Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Fünftes Kapitel

Die Brautfahrt auf dem Eisack

Es war eine wundersame Fahrt in der lauen Mainacht unter einem strahlenden Sternenhimmel. Bald glitt unser Floß langsam, langsam, bald in rasender Schnelligkeit den Eisack hinab. Oft geriet es in Wirbel, wurde um und um gedreht, oft schien es zu sinken, hob sich wieder – glitt weiter dahin.

Um ein Wunder wollten wir den Himmel, wollten die guten Heiligen um unsre Rettung bitten; und ein Wunder war an uns selbst geschehen. Denn wir dachten nicht mehr daran, daß unser Leben bedroht war; dachten nicht mehr an unsern frühen Tod und wie schön die Welt für uns hätte sein können. Inmitten aller Gefahr, von den schäumenden Gewässern umtost, umheult von dem Sausen und Brausen hoch in den Lüften, umgellt von den schreienden Glockentönen, dachten wir nur daran, daß wir uns lieb hatten, daß wir beisammen waren, daß wir mitsammen sterben sollten.

Denn wir glaubten an keine Rettung mehr für uns ...

Wir hielten uns eng umschlungen und erwarteten unsern Tod. Jeden Augenblick erwarteten wir, unser Eiland unter uns zerreißen zu fühlen; erwarteten jeden Augenblick, in die braunen, brüllenden Fluten zu versinken, und hielten uns fest, fest umschlungen.

Nicht mehr an mein blühendes Leben und frühes Sterben dachte ich; auch nicht an meine süße Mutter, sondern ich dachte nur immerfort an das Judithlein und daß ich mit diesem zusammen in den Tod gehen sollte.

Wir fürchteten uns also gar nicht mehr, waren ganz ruhig, fühlten uns glücklich. Die Mainacht, die unsre Todesnacht werden sollte, wurde immer leuchtender. Am Himmel kein Wölklein; nur das Sternenheer und die goldene Mondsichel. Sie stand über uns wie ein himmlisches Zeichen.

An Judiths Seite auf dem blühenden Weißdornzweig saß wieder die Amsel. Sie hatte den Kopf unter die Fittiche gesteckt und war eingeschlafen. Einmal ließ ich Judith los, trat vor bis an den Rand, bog die Weidenbüsche auseinander ... Ringsum nichts als wildes, wogendes Wasser, darüber im zarten Dunst das Gebirge. An den Ufern der vielen Höhen hatten die bedrohten Bewohner hohe Holzstöße aufgeschichtet und angezündet. Flammen stiegen empor, als Riesenfackeln leuchteten sie der Zerstörung. Und um die Feuer wachende, angstvoll harrende Menschen.

Sie hätten uns retten können!

Einige Male wurden wir ganz nahe an den Ufern und den Feuern vorübergetrieben. Aber das Weidengebüsch war zu dicht, als daß uns jemand hatte gewahren können. Ich schrie. Man vernahm mich jedoch nicht durch alle die wilden Stimmen des Stromes und Sturmes. Also trieben wir weiter und weiter durch die glanzvolle Mainacht, in der wir erfuhren, wie schön das Leben war, und die unsere letzte Nacht werden sollte auf Erden.

Aber so übermütig war ich in meiner letzten Lebensnacht, daß ich zum Judithlein, um sie in Versuchung zu führen, sagte:

»Von unserm Inselchen ist bereits so viel fortgerissen, die Weiden unter uns sind schon derartig locker und lose geworden, daß es uns unmöglich lange noch tragen kann. Einen von uns beiden trägt es vielleicht. Aber nur einen!«

Was antwortete mir darauf das Judithlein?

Kein Wort!

Es machte sich sogleich von mir frei, umschlang mich jedoch sofort wieder mit beiden Armen, verharrte so einen Augenblick regungslos und küßte mich dann auf den Mund. Dreimal küßte sie mich. Dreimal fühlte ich ihre weichen, warmen, zärtlichen Lippen fest auf die meinen gepreßt. Alsdann löste sie sich von mir, lachte mich mit Lippen und Augen an, und – wie ein Eidechslein glitt sie von mir fort zum Weidenrand, um ohne ein Wort durch die Büsche zu schlüpfen in die braunen, brüllenden Fluten hinein.

Weil die winzige, lockere Scholle nur noch einen von uns beiden tragen konnte, wollte sie von mir gehen; um mir die letzte Möglichkeit einer Rettung zu geben, wollte sie sich hinabwerfen in die Wirbel; verlassen wollte sie mich; sterben wollte sie ohne ein einziges Wort, ohne einen Seufzer – nachdem sie mich zärtlich geküßt hatte.

