Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Sechstes Kapitel

Junker Rochus von Schloß Enna und das Judithlein vom Platterhof haben einander lieb

Noch an dem nämlichen Tage gewahrte meine Mutter an Judiths Hand den schmalen Goldreif mit dem Rubin, den sie ihrem Lieblingssohne geschenkt hatte. Sie sagte nichts darüber. Ich merkte jedoch wohl, wie sie beständig aus großen, angstvollen Augen auf uns zwei Kinder schaute, die mit solchen heiligen Dingen ein Spiel trieben – wie sie gewiß meinte. Sie war von dem Ereignis im tiefsten erschüttert; hielt unsere Errettung für ein schönes Wunder, welches der Himmel auf die Fürbitte der heiligen Barbara getan hatte; empfing ihren lieben Sohn, den wilden Junker Rochus, so recht zum zweitenmal aus den Händen des Herrn, daß ihr ganzes Wesen Verzückung und Seligkeit war.

Vielleicht dachte meine Mutter: ›Was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht scheiden‹ – wenn er auch ein Graf von Enna und sie eine Platterin ist.

Aber wenn der Junker Graf das Judithlein vom Platterhofe zum Weibe nahm, ging er ja nicht nach Rom; und wenn er nicht nach Rom ging, wurde er auch nicht geistlich ...

Ich wußte nicht, wie meine fromme Mutter mit all diesem in sich zurecht kam, dachte darüber auch nicht viel nach.

An dem Abend des großen Tages saßen wir alle in der Halle, wo auch genachtmahlt ward. Da es unter den hohen Wölbungen noch nicht frühlingswarm war, brannte im Kamin ein trauliches Feuer. An diesem Kamin, der so hoch war, daß man darin einen jungen Ochsen am Spieße hätte braten können, hatte bereits der große Kaiser Maximilian gesessen, als er auf seinen Gemsjagden ins Brixener Tal gekommen war. Im Saale droben wurde noch der Lehnsessel gehalten – er war mit rotem, längst verschlissenem Samt überzogen –, darin Österreichs lieber hoher Herr bei dem Grafen von Enna gerastet hatte. Heute hatten wir zwei Gerettete den Ehrenplatz, nahe bei den Flammen, deren zuckender Glanz auf die Gemälde an den Wänden fiel, welche lauter glorreiche Taten des Hauses Enna darstellten, deren Erinnerung sie für die Söhne und Enkel dieses edlen Geschlechtes aufbewahrten. Doch eine Brautfahrt, wie der Junker Rochus sie angestellt hatte, war darunter keine vorhanden.

Meine liebe Mutter ließ auftragen, was in Küche und Vorratskammer an Gutem vorhanden war, und mein gestrenger Herr Vater tat auf eigenen gnädigen Füßen einen Gang in den Keller, um einen Trunk heraufzuholen, der – nicht gar zu säuerlich und des Hauses edelster Wein war. Aber wie der Frau Wirtin fetter goldiger Eierkuchen am gestrigen Morgen, schmeckten meiner Mutter geräucherte Lachsforellen und das am Spieße gebratene Lamm doch nicht, von dem Trunke gänzlich abgesehen: solchen Eierkuchen und solchen Wein ißt und trinkt der Mensch eben nur einmal im Leben. Glücklich, wer dieses eine, einzige Mal so königlich zu tafeln vermag.

Nach dem Mahle durfte das Gesinde in die Halle kommen. Die Männer erhielten Wein und Tabak, wie der Herr Graf ihn rauchte; die Frauen und Dirnen bekamen zu ihrem Trunk süßes Gebäck, von dem die Frau Gräfin jeden Ersten eines Monats buk und sorgsam aufbewahrte für den Fall, daß auf Schloß Enna eines schönen Tages unerwartet Gäste ankommen sollten. Aber der gute Kuchen ward in den letzten Tagen eines jeden Monats altbacken von Junker Rochus verzehrt: auf Schloß Enna kehrten keine Gäste ein, weder erwartete noch unerwartete; denn das Judithlein war kein Gast. Aber der Kuchen wurde trotzdem regelmäßig an jedem Ersten von meiner Mutter eigenhändig angerührt und gebacken.

