Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Zweites Kapitel

Judith! Judith! Judith!

Von den Toten hinweg ging sie hinaus in den leuchtenden Maientag, an dem ein Toter auferstanden war. Nicht für sie. Für sie blieb er gestorben, begraben. Nach wie vor las sie mit ihrem inneren Auge die Grabschrift, die sie ihm im Geiste gesetzt hatte: »Hier ruht selig in seinem Gott: Rochus, Graf von Enna, gestorben in der heiligen Stadt Rom.«

Können Tote reden und einen Namen rufen? Können sie seufzen, schluchzen, weinen? ... Ihren Namen rief er. Auf seiner Mutter Grabe rief er seiner Mutter ihren Namen zu. Ihr Name war auf seiner Mutter Grab sein Gebet:

»Judith! Judith! Judith!«

Sie mochte sich wehren, wie sie nur konnte. Aus dem Munde des für sie Gestorbenen vernahm sie fort und fort ihren Namen: gesprochen wie eine inbrünstige Bitte an die tote Mutter, ihrem Sohn zu verzeihen, daß er auf ihrem Grabe diesen Namen nannte; gerufen wie ein Flehen um göttliche Gnade; aufgeschrien zum Himmel wie ein Sterbender, der leben will:

»Judith! Judith! Judith!«

Und bei dem Aufschrei ihres Namens ein Seufzer gleich Stöhnen, ein krampfhaftes Schluchzen, daß sie den ganzen Mann erbeben sah, ein ersticktes Weinen ... Gewiß waren es die ersten Tränen, die er seit seiner Mutter Tod geweint hatte.

Durch den jubilierenden Vogelsang, durch das Frühlingsweben in den Wipfeln vernahm sie fort und fort ihren Namen:

»Judith! Judith! Judith!«

Seine Stimme ... Auf den Klang seiner Stimme lauschte sie seit dem Tage, an dem er von ihr Abschied genommen hatte und nach Rom gezogen – nach Rom »gewallfahrtet« war. Sie kannte keine menschliche Stimme von solchem Wohllaut. Maiensonne und Lenzesjugend leuchteten und jauchzten darin. Mit dieser leuchtenden, jauchzenden Stimme betete er fortan sein ganzes Leben lang den Herrn an, sang er Psalmen ab, Responsorien und Litaneien. Und wie zärtlich seine Stimme klang! Mit welchem Ton von Sehnsucht, Leidenschaft, Liebe – Dagegen gewehrt hatte sich Judith Platter. Trotzdem mußte sie ihrer Seele beständig auf den Ton von Sehnsucht, Leidenschaft, Liebe lauschen, der in seiner Stimme lebte, wenn er zu ihr sprach. Nun hörte sie plötzlich seine Stimme wieder, und es war darin immer noch jener Klang, bei dem es sie mit Schauern überlief. Aber nicht den geheiligten Namen »Mutter« rief der auf das Grab Hingesunkene; auch nicht dreimal den gebenedeiten »Maria«, sondern er rief den Namen einer irdischen Frau – ihren Namen ...

Judith mußte sich fassen. Sie mußte begreifen, daß sie nicht träumte und sich in einer wirklichen Welt befand. Frühling war's. Um sie her ergoß sich die ganze glanzvolle Frühlingsherrlichkeit. Es war seine Heimat, die er geliebt hatte, fast noch mehr als das Judithlein; seine Heimat, der er treulos geworden war, ebenso schmählich wie sich selbst. Und jetzt war er zurückgekehrt!

Deshalb also hatte man sie gerufen ... Wie konnte man sie deshalb nach Schloß Enna rufen? Was ging diese Rückkehr sie an? Es war ja doch nicht die Wiederkunft eines verlorenen Sohnes. Der Graf von Enna brauchte kein Kalb schlachten und zu dem Festschmause Gäste laden zu lassen; war doch sein jüngster und liebster Sohn niemals verloren gewesen, konnte daher niemals wiedergefunden werden.

Was hatte sie hier noch zu suchen? ... Nichts. Was mußte sie jetzt tun? ... Sofort umkehren. Das kam davon, daß sie dem Rufe gefolgt war. Was hatte sie mit diesen Menschen zu schaffen? Wäre sie ihnen doch stets so fremd geblieben, wie ihre ganze Wesensart der ihren war und immer bleiben würde.