Pfeilschnell mußte ich zuspringen. Kaum konnte ich sie noch fassen und gewaltsam zurückhalten, so geschwind und behend hatte sie sich durch die Weiden gewunden.

Nun hielt ich sie aber fest, fest an meinem Herzen!

Darüber war die Amsel erwacht und tat einen hellen Ton.

Wie ein Jubellaut klang's.

Und darauf ereignete sich mit uns das zweite Wunder: wir wurden gerettet! Die Hilfe kam, als unser Schifflein so schwankend und unsicher geworden war, daß es uns nicht mehr lange getragen hätte. Schon sahen wir unter uns die Wasser schimmern; schon fühlten wir die Fluten unsre Füße umspülen. Nur noch nach Minuten hätte unser Leben gezählt.

Da barst das Eiland mitten auseinander ... Aber anstatt zu sinken, saßen wir auf dem Ufer fest. Grade in dem Augenblick, wo die Wasser uns hätten verschlingen müssen, wurden wir ans Land getrieben.

Die Amsel flog davon.

Auf so wundersame Weise errettet, hatten wir unser ganzes Leben vor uns gleich einer leuchtenden Frühlingsflur, auf der wir Hand in Hand wandeln konnten, Blütenduft um uns, über uns Lerchenjubel, umflutet von Sonnenschein.

Soeben noch den sicheren Tod vor Augen, vermochten wir uns nicht mehr vorzustellen, daß es einen solchen auf der Welt gab; auf einer Welt, darin zwei junge Menschenkinder einander lieb hatten und glücklich waren.

Bei aller Liebe und Glückseligkeit mußten wir jedoch zunächst wissen, an welchem Ort wir uns befanden und auf welche Weise wir am schnellsten nach Hause gelangten; hielten uns die Unsern doch sicher für verloren und umgekommen! Was ich bei dem blassen Schimmer der Sterne von der Gegend erkennen konnte, war mir vollkommen fremd. Auch die Berge, die ich in schwachen Umrissen sah, erschienen mir unbekannt. Nach meiner Berechnung waren wir eine weite Strecke fortgetrieben worden und mußten uns in der Umgegend der Stadt Trento befinden. Mein Bräutlein – denn das war Judithlein nun einmal – riet sehr verständig, an Ort und Stelle den Morgen abzuwarten, um alsdann weiter zu sehen. Übrigens gestanden wir beide, daß wir starken Hunger verspürten. Der meine war grade von grimmiger Art, wäre jedoch vollkommen zu stillen gewesen, hätte mich mein Bräutlein wieder auf den Mund geküßt. Aber ich durfte nur nehmen, was mir geboten ward; und das Judithlein reichte mir ihre süßen Lippen nicht ein zweites Mal: ging sie doch nicht mehr in den Tod für mich, sondern sollte für mich leben. Und zwar für mich allein!

Ich hatte bei ihren Küssen gezittert wie ein blöder Knabe. Zugleich war mir gewesen, als wäre in diesem einzigen Augenblick aus dem dummen Jungen plötzlich wie durch Zauber ein Jüngling geworden. Einem geistlichen Herrn möchte ich die Frage vorlegen, ob dies Judiths Küsse oder der Himmel bewirkt hat? Mich deucht, dieser müßte an solchem Wunder seine ganz besondere himmlische Freude haben ...

Die Stelle, wo unser grünender und blühender Nachen gestrandet war, befand sich hoch über dem wirklichen Ufer, bei einer jähen Felsenwand, die wie eine Klippe aus den Strudeln emporragte. Mit großen Mühseligkeiten klimmten wir bei dem unsicheren Licht hinauf und standen nun auf dem Riff wie schwebend über den Wassern, die unter uns wogten und wallten, uns jedoch nicht mehr hinabziehen konnten.

Wir befanden uns auf einem schmalen Vorsprung des Porphyrfelsens. Unmittelbar hinter uns stieg die Wand steil auf, so daß wir wie ein junges Königspaar auf einen Thron gehoben waren. Auf dem engen Raum erwarteten wir den Tagesanbruch.

Mir war das Aufdämmern des Morgens etwas Gewohntes und Alltägliches. Aber an diesem Morgen war es, als hätte ich noch niemals in meinem Leben gesehen, wie die Schatten wichen und das Dunkel sich hellte. Die Sterne erblaßten, der Morgenwind wehte auf. Kaum überzog den Himmel der erste Tagesschein, als die Vögel ihren Morgengesang anhoben: Finken und Grasmücken, Meisen und Drosseln. Wir nannten leise die Namen der kleinen Sänger, deren Lied heller tönte als das Rauschen der Wellen in der Tiefe. Dann schauten wir schweigend zu, wie der Tag auferstand aus der grabesdunklen Nacht. Es war wie ein Mysterium.