Das muß ich großer kindischer Junge doch auch noch berichten: wie ausgezeichnet ein gewisser Junker Rochus in der Nacht, die jenem Tage folgte, auf seinem harten Bette in seinem hohen Turmgelasse schlief. Ihm träumte nicht einmal von einem holdseligen jungen Fräulein, welches einen schmalen Goldreif am Finger trug.

Nächsten Tags merkte ich sogleich, daß meine Mutter mit meinem Vater über die Sache gesprochen – nämlich über die Ringgeschichte – und daß sie ihn gebeten hatte, sie als kindisches Spiel zu betrachten. Also schwieg mein gestrenger Herr Vater dazu, was mir recht sein konnte, nicht etwa aus feiger Furcht, sondern vielmehr aus einer Art von Scheu, an etwas Geweihtes rühren zu lassen.

Schon vormittags wollte Judith in Begleitung der Frau Leitnerin auf ihren Platterhof und zu ihrer Menagerie zurückkehren. In früheren Zeiten hätten meine Eltern sie nicht fortgelassen, hätten sie zum mindesten gehörig geplagt, noch ein paar Tage zu bleiben; heute nötigte und bat man sie nicht. Ich merkte es wohl, aber es tat mir weiter nichts. Das kam wohl daher, weil das Glück ein siebzehnjähriges Herz übermächtig macht, und weil junge Liebe so voll Glanzes ist, daß sie selbst durch graues Gewölk strahlt. Auch Judith tat das freundlich-ruhige Dahinziehenlassen nicht sonderlich weh. Schon damals dachte ich in meinem unverständigen Sinn: ›Das müssen ganz andre und gar gewaltige Dinge sein, die mein Bräutlein beirren könnten.‹ So gut kannte ich diese stolze und starke Seele schon damals.

(Diesen letzteren Satz habe ich dem oben aufgezeichneten nach vielen Jahren zugefügt, als ich Kenntnis davon hatte, welche Macht erforderlich war, um dieses Frauengemüt von einer Seele, der es sich ganz zu eigen gegeben hatte, zu lockern und zu lösen.)

Die Wonnen der Maienzeit währten im Juni fort und dauerten den ganzen Sommer durch. Judith befand sich auf dem Platterhof und ich auf Schloß Enna. Es verging jedoch kein Tag, an welchem Schloß Enna nicht in Person seines Junkers auf dem Platterhofe erschienen wäre, wo diesen Sommer die Blumen blühten, die Kastanien Schatten gaben, die Früchte reiften, die Vögel sangen und die Welt schön war, wie noch in keinem andern Jahr in gesegneter Sommerszeit. So oft ich meinen Falben bestieg, um dem grünen, grünen Bahrn zuzutraben, schaute mein Mütterlein aus großen, angstvollen Augen auf mich, als unternähme ich einen Ritt, der mich um die ewige Seligkeit bringen konnte – in die hinein der Falbe mich allerdings geradewegs trug! – und mein Herr Vater schickte sich jedesmal an, mir eine herbe Rede zu halten. Doch ein erschreckter, flehender Blick meiner Mutter ließ ihn bereits bei den ersten Worten verstummen. Meine Mutter war nämlich nicht imstande, mit Worten zu bitten, sondern nur mit den Augen. Eine stumme Sprache war es, der so leicht niemand widerstand. Nur ihr eigener jüngster und liebster Sohn tat es um des Judithleins willen.

Daß ich den angstvoll flehenden Augen meiner Mutter Tag für Tag Widerstand leistete und Tag für Tag nach dem Platterhof hinüberritt, vermochte über mich nur eine Gewalt, die der Zauberei gleichkam: ich gehörte eben mit Leib und Seele zu der Judith-Menagerie – ich mochte wollen oder nicht. Was vermag auch solch Bürschlein wider eine leibhaftige Hexe? Und gar, wenn sie solch goldiges Haar, solch schwarze Augen und rote Lippen hat!