Sie kam zu ihrem Gefährt. Freudig wieherte der Fuchs der Herrin entgegen. Judith trat zu dem prächtigen Tier und streichelte seinen Hals; sie mußte berühren, was ihr Eigentum war. Weich, fast zärtlich glitt die kräftig gebräunte Frauenhand über das seidig schimmernde Fell. Diese Hand war das Liebkosen gar nicht gewohnt, selbst nicht bei ihren vierbeinigen Lieblingen. »Wir fahren wieder nach Hause!«

Ohne es recht zu wissen, sagte sie es laut, als könnte ihre Stimme die andre in ihrem Innern übertönen, die beständig ihren Namen rief. Im Begriff, die Leine vom Baume zu lösen, sah sie den alten Grafen den Schloßberg herabkommen, ihr entgegen. So mußte sie denn bleiben und von dem Vater sich berichten lassen, sein Sohn sei zurückgekehrt! Sein jüngster und liebster Sohn.

Wie sah der Mann aus! Nicht, als hätte er ihr eine Freudenkunde zu bringen. Der Graf von Enna schien über Nacht ein Greis geworden zu sein, als wenn ihn über Nacht ein Schicksal getroffen.

»Wo bleibst du, Judith? Ich sah dich anlangen. Aber du kamst nicht.«

»Nein, ich kam nicht.«

»Ach, Judith! Judith! Judith!«

Auch sein Vater rief sie bei Namen. Dreimal! Verzweiflungsvoll, in ausbrechendem leidenschaftlichem Jammer.

»Judith, mein Sohn ist tot!«

Judith starrte den Vater des Heimgekehrten an, als spräche Wahnsinn aus ihm. Sie wollte dem Manne zurufen: »Dein Sohn lebt!« – blieb jedoch sprachlos.

»Erschossen hat man ihn. Wegen einer Weibersache. Mitten durch das Herz. Eine verheiratete Frau, du verstehst. Solchen schimpflichen, schändlichen Tod. Ein Graf Enna! In Wien verdarb man ihn. An Leib und Seele ward er faul. Nun ist er tot. Und mein Sohn Rochus ist in Rom, mein Sohn Rochus ist Pater Paulus. Ich habe keinen Sohn mehr. Judith! Judith! Judith – keinen Sohn habe ich mehr.«

Sein Sohn Rochus, der sein Sohn nicht mehr war, in Rom ... Also wußte der Vater noch nichts von seines Sohnes Heimkehr. Der Heimgekehrte war zuerst zu seiner Mutter gegangen, um auf ihrem Grabe den Namen seiner toten Jugendliebe zu rufen. Aus Judiths Munde sollte der Greis jetzt erfahren, daß in der Gruftkapelle seines Geschlechts ein Mann im Gewande eines Augustinermönchs hingesunken dalag wie von der Hand Gottes niedergeworfen auf das Grab der Frau, der zuliebe er ein Gottgeweihter geworden.

Judith mußte den kinderlosen alten Mann auf den Heimgekehrten vorbereiten. Sie faßte seine Hand und sagte mit einem Ton, der wie aus der Jugendzeit klang: »Wir wollen gehen.« Nach einem schweren Schweigen setzte sie leise hinzu:

»Der eine, der in Rom ist, wird gewiß wiederkommen.«

Fast wild rief der Alte ihr zu:

»Wiederkommen muß er! Wieder mein Sohn Rochus muß er werden! Ist er doch jetzt seines Namens und Stammes Letzter. Der heilige Vater muß mir den Letzten meines Hauses zurückgeben. Er muß! Ich will nicht der Letzte sein ... Und du – weißt du, weshalb ich nach dir schickte? Damit du mir helfen sollst, meinen Sohn Rochus zurückzurufen. Schweige! Du hast ihn lieb gehabt, hast ihn noch immer lieb. Mehr als alles im Leben. Trägst du doch noch immer an deinem Finger seinen Ring. Als wüßte ich's nicht; als hätte ich's nicht immer gewußt. Und er, Rochus! Er soll dein werden, wenn du mir hilfst, ihn zurückzurufen, ihn mir wiederzugeben: der Welt, der Menschheit, seinem Vater, seinem Stamm und Geschlecht. Wir waren blind, ich und seine Mutter. Gott straft mich jetzt für unsre Blindheit. Denn Gott ließ geschehen, daß mein Sohn in Wien so schimpflich und schändlich um sein Leben kam. Und er diente doch seinem Kaiser!«

