Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Fünftes Kapitel

Pater Paulus ruft einer jungen gläubigen Menschenseele zu: »Kreuzige! Kreuzige!« Und wie dieses Wort erfüllt ward

Schloß Enna ward verkauft. Aber weder »Welsche noch Juden« erstanden den einstmals herrlichen Besitz des alten Geschlechts, sondern ein fremder reicher Edelmann, der die Schönheit des Ortes erkannte und ihm mit seinem vollendeten Geschmack – dem Geschmack des Mannes der großen Welt – seinen alten Glanz wiedergeben wollte.

Was in der Seele des letzten Sohnes des untergegangenen Hauses bei dem Ereignis vorging – als solches ward es von jedem Bauer, jedem Knecht des Brixener Tales empfunden –, erfuhr nicht einmal der hochwürdige Herr Prälat in der Beichte; das bekannte er allein seinem Gott. Als Pater Paulus die Nachricht empfing, begab er sich nicht in die Kirche, um seine Seele in heißem Gebet sich ergießen zu lassen; er ging auch nicht in sein Kämmerlein, sondern er erbat sich Erlaubnis zu einem einsamen Berggang in der heiligen Frühe des aufdämmernden Tages. Zur Plose stieg er hinauf. Droben stand er lange, lange. Von hoch oben schaute er lange, lange hinab. Über den Gipfeln ging die Sonne auf, deren erste Strahlen auf sein gesalbtes und geweihtes Haupt fielen. Von seinem Haupt glitt der Himmelsschein an ihm herab über seine ganze Gestalt, daß er in Verklärung dastand. Gleichsam von dem Priester hinweg sank der Glanz in die Tiefe des Tals, auf seiner Väter Haus und brachte diesem vom letzten Enkel den Abschiedsgruß.

Gelassen vernahm Pater Paulus später: Nahezu die ganze Kaufsumme ging zur Tilgung der brüderlichen Schuldmasse nach Wien, daß für den Grafen von Enna nur ein winziges Kapital übrig blieb. Der frühere Herr aber fand unterhalb des Schlosses in einem ehemaligen Wächterhaus am Ufer des Eisacks ein lebenslängliches Asyl – solange dieses zerbrochene Leben noch dauern würde...

Hatte sich die Nachricht von dem Verkauf des Schlosses Enna wie ein Lauffeuer durch die Umgegend verbreitet: von Mühlberg bis Klausen, so schien Föhnsturm eine andre Botschaft auf seine lauschenden Schwingen zu nehmen und weithin durch das Tirolerland zu tragen:

»Judith Platter gab den Platterhof hin!«

Es klang fast wie:

»Die Plose verlor ihre Gipfel, der Schlern seinen Rosengarten!«

Der Schaldererbach, der an dem veräußerten Besitz vorüberfloß, raunte die Kunde dem Eisack zu; die Wipfel der Edelkastanien, die seit drei Jahrhunderten des Hofes Wahrzeichen gewesen, rauschten sie zu den Lärchen von Raudegg empor:

»Judith Platter gab den Platterhof hin!«

Alles gab sie hin. Nicht ein einziges Stück behielt sie zurück. Auch das Gesinde übernahm der neue Besitzer. Nur der Reiher durfte die Fortziehende in die neue Heimat begleiten; Judith Platter wollte das Leben in der hohen Wildnis unter den Königswänden von Anfang an beginnen, mit nichts anderm als mit ihrer Jugend, ihrer Kraft, ihrer Arbeit. Ihr neues Leben in der Öde sollte eine Prüfung dieser Kraft sein; nicht nur der Priester von Kloster Neustift würde eine solche bestehen müssen.

Diesem teilte man mit:

»Judith Platter gab den Platterhof hin!«

Pater Paulus veränderte keine Miene, erwiderte kein Wort... Weil Judith Platter zu Vahrn auf ihrem Hofe saß, weil dieser Hof nahe bei Kloster Neustift lag, war er von Rom in die Heimat zurückgekehrt, hatte er alle Qualen dieser Heimkehr erduldet. Jetzt ging sie fort.

Was sie als törichtes Kind phantastisch geträumt hatte, führte sie als reifes Weib aus. Selbst ihren Kinderträumen hielt sie die Treue, hielt allem die Treue so fest wie an ihrem Ringfinger dem Goldreif.