So war ich denn auf dem wunderschönen Platterhof mehr als auf meinem geliebten Schloß Enna. Auch gab es hier für mich wenig zu tun. Um die paar Acker, die wir mit Mais und Buchweizen bepflanzten, und um das Stücklein Weinfeld an der Sonnenlehne jenseits vom Eisack sorgte der alte Florian das eine Jahr genau ebenso recht und schlecht wie das andre. Und er sorgte für das Gemüse im Schloßgarten, wo die Blumen gemeinsam mit dem Unkraut ein gedeihliches Dasein fühlten. Ich hätte es anders auch gar nicht haben wollen, als diese bunte Wildnis rings um unser ehrwürdiges Gemäuer. Nur wenn Judith bei uns war, sah ich außer all den andern Schäden in dem allgemeinen Verfall unsres Stammsitzes auch die blühende Wüstenei, die wir den Schloßgarten zu nennen beliebten und inmitten deren Junker Rochus für die liebe Schloßfrau eine Laube gebaut hatte. Sie war im Frühling blau von rankenden Glyzinien, im Sommer rot von Schlingrosen, während im Herbst die Kastanien mit ihrem goldgelben Blätterdach einen Baldachin darüber webten.

Judith hatte es in diesem Sommer unter Beistand der Frau Bürgermeisterin überaus eifrig mit Gärtnern und Haushalten. Es war nicht anders, als wollte sie sich – so bildete ich mir ein – für die große Arbeit, die sie einstmals als junge Gräfin von Enna haben würde, gehörig vorbereiten. Dabei verbrachte sie jeden Tag viele Stunden bei den guten Schwestern, die unterhalb der Vahrner Kirche in einem alten hochgiebeligen Edelsitz hausten und die der kleinen Herrin vom Platterhof Unterricht in allen häuslichen Künsten erteilten. Das hatte ich jedoch längst heraus, daß Sticken und Nähen die schwache Seite meines Bräutleins war. Besser ging es mit dem Spinnen. Auch das Weberschifflein warf Judith geschickt hin und her; und im letzten Winter hatte sie gar mit einem Damastgedeck begonnen, dessen Muster sie selbst erdachte. Es bestand aus prächtigem Gerank großblättrigen Efeus mit dem perlenden Schmuck seiner Früchte.

Was ihr sonstiges Wissen anbetrifft, so mag es hier gestanden sein, daß meine Liebste weder das Französische noch das Englische spricht, weder sonderlich gern Bücher liest, noch mit Schreibereien sich plagt. Dafür kennt sie um so besser alles, was ein Tiroler Landwirt, Weinbauer und Almenherr kennen muß. Ihre Frau Tante, die gute Frau Leitnerin, sowie ein gewisser Junker Rochus kommen überhaupt nicht aus dem Staunen heraus, welche Gottesgabe das Kind besitzt, zu wirtschaften, zu ordnen und in seinem kleinen Kreise zu herrschen. Dabei vollbringt sie alles in solcher gelassenen, leisen Art, daß man die Dinge erst merkt, wenn sie bereits getan sind. Und immer so getan, wie es besser nicht hätte sein können.

In diesem Sommer läßt Judith, wie schon gesagt, ein großes Stück Feld in besonders geschützter und warmer Lage für eine Anpflanzung von jungen Marillenbäumen herrichten, mit welcher im Herbst begonnen werden soll. Sie denkt sogar schon an die Bozener Händler, denen sie die süßen Früchte zu hohen Preisen überlassen will. Von dem jährlichen Ertrag der Obsternte soll ein großes, wüstes Steinfeld in einen fruchttragenden Acker umgeschaffen werden. Auf Felsengrund Weizen säen und ernten – das ist so recht eine Judith-Arbeit!