In der Halle von Schloß Enna, in der jetzt der Verfall des einst ruhmvollen Geschlechts hauste, vor dem mit rauchgeschwärztem Wappenschilde geschmückten gewaltigen Kamin, vor welchem damals das aus Wassersnot gerettete Kinderpaar mit den Gott lobpreisenden Eltern des Knaben gesessen hatte – in diesem ehrwürdigen Raume sagte es Judith Platter dem Grafen von Enna. Sie sagte ihm, der Sohn, den der Vater für die Erde und das Leben, für sein Geschlecht und sich selbst wiedergewinnen wollte, sei gleichsam durch ein Wunder grade heute zurückgekehrt und auf dem Grabe seiner Mutter zu finden; sie sagte ihm, mit keinem Wort, keinem Blick werde sie helfen, diesen Sohn ein zweites Mal zu einem Abtrünnigen zu machen. Und sie sagte ihm, wenn sie auch den Ring des lieben Knaben an ihrem Finger trüge und zeitlebens tragen würde, so habe sie doch für Zeit ihres Lebens ihre Seele von dem Manne gelöst, der sich dem Himmel verlobt hätte.

Es war die erste bewußt ausgesprochene Lüge, die Judith Platter gelassen und mit tiefer Feierlichkeit aussprach. Aber sie sprach sie aus, um dadurch das große Geheimnis ihres Lebens zu verbergen, das nur ihr und ihrem Gott angehörte, der da war der göttliche Geist des Reinen und Wahren, des Starken und Guten auf Erden ...

Sie geleitete die schwankende Gestalt des Vaters, der seinen heimgekehrten Sohn suchte, bis zur Tür der Kapelle; entfernte sich alsdann von der Gruft; vernahm nicht des Grafen Ruf, er habe seinen Sohn nicht gefunden! Sah nicht an ihrem Wege den Mann im Mönchshabit hinter einem Gebüsch blühenden Weißdorns versteckt, in dem eine Amsel sang.

Wundersam ist es doch um die Liebe der Frau! Von den Dornen der Entsagung und des Leidens beinahe erstickt, treibt sie dennoch Blüte um Blüte, durchwindet mit glühenden Rosen die Märtyrerkrone, die jede unglücklich Liebende unsichtbar um ihre Stirn gewunden trägt.

Wie anders gestaltete sich die Rückfahrt der Herrin des Platterhofs durch das blühende Land. Als sie Schloß Enna zufuhr, glaubte sie dort die Nachricht zu empfangen: »der für die Welt und sie Gestorbene hat in Rom sein Grab gefunden ...« Und auf der ganzen Fahrt durch seine Heimat nach dem Schloß seiner Väter begleitete sie der Gedanke: »Er sieht seine Heimat nicht wieder. Nicht wieder sieht er den wilden Eisack; nicht wieder Eidechs und Plose, das graue Brixen und den Turm vom Schloß Enna.«

Aber – er war da! ... Während ihre Blicke auf der Herrlichkeit dieses Tiroler Alpentals ruhten, schaute vielleicht auch er denselben Augenblick auf die Frühlingspracht von Berg, Wald und Flur – mit welchen Empfindungen! Mit ihr zugleich atmete er diese Lüfte; fühlte er diese Sonne auf sich scheinen; sah er dieses weiße Gewölk durch den glanzvollen Äther ziehen.

Bei allem, was sie auf dem Heimwege erblickte, mußte sie jetzt denken: ›das war damals anders. Er wird bei uns vieles sehr verändert finden; und es wird ihm darum bitter leid sein. Und wenn er erst den Verfall von Schloß Enna sieht! Die Verwüstung des Forstes, die Verwilderung der Äcker. Wenn er erkennen muß, wie vieles von dem, was jetzt nach seines Bruders Tode sein Erbe sein würde, verkauft, verschachert ward. Das Herz muß ihm bluten. Und er kann keine Hand rühren, um dem Zusammenbruch Einhalt zu tun, das Zerstörte wieder aufzubauen. Seine beiden Hände sind ihm durch sein Gelübde gefesselt.‹

