre Bollwerke bunter Winden und die glühende Blüte der spanischen Kresse überrankte Mauern und Hecken. Aber der Garten von Kloster Neustift war vornehm wie der eines großen Herrensitzes mit Laubgängen, Fontänen und Steinfiguren aus der Zeit des Barock. Längs der Wege waren Orangerien und allerlei exotische Pflanzen aufgestellt, die abends einen schwülen Wohlgeruch aushauchten, betäubend wie Weihrauch.

In diesen schönen Gefilden ergingen sich lesend und sinnend die frommen Väter, und es verbrachten darin einen Teil ihrer Freizeit die Klosterschüler, deren einer vor Jahren der Junker Rochus von Enna gewesen – allerdings Klosterschüler zu einem andern, ganz andern Zweck, als der war, dem diese jungen Seelen ihr Leben weihen wollten. Um den guten Jünglingen nicht ins Gesicht starren zu müssen, ging Pater Paulus stets gesenkten Hauptes an ihnen vorüber; sein starrender Blick hätte in den Mienen der angehenden Gottesdiener unwillkürlich nach der Veränderung geforscht, die mit ihnen bereits vorgegangen war; hätte die Wandlung der Züge gierigen Auges beobachtet. Die Knaben waren guter Dinge, oft heiter bis zum Übermut. Häufig geschah's jedoch, daß sie plötzlich verstummten; und es geschah jedesmal, wenn die hohe Gestalt in dem Kleide St. Augustinus vorüberging. Sie wurden still und blieben still, bis die gebieterische Männererscheinung ihren nachschauenden Blicken entschwunden war. Pater Paulus wußte, daß bei seinem Nahen die Fröhlichen schweigsam wurden, und mied ängstlich, ihren Weg zu kreuzen. Aber er mußte viel darüber nachdenken:

›Weshalb werden sie stumm, sobald sie mich sehen? Sie werden es stets nur, wenn ich komme. Weshalb nur bei mir? Womit bin ich gezeichnet, daß mein Anblick Scheu und Schweigen verbreitet? Steht mir auf der Stirn geschrieben, ich sei ein schlechter Priester? Ein schlechter Priester und ein unseliger Mensch. Denn das bin ich!‹

Jetzt sollten die jungen Leute, denen er Scheu einflößte, seine Schüler werden. In Kirchengeschichte sollte er ihnen Unterricht erteilen, jeden Tag eine Lektion. Der hochwürdige Herr Prälat wollte ihm durch diese Berufung zum Lehrer sein Vertrauen erweisen, wollte ihn dadurch auszeichnen. Aber Pater Paulus bat:

»Ich will dienen lernen. Wenn ich das Lehramt übernehme, muß ich gebieten. Erlaßt es mir also.«

Er erhielt den Bescheid:

»Gehorchen ist Dienen.«

Also gehorchte er.

Aber die Klosterschüler erschraken, als sie vernahmen: ›Pater Paulus ward über euch als Lehrer gesetzt!‹ Wie sollte das werden? In den Sälen und auf den Gängen gab es viel Zusammensteckens der Köpfe und eifrigen Geflüsters; und bangen Gemütes erwarteten die Scholaren des Gefürchteten erstes Erscheinen. Er kam, bestieg den Lehrstuhl, warf einen langen sinnenden Blick auf die versammelte Jugend, der er die Größe und Herrlichkeit der katholischen Kirche in ihrer Geschichte verkündigen sollte, und begann seine erste Stunde mit einer Schilderung der christlichen Katakomben Roms. Er berichtete, wie er aus seinem Kloster auf dem Aventin hinabgestiegen sei in die Tiefen. Unmittelbar hinter dem Altar lag der Eingang in Roms Unterwelt, die von Toten bewohnt ward, von Legionen und aber Legionen! Völkerschaften der ersten römischen Christen lagen dort unten eingesargt in der purpurbraunen Tufferde. Symbole des Glaubens und Leidens, der Liebe und Hoffnung auf ein Auferstehen und ein ewiges Leben zeichneten ihre Grabstätten. Für diesen Glauben waren sie gestorben, Legionen und aber Legionen den Märtyrertod. Der Redner ließ seine Zuhörer mit sich den schmalen schwarzen Felsenpfad schreiten, tiefer und tiefer hinab! Das Lämplein brannte trübe und flackernd. Es beleuchtete mit geisterhaftem Schein die Wände, die Grüfte waren, endlose Galerien von Grüften! Bisweilen weitete sich der enge Raum. Er rundete sich zu einer Grotte, die zur Kapelle geweiht worden war. Hier ruhten große Bischöfe der Kirche; ruhten Märtyrer, Selige – Heilige...