Um meinen guten Eltern zu allen ihren Sorgen um ihren Junker einen kleinen Teil Freude zu schenken, besuchte ich während des ganzen Sommers nicht nur den Platterhof, sondern auch die ehrwürdigen Väter in Kloster Neustift. Unser Kaplan Plohner ist nämlich mit der Zeit doch etwas sehr alt und mühselig geworden und sein Schüler sehr lebhaft und ungestüm, so daß ich schon in den letzten Jahren bisweilen zu Neustift ein Scholar gewesen. Allerdings erwies ich mich als ein recht lässiger Jünger der gestrengen Göttin der Gelehrsamkeit. In diesen leuchtenden Sommertagen, in denen sich so viele wundersame Dinge zutrugen, ging der faule Junker in sich und verkündete aus freiem Antrieb im Kloster und im Schloß seinen Entschluß, in Zukunft ein besserer und beständigerer Klostergänger zu werden. Darüber entstand in meinem Elternhause solche Freude, Rührung und Dankbarkeit gegen mich, daß ich mich schämte, was sich als eine überaus widerwärtige Empfindung erwies.

Jetzt behagte mir das Kloster Neustift gar sehr. Es hat etwas so Herrschaftliches, so Herrschendes. Ein echter Herrensitz ist es! Obgleich es im Tale liegt, thront es gleichsam auf einer stolzen geistigen Höhe, von der aus es sich viele Tiefen untertan macht. Es ist reich an Waldungen und Weinbergen, an Feldern und Weideland hoch auf den Alpen, und seine Gemeinde besteht aus einer Genossenschaft von Vasallen. Der Prälat ist ein Fürst, und die ehrwürdigen Patres sind eines Fürsten Minister und Räte.

Alles in diesem Gotteshause ist weit, groß und prächtig. Die Kirche glänzt von Gold, und im Stift befinden sich Säle eines Königs würdig. Die Klosterküche ist ein Raum, so recht zum Backen und Braten geschaffen. Und erst der Klostergarten! Der Garten von Neustift bei Brixen ist eine wahre Herrlichkeit.

Das Kloster hat viele Schüler, und alle sind angehende Mönchlein – sind werdende Herrscher und Herren. Vielleicht befindet sich unter den Schülern einer, der einstmals Kardinal wird. Oder gar – Papst! Es kann ein Bauernsohn sein, von den Armen der Ärmste. Das eben ist das Große an unsrer Kirche! Das Gewaltige und Herrliche ist es ... Von den Schülern des Klosters Neustift bin ich der einzige, der einstmals ein Weib freien wird.

Stolz komme ich am frühen Morgen auf meinem Falben angeritten; hoch trage ich mein junges Haupt. Mit kraftvoll tönender Stimme überweise ich dem dienenden Bruder mein Rößlein zur Fürsorge; festen, fröhlichen Schrittes begebe ich mich in den Saal zu den Lektionen. Auch die andern Schüler sind jung; auch unter ihnen gibt es Herrensöhne. Aber sie schreiten nicht, sondern sie schleichen; sie reden nicht, sondern sie flüstern; sie heben nicht das Haupt, sondern sie senken es.

Bereits jetzt haben sie blasse Gesichter und welke Züge; bereits jetzt machen sie in sich gekehrte Mienen, gebrauchen sie demütige Worte, wo sie doch noch so jung sind und wo doch Jugendkraft zugleich blühendes, jauchzendes Leben ist. Und zu denken, ich sollte einer von ihnen werden: ich, der Rochus!

Aber es bleibt verwunderlich, daß aus Demut solche Macht erwächst, daß Männer mit tief gesenkten Häuptern solche gebietenden Geister haben und daß eine Gemeinde von armseligen Gottesknechten die halbe Welt regiert und sogar viele Regierende dieser Erde.