Plötzlich hielt sie den Fuchs an ... Italienische Arbeiter standen im Begriff, eine mächtige Edelkastanie zu fällen. Sie erkundigte sich bei den Leuten:

»Gehört dieser Baum nicht zu Schloß Enna?«

»Freilich.«

»Er soll umgehauen werden?«

»Er soll verkauft werden.«

»Steht ihr im Dienst von Schloß Enna?«

»Gewiß.«

»Ihr seid Welsche?«

»Aus dem Trento.«

»Der Baum wird nicht umgehauen!«

»Wir erhielten Auftrag.«

»Ich kaufe den Baum ... Kennt ihr mich?«

»Nein.«

»Kommt diesen Nachmittag nach Vahrn auf den Platterhof und holt das Geld für den Baum.«

»Er kostet viel.«

»Kommt und holt das Geld!«

»Sehr wohl.«

»Ich kaufe sämtliche Edelkastanien, die umgehauen werden sollen.«

»Das werden viele sein.«

»Ich kaufe alle.«

»Sollen wir die Bäume für Euch fällen?«

»Nicht einen Ast dürft ihr brechen! ... Habt ihr verstanden?«

»Sehr wohl.«

Mit einem tiefen Atemzuge trieb Judith Platter das Pferd an. Sie hatte etwas getan, wozu ihre Natur sie drängte, sie förmlich zwang. Zugleich waren die alten herrlichen Bäume, die sie für Schloß Enna erhielt, ihr heimlicher Gruß für den Wiedergekehrten, den sie selbst nicht willkommen heißen durfte. Aber –

Er lebte! Ohne in das Schloß deiner Väter einzutreten; ohne den Vater zu grüßen; ohne jenes junge Weib wiederzusehen, begibst du dich nach der Abtei von Kloster Neustift bei der Stadt Brixen und meldest dich bei deinem Oberen – lautete der Befehl, den Pater Paulus in Rom empfing.

Er vollführte ihn, gehorsam dem Gebot seiner Kirche; und er pries die Weisheit der ihm auferlegten Pönitenz für alle seine schweren Gedankensünden. Weise war die Strafe, nicht milde.

Der Besuch eines Grabes war dem Büßer nicht verboten worden. Er wollte niederknien, wollte die Nähe der geliebten Verstorbenen empfinden, wollte inbrünstig beten; aber die Gewalt des Augenblicks warf den ganzen Mann zu Boden. Er empfand nicht das Muttergrab, darauf er ausgestreckt lag, als wolle er die Begrabene mit seiner heiligen Sohnesliebe umfassen; kein Gebet stammelte er, sondern er gedachte der Nähe der einstmals Geliebten und rief ihren Namen, schrie ihn auf aus dem Grunde seines gequälten Herzens: »Judith! Judith! Judith!«

Der süße Wohlgeruch von Flieder, Narzissen und Lilien weckte ihn aus seiner Versunkenheit, die einer Entgeisterung gleichkam. Als er sich mühsam aufraffte, um weiterzugehen, von Schloß Enna fort nach Kloster Neustift, fand er sich bedeckt mit weißen Blüten, deren Niederrieseln er in seiner Betäubung nicht gespürt hatte.

Wäre Pater Paulus der fromme katholische Christ und wundergläubige Priester gewesen, der er von Berufs wegen und durch Überzeugung sein sollte, so hätte er an ein Mirakel glauben müssen. Denn – waren es nicht die nämlichen Blumen, die um die Frühlingszeit in Judith Platters Garten wuchsen? Während er ihren Namen zum Himmel aufschrie, waren ihre Blumen wie vom Himmel herab auf ihn niedergesunken.

Sein Empfinden war zu heftig aufgewühlt, zu zerstückt sein Denken, um das an ihm geschehene Blumenwunder fassen zu können. Wie ein Trunkener taumelte er aus der dunklen Wölbung hinaus. Der strahlende Frühlingstag umhüllte den Mann, der einst ein Maienmensch gewesen war, mit aller seiner Glorie.

Wenn ihm einer der Schloßleute begegnete! Gewiß war es noch das nämliche Gesinde, welches ihn von Kindesbeinen an kannte, für welches auch der Jüngling das »Junkerlein« geblieben war. Dieselben alten Getreuen mußten es noch sein. Und wenn einer von ihnen ihn erkannt hätte!