Jetzt wurde der Himmel von blaßroten und mattgelben Wölklein überzogen. Alle Dinge nahmen Gestalt und Farbe an. Wir sahen jetzt, daß der Fluß weit über sein Bett getreten war und das ganze Tal überflutet hatte. Dieses glich einem Alpsee. Auf der lehmigen Flut trieben entwurzelte Bäume, trieben fortgeschwemmte Balken, Reste von zerstörten Häusern und vielerlei andres Trümmerwerk. Ein Anblick zum Weinen war es, so daß wir nicht mehr an uns, an unser Leben und Glück dachten, sondern an die zerstörten Arbeiten und Hoffnungen fleißiger Menschen.

Dann erglühten die höchsten Gipfel im Morgenrot, daß das Gestein Zungen bekam und von Gottes Herrlichkeit zeugte. Zugleich von seiner ewigen Güte, welche die Sonne als himmlische Spenderin alles Lebens, Blühens und Gedeihens jeden Tag von neuem aufgehen ließ. Als heute ihr erster Glanz auf unsre emporgehobenen jungen Angesichter fiel, zog ich von meinem Finger einen Ring mit einem kleinen Rubin, den mir meine liebe Mutter geschenkt hatte. Ich nahm das Ringlein, faßte Judiths rechte Hand und steckte ihr den schmalen Goldreif an. Wir sprachen nichts, schauten uns nur an: tief, tief einander in die Augen.

Wohl war es kindliches Spiel und doch heiliger Ernst. Judith machte ein Gesicht, als stünde sie mit mir in einem Gotteshaus vor dem Altar und ein Priester segnete uns. So war es auch: die himmlische Sonne selbst segnete unsern kindischen Bund.

Ich hatte recht gehabt: bis in die Gegend von Trient waren wir davongeführt worden. Das entfesselte Element hatte die Straßen zerstört, und als wir nach mancher Beschwerde den nächsten Ort erreichten und daselbst nach einem Fuhrwerk fragten, vernahmen wir, daß die Wege bis über Bozen hinauf nicht zu befahren wären. Das war schlechte Kunde. Anstatt schnell zu den angstvollen Unsern zurückzugelangen, mußten wir zu Fuß nach Hause wandern, mußten unsre Leute über unser Geschick in Ungewißheit lassen. Denn vor dem nächsten Tag konnten wir unmöglich daheim eintreffen, wenn wir auch noch so rasch vordrangen. Wie gewöhnlich hatte ich nicht einen roten Heller bei mir; aber das Judithlein war hausfraulich mit einigem Gelde versehen, so daß sie ihren Herrn Bräutigam zu Gaste laden konnte, meine Bewirtung im »Elefanten« in Brixen mir reichlich zurückgebend. Ich ließ mir das Traktament gerne gefallen. So lange im Lande Tirol die Berge stehen, hat darin keinem siebzehnjährigen Tiroler ein Eierkuchen so köstlich gemundet als an jenem heiligen Maienmorgen einem gewissen Junker Rochus, Grafen von Enna. Übrigens langte auch die Spenderin des goldigglänzenden Gerichtes tapfer zu. Es war nämlich ein Riesengebäck, welches uns in einer knospenden Geißblattlaube aufgetischt ward und welches ich selbst bei meinem Heißhunger unmöglich allein hätte vertilgen können. Der fette Kuchen war unser Brautmahl, und der blutrote Trientiner, den wir dazu schlürften, unser Brauttrank. O du dreifach gesegneter Maienmorgen! Da die Leute im Gasthof in uns sogleich die Fremden erkannten und sie sich höchlichst verwunderten, wie wir junges Blut miteinander während der Wassersgefahr bei den zerstörten Straßen nach dem Dorfe gelangt waren, so berichtete ich unser Abenteuer: woher wir kamen und auf welche Weise wir die Fahrt stromabwärts gemacht hatten. Nun gab es ein Fragen, Staunen, Ausrufen; ein Beschwören aller Heiligen und eine Ekstase über das Mirakel, welches der Himmel an uns Kindern getan hatte. Mehr und mehr Menschen versammelten sich, um das Märchen von den zwei aus Todesnöten wundersam Erretteten zu vernehmen und diese sich anzuschauen. Sie taten es beinahe andächtig mit gefalteten Händen, als seien wir wundertätige Heiligenbilder. Mit unsern eigenen Ohren mußten wir anhören, was für junge, gebenedeite Menschen wir wären, und wurde über die Holdseligkeit meines Bräutleins ein wahres Geschrei erhoben. Schließlich lief das ganze Dorf zusammen. Auch der geistliche Herr kam und hielt unter Gottes freiem Himmel seiner lieben christlichen Gemeinde eine überaus rührsame Predigt, deren lebendigen Text wir beide bildeten. Judith, die wieder ganz stumm und sehr bleich geworden war, mahnte jedoch zum Aufbruch. Die guten Dorfleute wollten uns kaum fortlassen, als ob unsre Gegenwart für sie Schirm und Schutz wäre vor der Wassersgefahr, die noch immer nicht völlig überstanden war. Als wir uns dann fast gewaltsam losmachten, gaben sie uns eine weite Strecke das Geleit, daß es war, als zögen wir in einer langen Prozession, bei der wir das Hochehrwürdige waren. Wir wurden ja auch vom heiligen Geist erfüllt, welcher die göttliche Liebe ist...