Also mußte sie auch ihre Jugendliebe unentreißbar im Herzen behalten – obwohl sie vor ihm zurückgewichen war, als er in jener Nacht am Rande des Eisacks seine Arme nach ihr ausgestreckt hatte.

»Also muß sie auch ihre Jugendliebe unentreißbar –«

Als er es dachte, schien unter ihm der Boden zu schwanken. Schwindel ergriff ihn. Fast hätte er nach einem Halt greifen müssen, um nicht wie von einem Faustschlag getroffen zu Boden zu stürzen. Er hätte das Kruzifix fassen und umklammern können; aber von diesem göttlichen Zeichen stieß den seiner Schuld sich Bewußten eine unsichtbare Hand zurück.

»Sie geht fort. Wohin geht sie? Fort von dir! Also flüchtet sie vor dir? Nicht doch! Flucht wäre Feigheit; und sie ist stark, ist stärker, als du bist. Sie wird dich daher überwinden ... Überwinden? Sie – dich!... Das darf nicht sein ... Darf nicht? Du Tor! Sie geht fort; du aber mußt bleiben.«

In der Zeit, während welcher Judith ihren Hof räumte und einem andern Besitzer übergab, einem reichen Kaufmann aus Bozen, während sie davonzog – zu dieser Zeit trat in des Priesters Leben etwas ein, das er bis dahin von sich ferngehalten hatte, als ob es eines Mannes unwürdig sei. Dieses Neue waren jene gewaltigen Hilfsmittel seiner Kirche. Pater Paulus fastete bis zum grimmigen Hunger; er betete bis zur völligen Ermattung aller Lebensgeister; er geißelte sich, bis sein Körper mit Wunden bedeckt und blutrünstig war. Zu dieser Zeit geschah es, daß seine Schüler, die er gelehrt hatte, ihn fanatisch zu lieben, von ihrer alten Scheu vor ihm ergriffen wurden, wenn sie ihm in das todblasse leidensvolle Gesicht sahen, darin die Augen wie im Fieber glühten. Aber einer der guten Jünglinge fühlte in dieser schweren Zeit seine Liebe zu seinem geistlichen Mentor wachsen, daß das junge Herz sie kaum tragen konnte und überfloß in zärtlichem Mitleid mit dem sichtlich grausam Leidenden.

Dieser heimlich Liebende war Einhard vom Rinn, dem Pater Paulus das Leben gerettet hatte, um dieses junge und zarte Menschenleben nicht Vater und Mutter, nicht Brüdern und Schwestern, nicht dermaleinst einer Geliebten und Gattin, auch nicht der Welt und dem Leben, sondern dem Himmel und der Kirche zu erhalten.

Einhard vom Rinn war der Liebling des Klosters. In diese allgemeine Vorliebe mußte er sich jedoch mit dem Hunde Argos teilen – so tauften die Klosterschüler nach dem treuen Hunde des göttlichen Helden Odysseus das aus den Wirbeln des Stroms gerettete Tier, dessentwillen der junge Einhard sein Leben gewagt hatte. Der Hund Argos schien von Bären abzustammen, deren es in den Dolomiten noch gab, und war ein zottiges kleines Ungeheuer, eine wilde Bestie, die gleich ihre Zähne zeigte, gleich zusprang und zubiß. Aber im Kloster benahm sich der grimmige Raufbold sanft wie ein Lämmlein, vollends gegen den blondlockigen feinen Knaben Einhard. Was seinen Retter, den Pater Paulus betraf, so war dieser – da er noch der lustige Junker Rochus gewesen – von keinem seiner Rüden mit solcher unbändigen Leidenschaft geliebt worden, obgleich er den Hund stets hart anließ und feindselig fortscheuchte.

Da er Judith Platter nicht lieben durfte, so sollte ihm nicht einmal ein Tier anhängen ...

Aber er konnte nicht verhindern, daß er, ihm selbst unbewußt, dem von ihm geretteten guten Jüngling zugetan wurde. Es war ein Gemüt von geradezu lichter Lauterkeit, von jedem Lebensstaub unberührt, ahnungslos, daß diese wunderschöne Gotteswelt durch das Häßliche des Menschlichen, Allzumenschlichen getrübt und entstellt werden könnte. Dazu kam ein Kinderglaube, der Glaube des Einfältigen, welcher das Himmelreich haben wird. Mit heißer Inbrunst, voll stiller Glückseligkeit bereitete er sich auf sein zukünftiges Priesteramt vor, nicht wagend, sich selbst für einen der Erwählten zu halten, die der Menschheit den Gott verkündigen sollten. Dieser Gott war für ihn ein Gott der Liebe, der Gnade und der ewigen Güte. Auch das edle Blut, das diesem liebenswürdigen und liebenswerten Menschenkinde durch die Adern floß, mochte den Priester aus altem Grafengeschlecht mit geheimnisvoller Macht zu dem Knaben ziehen.