Der alte Florian –

Der eine Name nannte eine ganze Welt von Jugendglück: sein Falber; seine Rüden; alle die überschäumende Herrlichkeit jener Zeit...

Damit niemand ihm begegne und ihn erkenne, wollte der Heimgekehrte vom Pfade hinweg in die tiefsten Wipfelschatten des Schloßbodens abweichen und durch die Dickichte des Unter» Holzes davonschleichen. Hier hatte er mit dem Judithlein Versteckens gespielt! Fand er sie, so küßte er sie. Aber nur auf Stirn und Wangen. Ihren Mund durfte er ein einziges Mal küssen: als er ihr seinen Ring gab.

Eine weiße Narzisse am Boden! Wie ein leuchtendes Zeichen lag die schöne Blume auf dem dunklen Grund, darauf Sonnenstrahlen, das dichte Laubwerk durchdringend, ihr funkelndes Spiel trieben... Wiederum eine weiße Narzisse! Dort und dort! Unwillkürlich schritt der Mönch die bezeichnete Bahn und gelangte an den Platz, wo Judith das Pferd angebunden hatte. Hinter einem Gebüsch blühenden Weißdorns verbarg er sich.

Über ihm sang eine Amsel ihr Frühlingslied. Grade wie damals.

Wie damals!

Dann sah er sie langsam herankommen...

Das wäre sie gewesen? Das ,Judithlein«? So hochgewachsen, schlank und schön! Mit solchem stillen, ernsten Gesicht! Es war bleich und ihr Blick – welchen Blick hatte heute das Judithlein! Als hätte es einen Geist gesehen.

Sie war in der Kapelle gewesen, hatte seiner Mutter Grab besucht, hatte darüber Blumen geschüttet: Weiße Totenblumen auf zwei Gestorbene...

Daß er nicht vorstürzte, hin zu ihr; daß er vor ihr sich nicht niederwarf in den Staub, um sein dem Herrn geweihtes Haupt auf ihre Füße zu drücken; um sie anzurufen:

»Judith! Judith! Judith!«

Er umklammerte den Weißdorn, hielt sich daran fest, um nicht aufzuspringen; preßte die Lippen zusammen, daß sie bluteten, um ihren Namen zu ersticken. Da sah er an ihrem Finger seinen Ring –

Wie ein Blutstropfen glühte auf dem schmalen Goldreif der Rubin. Es mußte ein Tropfen Herzbluts sein, an dem Golde hängen geblieben, als sie die Hand gegen ihr Herz drückte, dem er eine Todeswunde beigebracht hatte.

Mächtig war sein Gott! Pater Paulus hatte dem Befehl seines Vorgesetzten gehorsamt, war nicht in das Haus seines Stammes getreten, hatte nicht seinen Vater gegrüßt; und wenn er Judith Platter wiedergesehen, so war es seine Schuld nicht gewesen.

Aber nur wiedergesehen hatte er sie, war nicht zu ihr hingestürzt, hatte nicht ihren Namen zu ihr aufgeschrien wie ein Sterbender, der leben wollte; hatte sich selbst bezwungen.

Gleich einem tödlich verwundeten Tier, das sich ins Dickicht verkriecht, blieb er geraume Zeit hinter dem blühenden Weißdorn. In den schimmernden Zweigen saß noch immer die Amsel und sang dem Heimgekehrten das Heimatlied. Ehe er mit Judith auf dem Weideneiland in den wütenden Wirbeln des Eisacks hinschiffte, dem Tode entgegen, hatte solch ein schwarzer Sänger den beiden Kindern von Lenz und Liebe geflötet. Auf den Gesang lauschend, stellte sich Pater Paulus die Frage, ob es nicht besser, nicht schöner und seliger gewesen wäre, hätten die tosenden Fluten das Inselchen damals verschlungen?

Ja – ja! Für ihn tausendmal besser, schöner, seliger.

Damit er sein junges Leben behalten sollte, wollte sich das Kind in die Wellen werfen. Und er –

Aufgepeitscht von seinen wühlenden Gedanken, sprang der Mönch empor und verscheuchte den Frühlingssänger über seinem Haupte.

Hörte er seine Rüden nicht bellen? Kam den Schloßberg der Falbe nicht heruntergesprengt? Vernahm er nicht seines Vaters Stimme? Und der alte Florian, der seinen Junker suchte, um mit ihm auf die Plose zu steigen ...