Auch Scharen Lebendiger hatten in diesem ungeheuren grausigen Grabe gehaust. Hinab zu den Toten hatten sie sich vor ihren Verfolgern geflüchtet, bei den modernden Leichnamen sich Verborgen gehalten; häufig so lange, bis sie selbst stille Bewohner der Totenstadt wurden.

Ganze Familien, ganze Geschlechter hatten so gelebt, waren so gestorben, im Glauben an eine triumphierende Kirche.

Von einem jungen christlichen Römer erzählte der Priester seinen jungen christlichen Zuhörern ... Der Jüngling hatte in dem fürchterlichen unterirdischen Labyrinth die Geliebte, die Gattin verloren. Er suchte sie. Tagelang durchirrte er die endlosen Gräberstraßen; rief laut den Namen der Verlorenen; grub den geliebten Namen in das Gestein. Er irrte, suchte, und rief so lange, bis sein Lämplein erlosch. Nun fand er die Geliebte im Tode.

Und Pater Paulus schilderte die gräßliche Nacht, die den Jüngling nach dem Erlöschen seines Lichtes umfing; schilderte sein allmähliches Verschmachten, allmähliches Hinsterben, den Wahnsinn, der ihn packte. Im Wahnsinn riß er mit seinen Händen die Grüfte auf, und durchwühlte sie, um bis zu seinem letzten Atemzuge die Geliebte zu suchen, starb er ...

Dann aber führte der Erzähler die Erschütterten aus dem finsteren Grausen wieder hinauf zu dem Glanz des Tages empor; hinauf in die Glorie der Sonne Roms. Er führte sie nach San Paolo fuori le Mura, nach Santa Maria Maggiore; führte sie in den Sankt Peter.

Aus langer banger Todesnacht war die Kirche Christi auferstanden zu goldenen Sonnengluten empor. In Marmorhallen ward sie zur Triumphatorin erhoben. Ein Juwelenmantel umhüllte die Göttliche; ihr leuchtendes Haupt empfing die dreifache Krone; ein Zepter war ihrer gebietenden Rechten gegeben und zum Schemel ihrer Füße der Erdball:

»Du sollst herrschen – herrschen – herrschen!«

Staunend blickten die Jünglinge auf den Mann, der zu ihnen sprach, wie zuvor noch niemand gesprochen hatte. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen leuchteten. Etwas Gewaltiges, Bezwingendes, etwas Herrschendes strömte von ihm aus über die Seelen, die er sich in dieser Stunde zu eigen machte. Wie einem Banne unterwarf sich der ehemalige Klosterschüler von Neustift die Gemüter der zukünftigen Diener der großen göttlichen Siegerin.

Da geschah es zum zweitenmal, daß Pater Paulus die Macht erkannte, die ihm verliehen war.

Wieder einmal warf der Herbst seinen Mantel aus Purpur und Gold über das Land Tirol. Auf den Wiesen sproßten des Jahres letzte Blumen, die zarten Zeitlosen, als ob Frühling wäre, und die blaßvioletten Krokusse blühten, die den Mai ankündigten. Zwischen den bräunlichen Maisfeldern, den gelben Weinbergen färbte junger Buchweizen den Grund mit sanfter Rosenröte, und die Wipfel der Edelkastanien wurden zu leuchtenden Wölbungen.

Es blieb eine goldene Welt, bis der erste Frost kam. Dann hüllte sich Mutter Erde in schleppend wallende Wolkengewänder; warf graue Nebelschleier über Antlitz und Haupt, ließ sich eine Diamantenkrone aufsetzen und harrte des Winterschlafs.

Vor seinen Obern trat Pater Paulus: »Ich möchte eine Wallfahrt tun. Gewährt sie mir, hochwürdiger Herr!«

»Wenn dein Herz dich treibt.«

»Es drängt mich, läßt mir nicht Ruhe.«

»Willst du zum Gnadenbilde unsrer himmlischen Frau von Weißenstein, lieber Sohn?«

»Ich will zu dem blutenden Herzen Maria, mein Vater.«

»Dorthin zieht dich dein leidenschaftliches Gemüt? Es ist ein unscheinbares Kapellein. Doch das weißt du.«

»Nur ein armseliges Heiligtum ist's, ich weiß.«

»Hoch in den Dolomiten, mühselig zu erreichen.«

»Grade deshalb möchte ich hin.« »Um daselbst für deiner Mutter Seele zu beten?«

»Nein, mein Vater.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Meiner Mutter Seele hat die ewige Seligkeit, bedarf daher meines Gebetes nicht mehr.«

»Wie du das sagst, Paulus, mein Sohn!«

»Wie denn sage ich's, hochwürdiger Herr?«

»Als wäre deine Seele voll Bitternis.«

»Ich bekenne, in diesem Augenblick daran zu denken, wodurch die Kirche Gewalt über meine Seele gewann. Sie war damals die Seele eines Knaben.«

»Bekenntnisse geziemen sich nur in der Beichte. Ich will dich nicht gehört haben.«

»So hat der Herr mich gehört.«

»Wann willst du die Wallfahrt antreten?«

»Den Tag zuvor werde ich's melden.«

Die Meldung erfolgte jedoch erst nach vielen Tagen. Es ward spät im Jahr. Schwülem Föhn folgte eisiger Nord. Im Tal fiel der Regen in Strömen, auf den Bergen aber trat heftiger Schneefall ein.