Nun wanderten wir mitsammen durch den glanzvollen Tag. Häufig mußten wir Umwege machen, steile Lehnen emporklettern und in weitem Bogen die Zerstörung umgehen. Nur wenn wir sehr müde waren, ruhten wir, und wählten alsdann einen möglichst schönen und einsamen Platz. Noch einmal hielten wir eine Mahlzeit; hüteten uns jedoch, den Leuten von uns zu erzählen; ließen uns lieber verwundert anstarren. Ich bemerkte wohl, wie Judiths Schönheit überall Staunen erregte und wie man ihr nachschaute.

Da die Nacht wiederum überaus lieblich war und der zunehmende Mond noch heller schien als in der gestrigen Schreckensnacht, beschlossen wir, unsre Wanderung auch nachts fortzusetzen. Wenn wir ermatteten, brauchten wir nur der Angst der Unsrigen zu gedenken, um uns von neuem gekräftigt zu fühlen. Hinter Bozen, welches wir bei anbrechendem Dunkel durchschritten, wurde die Straße besser, so daß wir uns mit dem letzten Rest der kleinen Barschaft Judiths einen Wagen nehmen konnten. Er brachte uns bis in die Nähe von Waidbruck, woselbst die Verwüstung wieder begann. Doch gelangten wir glücklich zu Fuß weiter, durch die Fahrt vollkommen ausgeruht und durch die Nähe der Heimat in die freudigste Stimmung versetzt. Kaum konnten wir erwarten, wieder zu Hause zu sein.

Grade bei Sonnenaufgang erreichten wir am Eisack jene Stelle, wo noch gestern mitten im Flußbett das kleine Weideneiland lag. Wir standen und schauten hinüber. Jetzt war alles von dem gelben gurgelnden Gewässer weit überflutet.

Da sprach Judith: »Es ist doch besser, daß wir hier zusammenstehen, als wenn du jetzt allein nach Hause kämst und ich da unten läge, obgleich ich gern in den Fluß gegangen wäre, um dich in der schönen Sonne zu lassen. Ich sage dir das nur, damit du weißt und immer wissen sollst, wie mein Leben dir gehört, so fest, wie ich deinen Ring an meinem Finger trage. Der ist mir angeschmiedet, daß ihn nichts von mir losbringen kann.«

Diese Worte sprach sie mit solchem tiefen Ernst, als ob sie mir damit ihr Leben verschriebe. Wie ich sie so vor mir sah in ihrer Jugendschönheit und Kinderunschuld, faßte mich das Glück wie ein Sturmwind. Ich wurde wieder einmal übermütig, so recht der wilde Junker. Dabei fühlte ich mich so stolz, als wäre ich ein großer Held, der die herrlichsten Taten vollbracht hatte und mit dem köstlichsten Beutestück heimkehrte.

Frohlockend rief ich: »Willst du auch jetzt noch einstmals, wenn aus dem törichten Judithlein eine weise Judith geworden ist, deinen schönen Platterhof für abscheuliches Geld fremden Leuten verkaufen und davongehen aus deinem grünen Vahrn, dorthin, wo die Welt am wüstesten ist? Aber verkaufe nur! Gehe nur fort, weit fort! Ich laufe dir nicht nach, ich sicher nicht!«

Da neigte das Kind das Köpflein, schaute mich innig an und sagte in süßer Einfalt: »Ich bleibe, wo du bleibst; gehe hin, wo du hingehst, und nichts soll mich von dir scheiden.«

Dicht neben uns blühte ein wilder Apfelbaum. Ich trat hin, brach einen schlanken Zweig, band selbigen mit Riedgras zusammen und drückte den rosigen Blütenkranz meinem Bräutlein in ihr goldiges Haar ...