Auf der Plose balzte der Auerhahn!

Vom Wege wich er ab und suchte die heimlichsten Pfade durch Wald und Flur. Er kannte sie alle. Manches Bäumlein war inzwischen zum Baum, manches Strauchwerk zur Wildnis geworden, die ihm den Durchgang feindselig wehrte.

Aber – wo waren die alten herrlichen Stämme geblieben? Wer hat gewagt, sie zu fällen? ... Auf diesem wüsten Steinacker hatte stets der prächtigste Mais gestanden. Wer ließ das reiche Feld verwildern? Wenn der Graf von Enna dafür keine Sorge trug, so war doch in Vahrn Judith Platter.

Ein heißer Zorn gegen sie überkam ihn wegen der gefällten Stämme und des verwilderten Maisackers. Dann bückte er sich und begann etliche von den Steinen aufzulesen und zu einem Haufen zusammenzutragen.

Es war so wenig, was er für die geschändete Heimatscholle tun konnte, solch armseliges Liebeswerk.

Plötzlich hielt er inne, sprach mit lauter, kraftvoller Stimme:

»Du sollst wieder Frucht tragen!«

Dabei fiel ihm sein eigenes Leben ein. Glich es nicht diesem seiner Fruchtbarkeit beraubten Acker? Köstlich und reich war es gewesen. Was war es geworden?

Ein Steinfeld ...

Da schrie er auf: »Jeder meiner Gedanken wandelt sich in Sünde. Herr, nimm mir meine Gedanken, damit ich fortan nicht mehr sündigen kann. Herr, lasse das wüste Gestein wieder Frucht tragen, damit Gutes von ihm ausgehe, Reichtum und Segen. Mache den Steinacker zu deinem Weinberg. Herr, siehe – ich knie vor dir auf dieser unfruchtbar gewordenen Scholle meiner Heimat und schreie auf zu dir. Höre mich! Höre mich!«

Er warf sich nieder und betete. Sein Gebet war ein grimmiges Ringen mit Gott, dem Herrn des Himmels und der Erde, der seinen sündigen Knecht nicht lassen wollte.

An Leib und Seele wie von Gottes Hand geschlagen und gezüchtigt erhob sich Pater Paulus und setzte schwankenden Schrittes seinen Weg fort. Den Weiler Miland umging er. Und er umging die Stadt Brixen, hielt sich an den Rebengeländen des diesseitigen Ufers des Eisacks, dessen ungestüme Jugend aus umbuschtem Bett zu ihm emporrauschte. Einmal sah er den Kirchturm von dem grünen, grünen Vahrn, sah er die im Frühlingsgold leuchtenden Wipfel um den Platterhof. Er schaute nicht wieder auf. Dann langte er an ...

Einem Fürstensitz gleich thronte das Heiligtum in der Felsenenge, diese mit dem Palast des Prälaten und den Wirtschaftsgebäuden vom Tal absperrend, als ob das Haus St. Augustins eine Festung sei.

Schon vor dem Torbogen, den auf der einen Seite die steilgiebelige, stattliche Fremdenherberge, auf der andern der altertümliche, dreifach zinnengekrönte Rundbau von St. Michael flankiert, sah Pater Paulus die düsteren Gestalten der Schwarzgewandeten, die seinesgleichen waren. Er grüßte sie mit dem Gruß des Heiligen und empfing den Gegengruß um vieles demütiger, als er geboten ward. Ihren erstaunten Blick auf sich fühlend, begab er sich in den äußeren Hof, über dessen grauen Mauern die Blüte der Fruchtbäume mit schneeiger und rosiger Welle emporschlug. Jetzt stand er vor der festverschlossenen Pforte, wo er von dem Rücken seines Renners aus oft, oft den Glockenstrang gezogen, dessen schriller Ton ihm schon damals das junge Herz zusammengepreßt hatte.

Damals mußte er hier seine unbändigen Rüden zurücklassen. Jetzt ließ er andres hinter sich ...

Er läutete und ihm wurde geöffnet: Pater Paulus war heimgekehrt.

Als das schwere Tor krachend hinter ihm zuschlug, klang es wie das Echo seiner eigenen Stimme in ihm wider:

»Judith! Judith! Judith!«


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