Jeden Tag spreche ich in meiner Jugendkraft, meinem Daseinsrausch und meiner Zukunftsseligkeit dem Pharisäer in der Heiligen Schrift nach: »Gott, ich danke dir, daß ich der Junker Rochus bin und bleibe und kein Priester werde!« Und jeden Tag muß ich mehr staunen und auch eingestehen: »Es ist doch wundersam, ist doch allein schon ein Mysterium, ein großes, göttliches, daß die Krippe von Bethlehem zu solchem Herrscherthron wurde.«

Ich merke gar wohl, daß die geistlichen Herren überaus weise gegen mich verfahren oder doch zu verfahren glauben. Aber zugleich merke ich den Grund ihrer Weisheit. Gar eifrig lassen sie mich Kirchengeschichte betreiben, die zugleich Weltgeschichte ist. Auch Kulturgeschichte – im höchsten Sinne genommen. Jedes Wort zeugt von der Kirche Macht und Herrlichkeit; jedes Wort strahlt Sieg und Ruhm aus, erglänzt gleichsam in himmlischer Glorie, errichtet Reiche und gründet den Thron eines Königs der Könige ... Sind die Lektionen im Kloster vorüber, so geht es sogleich hinaus. Ich stürme zu der Stallung, die prachtvoll ist, wie alles im Hause der Heiligen. Mein Falbe wiehert mir freudig entgegen; ich steige auf und – es geht davon.

Schon im Hofe vernehme ich lautes Geheul. Meine Rüden sind es. Sie begleiten mich und mein Roß, müssen jedoch vor dem Klostertor ausgesperrt bleiben. Nun vollführen sie vor der heiligen Schwelle einen wahren Höllenlärm.

Der Bruder Pförtner macht mir auf. Er ist wegen meiner zottigen Ungeheuer in Todesangst, und kaum daß er sich beim Öffnen davor retten kann, von ihnen niedergerissen zu werden. Er hebt seine Kutte und springt behende zur Seite. An dem Mönchlein vorüber stürzen meine Hunde in den Hof, springen an dem Falben in die Höhe und das alles mit einem Getöse, daß der Klosterfrieden gründlichst gestört wird.

Das Tor ist offen, im Galopp sprenge ich hinaus. Mein Roß wiehert, meine Hunde kläffen – ich möchte einen Jubelschrei tun. Entronnen bin ich dem Klosterbann! ... Keine zehn Minuten dauert es und ich trabe unter den Kastanien des Platterhofes dahin. Das ist auch ein heiliger Ort, vom Himmel geschaffen zur Andacht und Anbetung. Sogar ein Gnadenbild hat er in seiner unergründlichen Güte hineingesetzt, und hat zu dessen Wächter den wilden Junker Rochus von Enna bestellt. Der wird seines Amtes walten.

Es ist immer das gleiche: jeden Tag das nämliche, unbegreifliche, überschwengliche Glück zusammen mit dem Judithlein, welches sich so ernsthaft und ehrbar als eine Judith gebärdet. Bisweilen wird mir dabei ganz angst, und ich sage mir vor: »Sie ist ja doch erst fünfzehn Jahre; ist ja noch das reine Kind!« Denn das ist sie, trotzdem an ihrer Hand mein Goldreif glänzt, von dem sie sagte, er wäre ihr wie angeschmiedet worden...

Immer das gleiche Glück umfängt mich, sobald ich auf dem Platterhofe einkehre, wo für mich immer die Sonne scheint, ist der Himmel auch noch so grau und bläst aus dem Schalderertal der Wind auch noch so bösartig. Judith empfängt mich in ihrer gelassenen Art, wie der Mensch etwas in Empfang nimmt, was ihm gehört. Ihre Menagerie ist vollzählig bei ihr. Meine Rüden begrüßen sie stürmisch, mein Falbe wendet ihr seinen schlanken Hals zu und ist erst zufrieden, wenn ihre Hand ihn geliebkost hat. Wir durchschweifen gemeinsam den Kastanienwald, die Maisfelder, das Weinland, Garten und Haus; ich großer Junge sage ein dummes Wort, meine kleine Judith ein weises. Warum hat sie auch solch rote Lippen, die ich immer ansehen muß, mir vorstellend –

Aber so bald geschieht das nicht wieder: das Küssen nämlich. Es müßte denn sein, wir gerieten noch einmal miteinander in Lebensgefahr. Vielleicht, daß sie dann noch einmal –

Aber keines von uns beiden will den Tod, sondern wir wollen das Leben. Und wir wollen all den Sonnenschein, der den Platterhof tagtäglich überflutet. Ich will den Himmelsglanz um ihr Haupt sammeln, daß dieses geliebte Haupt lebenslang in einer wahren Glorie erglänzt, fast wie der Strahlenkranz um den Scheitel meiner Schutzpatronin, der heiligen Barbara.