Bei leuchtendem Morgensonnenschein hielten wir dann in Enna unsern Einzug, und zwar unter feierlichem Geläute der Glocken des Dorfkirchleins. Auch die Glocke der Schloßkapelle wurde geläutet.

Wir konnten uns die Ursache der frommen Klänge nicht erklären. Denn es war weder ein Sonntag, noch sonst irgendein Festtag. Daß man einen Dankgottesdienst wegen glücklich überstandener Wassersgefahr abhielt, konnten wir uns nicht vorstellen; wußten sie doch noch nichts von unsrer wunderbaren Rettung, sondern mußten uns vielmehr für verloren halten. Unwillkürlich faßte ich Judith bei der Hand, an welcher mein goldener Reif glänzte. Hand in Hand gingen wir weiter, kamen in die Dorfstraße, wo zuerst keine Menschenseele zu sehen war, bis wir einige Kinder erblickten. Sie standen und starrten uns an, als wären wir nicht Fleisch und Blut, sondern Gespenster. Dann liefen sie davon, der Kirche zu. Und wir hörten sie etwas rufen, was wir jedoch nicht verstanden.

Alsbald sahen wir aus dem Gotteshaus Leute eilen. Unter heftigen Gebärden deuteten sie auf uns, und einige kamen uns entgegen. Diese riefen laut: »Junker Rochus und die junge Plätterin! Also seid ihr nicht tot? Nicht umgekommen in den Eisackfluten, wie man gesehen haben will und wie alle glauben? Euren Tod glauben ja auch die gnädigen Eltern des Junkers. Seht doch nur, seht – sie sind am Leben geblieben!«

Und alle schrien: »Sie sind am Leben geblieben! Seht doch nur! Am Leben sind sie geblieben!«

Ich rief voller Entsetzen:

»Also auch meine Eltern glauben an unsern Tod?«

Ich sprach es noch, als ich sie kommen sah. Sie kamen aus der Kirche. Meine süße Mutter war in tiefe Trauer gekleidet. Auch die Frau Leitnerin vom Platterhof war dabei; und auch sie ganz in Schwarz. Da begriffen wir denn, daß man für uns Lebende in der Dorfkirche das Totenamt hielt, und daß meine Eltern diese Trauerfeier gemeinsam mit der treuen Gemeinde begingen. Jetzt gewahrte ich, wie sämtliche Frauen des Dorfes, ebenso das weibliche Gesinde vom Schloß und vom Platterhof schwarz gekleidet waren.

Als meine süße Mutter erkannte, daß ihr tot geglaubter Sohn Rochus als Fleisch und Blut vor ihr stand, sank sie ohne einen Laut nieder und lag wie leblos. Mein gestrenger Herr Vater war blaß wie ein Leichnam und hing mit ersticktem Schluchzen seinem großen Jungen am Halse. Als die Leute den gestrengen Grafen um seinen wiedergefundenen Sohn weinen sahen, weinten alle mit, so daß auch mir die hellen Tränen über die Wangen liefen. Und nicht einmal, daß ich mich meines weibischen Heulens geschämt hätte.

Inzwischen war Judith bei meiner lieben Mutter hingekniet, hielt ihr Haupt in dem Schoß und sagte fort und fort mit leiser Stimme nur das eine:

»Er lebt ja doch! Er lebt ja doch! Sieh, liebe Mutter, dein Sohn lebt ja doch!« Nun war auch unser guter alter Kaplan herbeigekommen in dem Gewande, in dem er für uns das heilige Amt zelebrierte. Als meine süße Mutter ihr Bewußtsein wiedererlangt, und als sie über uns beide viele Tränen vergossen hatte, mußten wir berichten und immer von neuem berichten.

Die Glocken wurden nicht mehr geläutet, denn auch die Knaben, welche die Seile gezogen, waren herbeigeeilt. Der Kaplan schickte sie zurück, um wieder zu läuten. Unter den tönenden Glocken setzte sich alsbald der Zug in Bewegung: voraus der geistliche Herr. Darauf zwischen meinen lieben Eltern Judith und ich, wiederum Hand in Hand. Hinter uns beiden zog die Frau Bürgermeisterin vom Platterhof, zog das Gesinde und sonst alles, was Beine hatte.

In die Kirche zogen wir. Hand in Hand stand ich mit Judith und den Eltern vor dem Altar, und Kaplan Plohner hielt anstatt eines Totenamts einen Dankgottesdienst.

Mein holdseliges Bräutlein trug immer noch ihren Kranz aus Apfelblüten. Diese sollen sich einstmals in blühende Myrten verwandeln.


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