Wenn Pater Paulus im Hörsaal zu seinen Schülern sprach, suchte sein Blick unwillkürlich das schöne, fast frauenhaft reizende Gesicht des einen unter den vielen. Er sah es zu dem seinen aufgehoben mit einem Blick, daraus ihn eine hingegebene, ihm angehörende Seele entgegenstrahlte. Das Leuchten dieses Blicks verfolgte ihn beständig, er mochte den seinen noch so oft abwenden. Wenn er den Schülern im Garten begegnete, so hemmte er unwillkürlich seinen Schritt, um von allen den einen zu grüßen; ja, er kreuzte deshalb bisweilen mit Absicht die Wege der jungen Leute, die jetzt bei seinem Nahen nicht mehr verstummten, ihm nicht mehr betroffen nachschauten, sondern die ihn am liebsten in ihre fröhlichen Gespräche, ihre kraftvollen Spiele gezogen hätten; denn schließlich war auch diese fromme Jugend eben – jung.

Und es geschah bisweilen, daß Einhard vom Rinn von den Gefährten sich absonderte und sich in einen der Laubgänge stahl, wo er Pater Paulus zu finden wußte. Es war das wider die Klosterregel, was der geistliche Herr dadurch strafte, daß er den Übertreter völlig übersah – da er ihn nicht strafend zurechtweisen wollte. Einmal jedoch dachte auch der Lehrer nicht an das Verbot der Absonderung, sprach den freudig Erglühenden freundlich an, fragte ihn nach diesem und jenem, nach Heimat, Eltern, Freunden; und allmählich wurde aus der Ausnahme nachgerade eine Gewohnheit.

Nun erlebte der Priester das Erschließen einer jungen reinen Menschenseele. Es war ein wundersames Sprießen, ein köstliches Erblühen. So voll und schön hatte sich ihm einst ein andres Gemüt aufgetan und sich ihm ganz zu eigen gegeben – so hätte er über jenes Macht gewinnen können. Denn Einhard vom Rinn kannte außer Gottes Gebot kein höheres Wort, als von diesen Lippen, denen eine zwingende Gewalt zu eigen war, zu ihm gesprochen ward.

Was aber sprach der beredte Mund? Selten über Irdisches, fast immer nur Dinge des Himmels, des Glaubens, der Kirche. Bei diesen Gesprächen, in welchen der Jüngling dem Priester sein ganzes Herz darbrachte, ertappte sich Pater Paulus bei einer ihm bis dahin vollkommen unbekannten Empfindung. Sie jemals zu fühlen, hatte er für unmöglich gehalten.

Es war Neid.

›Hätte ich dieses Knaben Glauben! Ich seine Überzeugung, Inbrunst, Hingabe! Meine ewige Seligkeit gäbe ich dafür. Er wähnt dich reich an Schätzen, an denen du arm bist, ein elender Bettler, dem er von seinem Überschuß Almosen erteilt. Wenn er deine Armseligkeit wüßte, würde er voller Entsetzen vor dir zurückweichen oder voller Erbarmen zu dir sich herabneigen. Er würde nie aufhören, dich zu lieben; aber er müßte aufhören, an dich zu glauben. Eigentlich täuschest du ihn beständig. Du belügst ihn. Deine Lüge entsteht aus deiner Furcht, und deine Furcht ist Feigheit. Was du dadurch ihm antust, ist ein Verbrechen, begangen an seinem Glauben an dich.‹ Fortan schien der Priester vor dem Klosterschüler Scheu zu empfinden, als hätte er ihm gegenüber ein böses Gewissen, während der Jüngling ihm immer fester, immer schöner vertraute...