Zum Platterhof gehören Alpenweiden. Sie sind weit und breit die am höchsten und am herrlichsten gelegenen. Selbst Kloster Neustift besitzt keine solch saftigen Almen und keinen besser genährten, prächtigen Viehbestand. Wer droben steht, schaut tief in die Felsenpracht der Dolomiten hinein. Das ist eine wüste, wilde Welt! Zugleich aber ist sie hehr und erhaben. Es gehört ein festes Herz dazu, um unter ihren Steinmassen und Felsendomen zu Hausen.

Im Hochsommer zieht Judith mit der Frau Bürgermeister und etlichen Mägden auf die Alp, woselbst die Herren des Platterhofs von alters her ein stattliches Balkenhaus zum Übersommern haben. Der Alphof steht seit drei Jahrhunderten – seit drei Jahrhunderten Hausen die Platter des Sommers dort oben in der Wildnis. Der Hof liegt mitten auf einer freien, weiten Flur, hoch über dem dunklen Tannenwald, vor dem Eingange einer tiefen Schlucht, durch die ein weißer Gletscherbach niederrauscht. Des Hauses Holzwerk ist von dem dreihundertjährigen Sonnenbrand schier schwarz gefärbt, und im August liegt es da gleich einem mächtigen Kohlenmeiler inmitten eines goldgelben Gefildes von Arnikablumen, denen die rosigen Bergnelken folgen und diesen wiederum als letzte Blüte des Sommers die violetten Genzianen, so daß dort droben ein wahres Gartenland ist.

Ich habe jetzt einen weiten und mühseligen Weg aus dem Tale zur Höhe hinauf. Mit dem Traben ist es vorbei; steigen muß mein Falbe, klettern wie eine Geiß. Die Rüden haben es am besten. Das letzte Stück laufen sie weit voraus und melden uns an, so daß wir stets von allen erwartet eintreffen. Ich sage: von allen. Denn auch die Menagerie ist mit hinaufgezogen. Mehr als je gleicht Judith, wenn sie mit ihrem Tiergefolge durch die Blüten der Bergwiesen schreitet, einer Zauberin, einer Tochter der Circe, welche die Gefährten des edlen Dulders Odysseus so schändlich verwandelt hat.

Die Dolomiten schauen den Bewohnern des Alphofes gerade in die Fenster hinein. Judith mag das wüste Klippengewirr nicht leiden. Ja – könnte sie die Dolomiten in Wiesen und Weizenfelder umwandeln, auf dem Schlern Kartoffeln und Gemüse anbauen und die Felsenpyramiden im Rosengarten des Königs Laurin als Spalier verwenden, um daran Edelobst zu ziehen...

Jetzt sind wir im Herbst. Im Schloßgarten blühen die Astern, das türkische Korn wird geerntet, die Weinlese beginnt. Alsdann kommen als des Jahres letzte Frucht die Kastanien an die Reihe. Jetzt rösten wir den jungen Mais. Es geschieht über dem Kaminfeuer in der großen Halle. Mit frischer Butter bestrichen wird die zarte Feldfrucht verspeist. Aber bald gibt es zu süßem Most gebratene Kastanien. Das schmeckt noch besser.