Am frühen Morgen trat Pater Paulus seine Wallfahrt zum blutenden Herzen Maria an. Auch eine geweihte Kerze führte er mit sich. Am liebsten hätte er der gnadenvollen Gottesmutter ein silbernes Herz geopfert. Als Mönch durfte er jedoch der Himmelskönigin nur sein eigenes Herz darbringen. Es glich dem von Schwertern durchbohrten göttlichen Herzen; war es doch auch blutend. Freilich war's lediglich ein armseliges Menschenherz...

Er ging den nämlichen Weg, den seine Mutter gegangen war. Je heftiger der wilde Wind ihn umtoste, je dichter die weißen Wirbel ihn einhüllten, um so leichter ward ihm ums Herz. Er atmete tief, wie von aller Erdenschwere befreit. Kaum gelangte er weiter. Jeder andre wäre zusammengebrochen, wäre hingesunken und nicht wieder aufgestanden. Pater Paulus brach nicht zusammen; sank nicht hin; drang unaufhaltsam vorwärts, als gelte es noch heute, bei dem wütenden Schneetreiben in der Felsenöde eine Mutter, die ihrem Sohn zuliebe einen Bittgang zur Gottheit tat, zu retten. Auch heute ward er wiederum versucht. Eine innere Stimme sprach zu ihm, raunte und lockte:

»Lege dich hin aus freiem, eigenem Willen. Bleibe liegen; schließe die Augen; schlafe ein. Es ist so süß, zu schlummern unter der weichen weißen Decke. Nichts weckt dich. Kein Glockengeläut, kein Kirchengesang, kein Gebet. Auch keine Menschenstimme. Nicht einmal die Stimme der Liebe. Schlafe ein, mein lieber Sohn! Du weißt nicht, welche Wonne es ist, so still daliegen zu dürfen und seine Augen nicht wieder öffnen zu brauchen; welche Wonne, die Welt nicht mehr sehen zu müssen – so herrlich schön sie ist. Es ist gar mühsam, seine Augen aufzutun, seine Glieder zu legen und sich zu erheben. Darum, lieber Sohn, schlafe ein!«

Es war seiner Mutter Stimme, die er auf dem Todesweg seiner Mutter beständig zu sich flüstern hörte, mit solchem sanften, solchem zärtlichen Ton. Und lockend, so ganz unwiderstehlich lockend ...

Pater Paulus gab der raunenden Mutterstimme laut zur Antwort:

»Ich darf nicht. Noch darf ich nicht. Ich darf erst später dir nachtun und der himmlischen Ruhe pflegen. Dann wird es freilich schön sein! Weißt du, gute Mutter, weshalb ich zum blutenden Herzen Mariä wallfahrte?«

»Zu meinem Gedächtnis.«

»Nein, Mutter.«

»Also sage mir's.«

»Du tatest diesen Bittgang, und dein Gebet ward erhört: siehe Mutter, dein Sohn wurde geistlich! Ich tue diesen Bittgang; opfere der Mutter Gottes eine Wachskerze; leiste ein Gelübde, damit auch ich bei dem blutenden Herzen Maria Erhörung finde. Danach will ich mich niederlegen, meine Glieder strecken, meine Augen schließen und nicht wieder öffnen. Schön wird's dann sein.«

So besprachen sich Mutter und Sohn zusammen, während der Sturm immer wütender tobte, die Schneemassen immer höher sich türmten. Aber Pater Paulus durchdrang sie.

Er langte an bei dem kleinen Heiligtum in den Dolomiten.

Den Schnee mußte er mit den Händen fortschaffen – genau wie damals von seiner Mutter Grab. Dann trat er ein, entzündete die Wachskerze, befestigte sie vor dem Marienbild, kniete nieder, erhob Arme und Antlitz, schaute auf das blutende Herz der heiligen Jungfrau und betete mit lauter Stimme, die einen Klang hatte, hart wie Erz:

»Ich bringe dir eine Wachskerze, Maria. Und ich bringe dir mein blutendes Herz. Für eine Wachskerze und mein blutendes Herz sollst du mir eine Seele zu eigen geben. Nur eine Seele! Und nur die Seele! Danach soll mein Amt auf Erden getan sein, soll mein Licht erlöschen – wie jetzt der Sturm meine Kerze erlöscht.

Höre mich, Maria! Erhöre mich!«

Die Kerze erlosch.


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