Einmal fragte ihn Pater Paulus:

»Was dachtest du, als du dich in den hochgehenden Fluß warfest, um einem Tier das Leben zu retten? Dachtest du:›Auch ein Hund ist ein Geschöpf?‹«

»Ach nein. Ich dachte an etwas ganz andres.«

»An deine Eltern, die dich lieben, denen dein Tod einen großen Schmerz zugefügt hätte?«

»Ich dachte nur an eines.«

»Nenne mir's.«

»Wenn ich umkomme, so kann ich nicht geistlich werden.«

»Nur an dein zukünftiges Priesteramt dachtest du?«

»An nichts andres.«

»Dein zukünftiges Priesteramt ist also dein Leben. Und dieses wolltest du fortwerfen um eines Hundes willen?«

»An mein Leben dachte ich nicht.«

»Du hast es behalten. Vielleicht wäre es für dich besser gewesen, wenn du –«

»Wie?«

Pater Paulus besann sich; faßte sich; sagte nach einer Weile leise und mit tiefem Ernst:

»Du kennst das Leben nicht, welches Gott dir erhielt, damit du ihm dienen sollst. Hast du noch niemals darüber nachgedacht, es könnte ein ganz andres Leben sein, als du jetzt träumst?«

»Ein ganz andres?«

»Weniger rein, gut, köstlich; mehr von der Welt, von den Menschen, dem Erdenleben.«

»Ich werde Priester sein.«

»Auch an diesen tritt das Erdenleben, das Menschliche heran. Als Versucher sich nahend, wird es häufig zum Totschläger; die Träume, die Illusionen, die Ideale schlägt es tot. Das ist grausamer als ein Totschlag des Leibes durch Dolchstöße. Nicht nur für deinen zukünftigen Priesterberuf mußt du deine junge Seele vorbereiten und stärken, sondern auch für den Menschen in dir und für das Menschentum der andern, die an dich glauben und denen du Priester, Helfer, Retter sein sollst. Dann erst wirst du das leben kennen lernen. Möchtest du es nicht zu sehr erkennen müssen.«

Ein plötzliches heißes Mitleid mit der jungen, vom Leben unberührten Menschenseele hatte den Priester ergriffen und ihn so ernst mahnend – so ernst vorbereitend zu dem lieben Knaben sprechen lassen. Was sollte aus dem Guten und Unschuldsvollen werden, wenn er ohne jede Warnung und Vorbereitung das Leben erfassen, die Menschheit begreifen lernte? Was wurde aus dem kindlich Gläubigen, wenn er einsehen mußte, daß auf der Welt selbst an des Menschen Allerheiligstem gerüttelt wird? Würde dieses weiche Gemüt stark genug sein, daran nicht rühren zu lassen? Würde die Erkenntnis von Leben und Menschheit den Feinen und Reinen nicht niederwerfen, wie es die wilde Eisackwoge getan? Auch in der Kirche Christi war das Bildnis der Gottheit von Schleiern umwoben; auch für den christlichen Priester bestand das Gebot, die Hand nicht auszustrecken, den Schleier nicht zu heben; auch in den Tempeln der triumphierenden Kirche Christi konnte eine junge gläubige Seele das Schicksal des Jünglings von Sais erleben...

Der Satz, den Pater Paulus nicht beendet hatte, sollte lauten:

Vielleicht wäre es für dich tausendfach besser gewesen, du hättest in jener Frühlingsnacht dein junges Leben in den Eisackfluten gelassen – wie dasselbe Schicksal für mich besser gewesen wäre, da ich noch jung, gut und rein war, mit dem Glauben eines Kindes im Herzen. Auch für mich tausend- und tausendfach besser!«

Das durfte er dem Knaben nicht sagen ... Die Worte unterdrückend, ward er sich zum erstenmal mit aller Klarheit bewußt, daß er den Ertrinkenden, für den der Tod vielleicht tausendfach besser gewesen wäre, am Leben erhalten hatte. Also hatte er durch seine Rettungstat die Verantwortung für dieses Leben auf sich genommen. Und so mußte er denn mahnen, warnen, vorbereiten.

Das war dieser Seele gegenüber fortan seine priesterliche und zugleich menschliche Pflicht.

