Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Dritter Teil

Die Königsfrau

Erstes Kapitel

Wie aus Judith Platter die »Königsfrau« ward

»Du, Königsfrau!«

»Wie nennst du mich?«

»Du bist sie ja doch. Bist die Königsfrau.«

Aus dem Munde des Hüterbuben Martin erfuhr Judith den Beinamen, den sie in den Dolomiten führte.

Sie empfand das Wort als Spottnamen, von der Feindseligkeit der Dolomitenleute ihr beigelegt. Aber der Hohn traf sie nicht. Sie nahm sich auch nicht vor, den Schimpfnamen in einen Ehrennamen zu verwandeln. Wie sie des einen nicht achtete, bedurfte sie nicht des andern; sie blieb in dem einen und dem andern sie selbst.

Leuchtenden Blicks fuhr der Knabe fort:

»Du, Königsfrau, höre! Dort oben weiß ich einen Adlerhorst mit zwei Jungen. Sind sie flügge, steig ich hinauf und bringe sie dir. Darf ich?«

»Sahst du einmal einen gefangenen Adler?«

»Beim Bären-Alois.«

»Sahst du des Vogels Augen?«

»Freilich.«

»Und du willst für mich einen Adler fangen?«

»Und müßt' ich auf einer Himmelsleiter zu den Königswänden aufsteigen!«

»Sahst du nicht, wie traurig des Vogels Augen waren?«

»Traurig? Du machst die beiden Adler so zahm wie deinen Reiher. Der hat lustige Augen!«

»Dafür ist er auch nur ein Reiher. Ein Adler bleibt ein Adler. Er wird todtraurig in der Gefangenschaft; stirbt im Käfig. Bei mir darf kein Tier traurige Augen haben. Womöglich auch kein Mensch. Also bringe mir deine Adlerjungen nicht.«

»Wenn sie groß sind, fressen sie meine Ziegen und Schafe.«

»Wenn du groß bist, werde Jäger und schieße die Räuber deiner Ziegen und Schafe. Einen toten Königsadler darfst du mir bringen.«

Der leidenschaftliche Knabe rief aus:

»Wenn ich dir keine Freude machen kann, freut mich gar nichts mehr!«

Judith mußte über den jungen Ungestüm lächeln. Freundlich sagte sie:

»Werde solch braver Mann, wie du ein braver Bub bist, und du machst mir auch später Freude.«

Der Belobte wurde rot bis zu seinem schwarzen Krauskopf hinauf. Plötzlich brach er in Tränen aus. Sie strömten so heftig, daß Judith erschrak.

»Was fehlt dir?«

Lange wollte der Knabe nicht gestehen. Dann stammelte er schluchzend:

»Was haben sie gegen dich? Was tust du ihnen? Weshalb reden sie Übles von dir? Du bist besser als alle! Gut bist du. Bin ich erst groß, will ich keine Adler schießen – Menschen schieße ich tot! Alle, die dir Böses antun möchten.«

Mit dem ruhigen Lächeln, welches Judith für des jungen Wildlings kindliches Liebeswerben hatte, tröstete sie ihn jetzt in seinem Leid:

»Niemand will mir Böses zufügen. Das bildest du dir nur ein. Die Leute hier oben müssen mich erst so gut kennen lernen, wie du mich kennst. Sie denken: Was hat die fremde Frau bei uns zu schaffen? Sie soll bleiben, wohin sie gehört; soll wieder hingehen, woher sie kam. Wir wollen sie bei uns nicht haben!« Ich muß ihnen erst zeigen, was ich hier oben will, und daß ich von ihnen nichts verlange; daß ich ihnen gern geben würde, wenn sie es nur von mir annehmen möchten. Nicht Geld und Gut, sondern Arbeit, die ihnen Gut und Geld einbringt. Wenn ich den Leuten nicht böse bin, darfst du es auch nicht sein. Nicht wahr, das verstehst du?« Martin verstand es gar nicht. Da sie ihm jedoch bei den letzten Worten die Hand auf den Kopf legte, so lachte er unter Tränen über sein ganzes braunes hübsches Gesicht und versprach großmütig, dereinst nicht auf Menschenjagd zu gehen; sondern sich mit Adlern und Bären begnügen zu wollen ...