Und immer merke ich tagtäglich an allem, daß es auf dem Schlosse sparsam zugehen muß. Die Schloßfrau wäre eines neuen Gewandes bedürftig und der Schloßherr nicht minder. Es muß jedoch ohne das gehen. Von Fleisch kommt jetzt selten etwas andres auf den Tisch als Wild, welches der Junker erlegt. Ich gehe auf den Schnepfenstrich und mache Jagd auf wilde Enten an dem Vahrner See. Aber den Drosseln vermag ich keine Schlingen zu stellen. Das ist eine Jagd für Knaben und Weiber! Dagegen werden Berghühner und Berghasen gejagt droben auf der Plose. Um auf der Plose Berghühner und Berghasen zu jagen, bedarf es nur eines Umwegs über die Almen des Platterhofes. Ist es mir da wohl zu verdenken, daß ich meiner lieben Mutter das meiste Wild von dort oben in die Küche liefere?

Sagen läßt es sich nicht, wie herrlich mein Vaterland in der Herbstzeit ist. Schier so wundersam und unirdisch schön wie die Liebe, die ein junges glückseliges Menschenkind auch nicht zu nennen, sondern nur zu empfinden vermag.

Auf den höchsten Gipfeln liegt bereits Neuschnee, während die Matten immer noch so sommergrün sind; durch die klaren Lüfte ziehen in langen schimmernden Ketten wilde Gänse. Von den Gipfeln aus reicht der Blick so weit, so weit. Zwischen den Tannen und Fichten stehen die Lärchen mit fast hellem Kleid. Die wilde Kirsche färbt sich purpurrot, die Birke schwefelgelb und goldig die Kastanie. In Tiefen und auf Höhen ist es ein Glänzen und Glühen. Gleich funkelndem Sonnenschein leuchtet das herbstliche Laub in den Tälern und auf den hohen Lehnen. Die Brust atmet tief und frei, das Herz pocht stark und freudig.

Die Hirsche schreien jetzt, daß es wie Gebrüll klingt. Ihr jungen gelehrten Klosterschüler, wie dauert ihr mich! Wenn der Hirsch im kampfesmutigen Liebesverlangen seinen drohenden Ruf erschallen läßt, dürft ihr euer Herz nicht erzittern fühlen. Was wißt ihr von dem geheimnisvollen Schauern stiller Nächte, wenn der Jäger ausgezogen ist, den brüllenden König der Wälder zu beschleichen; was von der Magie glanzvoller Mondnächte, wenn er am Waldessaum auf das Edelwild lauert; was von der fiebernden Erwartung, wenn er bei dem Dämmerlicht eines Frühlingsmorgens den balzenden Auerhahn anspringt? Werdet fromme Mönche, gottesfürchtige Priester, ihr Scholaren vom Kloster Neustift! Und seid darum nicht beneidet von einem, der tausendmal glücklicher ist in Feld und Wald, unter dem freien Himmelsdom, als ihr in euren heiligen Hallen, unter Baldachinen und auf Bischofssitzen, über die Seelen von Völkern gebietend.

Das ist dieses Jahr ein glanzvoller Herbst! Wie ein Königsmantel, funkelnd und flammend, liegt die Herbstpracht über unser Bergland ausgebreitet. Judith bewohnt noch immer den Alphof, und – ich gehe auf der Plose noch immer Berghasen und Schneehühner jagen. Da jedoch auf dem Platterhof die jungen Marillenbäume angepflanzt werden müssen, so steigt die Herrin zu ihrem Herrensitz gewiß bald hinab. Über tausend Stück schlanke Fruchtbäumlein sollen eingesetzt werden, als müßte der Platterhof ganz Tirol mit dem schönfarbigen süßen Obst versorgen. Zu Hause wird mehr als je gespart und alles Ersparte – es wird wenig genug sein – nach der Kaiserstadt geschickt, wo der älteste junge Graf von Enna »standesgemäß« erzogen werden muß. Und ich soll mir in meinen wilden Haarwuchs die Tonsur scheren lassen!

Meine süße Mutter, mein gestrenger Herr Vater, seht doch nur diesen Wirrwarr von Locken auf eures Letztgeborenen Haupt – wie könnte darin wohl ein Schermesser ein rundes Glatzlein herstellen? Laßt mir doch um Himmels willen das Haar wachsen, wie es der Himmel mir wachsen ließ.


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