Voll innigen Mitleids mit dem guten Jüngling, in dem qualvollen Gefühl seiner Verantwortung, dem starken Drang dessen, was er seine Pflichterfüllung nannte – von so vielen machtvollen Regungen erfüllt, beachtete Pater Paulus zu wenig den Eindruck, den Mahnung und Vorbereitung auf das Gemüt des Klosterschülers machten. Dieses Gemüt war eine nur mit heiligen Lettern beschriebene Tafel, darauf die flammenden Worte des geliebten und verehrten Lehrers wie von einem glühenden Stift eingegraben, wie eingebrannt wurden.

Der Warner sah nicht das bleiche Gesicht, mit dem der arme Knabe zuhörte; der Vorbereitende verstand nicht den Blick des Schreckens, der allmählich zum Entsetzen, zum Grausen ward.

So sollte das Leben sein? So furchtbar ernst, traurig, trostlos! So die Entsagung? So schwer und marternd und trotzdem niemals völlig Entsagung werdend – da der lebendige Mensch nicht zu entsagen vermag, nicht den Wünschen und Hoffnungen, nicht einem heimlichen heißen Sehnen.

Sehnen wonach?

Nach Glück; nach – eben nach Leben!

War solches Sehnen für einen Priester nicht gleichbedeutend mit dem unwiderstehlichen Verlangen nach dem Himmel, nach dem Glück im Glauben, dem Leben in Gott?

Doch nicht ganz gleichbedeutend. Denn es war nicht Sehnsucht nach diesen heiligen Dingen allein. Im Menschen mußte erst der Mensch überwunden, mußte der Mensch erst getötet werden, um allein nach diesen höchsten Begriffen Verlangen zu empfinden, allein darin sein Glück und die Erfüllung seines Daseins zu suchen.

Wenn jedoch der Mensch im Menschen nicht überwunden ward? Nicht überwunden und getötet von dem Priester?

Was dann?

Dann war's ein Jammer, nicht auszudenken.

Und wenn der Priester lernen mußte, an vielem zu zweifeln, woran nur mit einem Hauch zu rühren Schuld, Sünde, Missetat war –

Was dann?

Und wenn der nicht mehr gläubige Priester durch seinen sündhaften Zweifel zu einem schwankenden, einem schlechten und falschen Geistlichen ward; wenn er sich entstellte zu einem treulosen Diener des Herrn –

Allmächtiger Herr des Himmels und der Erde, was dann, was dann?

Dann ward aus dem Zweifel Verzweiflung ... Von Jammer und Verzweiflung wurde die junge Seele bereits jetzt gepackt. Aber Pater Paulus sah es nicht. Die verzweifelte Menschenseele versank in den verheerenden Wogen hilflosen Schmerzes, ging darin unter. Aber der Retter rettete nicht.

Um die Osterzelt war's. Die Klösterlichen bereiteten sich auf die heiligen Tage vor, Priester, Laienbrüder, Schüler. Sie hielten streng die langen Fasten und verrichteten voll Eifers die geistlichen Übungen. Viele gesunde Knabenwangen erblaßten während dieser Wochen; manche fröhlich blitzenden Augen wurden trübe.

Daß dies vor allem bei Einhard vom Rinn der Fall war, fiel nicht besonders auf; war er doch nicht nur der jüngste und zarteste, sondern auch der frömmste und zugleich leidenschaftlichste unter den Jünglingen, dabei mit einem bedenklichen Hang zu religiöser Schwärmerei, einer geradezu genialen Begabung zum Fanatiker. Sie fand in den Gesprächen mit Pater Paulus eine Nahrung, als würde in ein dürres Kornfeld die Fackel geworfen; die junge hilflose Seele mußte auflodern in Flammen, mußte sich in dem Brande verzehren ...

Die Karwoche begann. Altem Brauch gemäß oblag die Ausschmückung der Klosterkirche den Schülern. Alles Goldwerk des prächtigen Gotteshauses wurde mit schwarzem Flor umhüllt; mit schwarzen Draperien wurden die Säulen, die Wände bekleidet. Das helle Tageslicht, das durch die Fenster den Himmel in das Heiligtum brachte, wurde durch düstere Schleier getrübt.

Alle Altäre erhielten Trauerschmuck; vor sämtlichen Kreuzen sollten umflorte hohe Wachskerzen brennen. Die Nähe eines göttlichen Sterbens machte in allem sich fühlbar. Eine erhabene Feierlichkeit, von Todesschauern durchzittert, bereitete sich vor.

Als Letztes und Höchstes galt es, die Gruft des gekreuzigten Herrn und Heilandes zu schmücken. Sie befand sich vor dem Hochaltar, eine künstliche Höhlung, darin der blutüberströmte blasse Leib des toten Gottessohnes gebettet ward.

Dieser war eine mittelaltrige Holzfigur aus der St. Michaelskapelle, ein weit berühmtes Meisterwerk der Schnitzkunst, erschreckend durch die Wirklichkeit der Darstellung; nicht Nachbildung schien dieser Tote zu sein, sondern Wahrheit. An der lebensgroßen Gestalt haftete eine dunkle Sage: um den gekreuzigten Leib in jeder Muskel der Natur abzulauschen, sollte der Meister seinen eigenen jungen lieben Sohn gekreuzigt haben.

Es war ein grauenvolles Totengesicht, kein göttliches Antlitz, sondern das eines Menschen, der unter Qualen starb, eines ganz jungen Menschen, fast noch eines Knaben.

Einhard vom Rinn gehörte zu denen, die den Gekreuzigten in feierlicher Prozession aus der vor dem inneren Klostergebiet gelegenen Kapelle des Erzengels zur Kirche überführen und in das von Jünglingshänden bereitete Grab legen durften. Voller Entsetzen starrte der Knabe in die vom Kampf eines fürchterlichen Todes verzerrten Züge. So grausig – menschlich hatte Christus leiden müssen! Aber er litt, um die Sünden der Welt auf sich zu nehmen, um die Welt durch seinen Opfertod von ihren Sünden zu befreien.

Der gekreuzigte Heiland der Welt war nach drei Tagen von den Toten auferstanden; dem Karfreitag folgte der Ostersonntag ...

Bei der Totenfeier Christi sollten die Klosterschüler das Miserere singen, im Kirchenchor, durch den großen Altar verdeckt, daß es wie aus der Ferne dumpf und geisterhaft herüberklang. Jeden Tag wurde die Totenklage von den jungen Sängern eingeübt. Einhards vom Rinn helle Stimme erschallte wie die eines Cherubs durch die tieferen Stimmen seiner Gefährten.

Je näher der erhabene Gedächtnistag kam, um so mehr bemächtigte sich der Gemüter der Klosterleute die Stimmung des Mysteriums, das sich erfüllen sollte: göttliches Leiden, Sterben und Auferstehen.

In der Nacht zum Karfreitag fand Pater Paulus in seiner Zelle nicht Ruhe. Die engen Wände umfingen ihn, erdrückten ihn. Er mußte hinaus. Da alle äußeren Ausgänge verschlossen waren, so konnte er nur die Galerien und Säle durchirren. Aber sein auf den Steinfliesen widerhallender Schritt hätte gehört werden können. Auch klang er so geisterhaft hinter ihm drein. Von seinen eigenen gespenstischen Schritten gescheucht, wie verfolgt von sich selbst, gelangte er in die Kirche. Unter den hohen Wölbungen würde er gewiß freier aufatmen können, würde über sein eigenes Gemüt vielleicht Frieden kommen.

Frieden – in dem Grabe vor dem Hochaltar lag der aus Todesqualen erlöste Gottessohn. Ihm zu Häupten brannte eine Kerze, wie sie für einen in Wahrheit Gestorbenen angezündet ward; und wie bei einem in Wahrheit Gestorbenen hielt jemand bei dem Leichnam des Herrn die Nachtwache.

Eine schlanke schmächtige Gestalt in der dunklen Kutte der Klosterschüler war's. Hingesunken lag der junge Wächter und sah dem Gekreuzigten in das Gesicht. Regungslos, wie entgeistert durch die Qualen, die der Tote vor seinem Ende gelitten, starrte der Jüngling in das von der Kerze grell beleuchtete Antlitz. Jetzt seufzte er, stöhnte er auf. Ein Laut war's so voller Jammer, als müßte er dieses Sterbens Marter an sich selber erdulden.

»Einhard! ... Einhard, mein guter Knabe! ... Was tust du hier?«

»Ich halte Wache, ehrwürdiger Herr.«

»Du mußt schlafen, ausruhen. Für dich hat das Leben noch Nächte voll Schlafes und Friedens.«

Pater Paulus trat zu dem einsamen Wächter, der so jung noch bereits schlaflose Nächte hatte und blieb bei ihm stehen. Einhard regte sich nicht; wandte seinen Blick von dem Leidensantlitz vor sich nicht ab; sprach wie im Traume:

»Es muß sehr weh getan haben!«

Und plötzlich mit einem Blick aufschauend, darin eine Welt von Leiden lag:

»Er war hier so allein, da mußte ich aufstehen und zu ihm kommen.«

»Jetzt komm mit mir!«

»Bitte, nein. Bitte, laßt mich bei ihm die Wache halten.«

»So wache denn ich mit dir.«

Er setzte sich zu dem Knaben auf eine der Stufen, die zu dem Grabmal emporführten, und sprach in seiner eindringlichen Weise auf den krankhaft Erregten ein:

»Du darfst dich nicht in solcher Weise deiner Empfindung überlassen. Sieh, mein Knabe – es ist schön, daß auch Christus Todesqual litt. Was tut das? Nicht allein für ihn, sondern auch für uns. Was sind Todesqualen? Was galten sie ihm, der wußte, daß er nach drei Tagen auferstehen und zum Himmel fahren würde, um zu sitzen zur rechten Hand Gottes, um in ewiger Glorie zu thronen?«

»Ach ja! Er wußte es. Wie schön, daß er es wußte. Dann freilich konnte das Sterben leicht sein.«

»Siehst du wohl! Ich sage dir: es ist nicht schwer, sein Leben zu lassen. Und gar wenn es für die Menschheit ist: für die Sünden – für die Leiden der Menschheit. Taufende von uns würden um Geringeres willen den grausamsten Qualentod erdulden, erdulden mit Jauchzen und Frohlocken. Ich beneide diesen Jesus von Nazareth seines qualvollen Sterbens willen zu solchem großen, solchem göttlichen Zweck; ich könnte darum mich selber an ein Kreuz schlagen.«

»Sich selber an ein Kreuz schlagen –«, sprach der Jüngling ihm nach.

Der Priester fuhr fort:

»Aber müßten wir alle uns nicht kreuzigen, auf daß das Wort erfüllt werde? Steht nicht geschrieben: wir müssen unser Kreuz auf uns nehmen? Wenn wir das müssen, so muß der Kreuzesaufnahme auch der Kreuzestod folgen. Zunächst der unsrer Selbstsucht. Für uns katholische Priester muß unsrer Kreuzesaufnahme der Kreuzestod alles Menschlichen folgen. Das sind freilich tausendfach größere Qualen als der qualvollste Märtyrertod, dessentwillen Scharen von Gestorbenen heilig gesprochen wurden.«

Aber der junge Einhard schien nichts andres gehört zu haben, als die Worte, die er Pater Paulus jetzt ein zweites Mal nachsprach:

»Sich selber an ein Kreuz schlagen...«

»So sagte ich. Und ich sage dir: Kreuzige! Kreuzige dich selbst! Und ich sage dir seiner: um sich selbst zu kreuzigen, bedarf der Mensch nicht einmal des Glaubens, binnen dreien Tagen von den Toten aufzustehen. Er bedarf des Glaubens überhaupt nicht, um für die Leiden der Menschheit sich selbst mit Dornen zu krönen, sich selbst die Nägel durch Füße und Hände zu bohren, sich selbst den Speerstich zu geben.«

Da wurde er mit tiefer Feierlichkeit von ein« Knabenstimme befragt: »Gibt es Menschen, die nicht an eine Auferstehung glauben?«

»Lieber Knabe –«

» Gibt es Menschen, die überhaupt keinen Glauben haben? Gibt es Priester ohne Glauben

Was ging in der Seele des Priesters vor? Welche Macht zwang ihn, an diesem Grabe des gekreuzigten und gestorbenen Gottessohnes, der in drei Tagen auferstehen sollte von den Toten, dem Knaben gegenüber ein Geständnis abzulegen, welches sich selbst zu bekennen er bisher nicht gewagt hatte: das Geständnis seines Unglaubens an eine Auferstehung von den Toten, seines Unglaubens überhaupt?

»Ihr glaubt nicht? Ihr, den ich verehre wie keinen andern Menschen auf Erden; Ihr, zu dem ich aufblicke wie zu einer Gestalt in der Höhe – Ihr glaubt nicht? Und Ihr seid Priester? Ein ungläubiger, unchristlicher, gottloser –«

Mit einem Laut wie ein Sterbensschrei brach der Knabe neben dem Leichnam Christi bewußtlos zusammen.


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