Judith schickte den kampfbegierigen Hirtenjüngling zu seiner friedlichen Herde und schritt weiter, um auf dem Hof und in den Stallungen nach dem Rechten zu sehen. Stattlich standen die neuen Gebäude unter den drohenden Dolomitenwänden in der grünen Sommerwelt. Die Mauern waren aus Stein gefügt und von einer Stärke, als sollte der Königshof einen zweiten Platterhof vorstellen. Über den weißen Wänden ragten Obergeschoß und Dach aus jungen gleichmäßigen Föhrenstämmen gezimmert, noch ungebrannt von der Sonne der Alpen. Rötlich gelbe und braunviolette Dolomitenblöcke belasteten die Schindeln und schützten sie vor dem wütenden Föhn.

Jedes Ding, auch das kleinste, war wohl bedacht und wohl ausgeführt worden, nach welchen Hindernissen, Mühen, Nöten! Allein die Arbeiter für den Bau zu gewinnen und alles Material zu beschaffen, war eine Tat gewesen, des Willens und der Kraft eines festen Mannes würdig. Jede andere Frau wäre darüber zerbrochen.

Die Herrin dieses hohen Reiches hatte sich schließlich darein fügen müssen, fremde Handwerker zu berufen und zwar aus dem nahen, ihr verhaßten Welschland. Die Männer erwiesen sich als vortreffliche Arbeiter, und Judith war viel zu gerecht, um das Gute selbst bei einem Feinde nicht gelten zu lassen. Aber welche Beschwerden, Lasten, Sorgen hatte es gekostet!

Grade das war jedoch von allem Bösen das Beste. Nicht einen Augenblick war Judiths Pfadfindernatur erlahmt; niemals hatte sie die Furcht befallen, sie könnte der Sorge nicht Herr werden, die Lasten nicht tragen.

Jetzt standen Haus und Hof. Die weiten Stallungen gewährten Raum für zahlreiches Vieh von einem in diesen Gegenden unbekannten prachtvollen Schlag; für Unterbringung reichlicher Heuvorräte gab es hohe Schober aus unbehauenen Fichtenstämmen ausgeführt, und gar ansehnlich erhob sich ein Knechtshaus, während die Mägde gemeinsame Kammern im Hause der Herrin bewohnten. Hier befand sich auch die große Gesindestube, besonders behaglich an langen Winterabenden, wenn sich die Leute um den gewaltigen Kachelofen versammelten, den eine breite Bank umschloß. Dieser Raum stieß an Judiths Wohngemach, inmitten dessen schimmernder Täfelungen der Webstuhl der Herrin stand. Saß sie vor dem ehrwürdigen Gerät und warf mit kundiger Hand eifrig das Schifflein, so hatte die Königsfrau auf ihrem Thron Platz genommen...

Die Reden des Knaben Martin taten es Judith nicht an; doch konnte sie nicht verhindern, sich darüber Gedanken zu machen:

›Erst wenn ein Ding Namen erhält, gewinnt es Gestalt. Empfunden habe ich oft genug, daß sie mich hier oben nicht leiden mögen und mich am liebsten verjagten wie einen gefährlichen Feind. Jetzt wurde es ausgesprochen. Und kam mir auch die Botschaft aus Kindermund, so vernahm ich sie doch: ich bin den Leuten verhaßt... Das ist ein seltsames Bewußtsein, gehaßt zu werden. Für mich etwas ganz Neues, Fremdes, Unheimliches und Unheilvolles. Ich muß auch das kennen lernen, muß auch damit fertig werden. Immerhin ist es häßlich, Haß zu erregen. Schön dagegen ist, wenn man geliebt wird, von einem Menschen! ... Was geht das mich an? ... Das ist abgetan für jetzt und für immer.‹

Sie gelangte zu einem Platz, von dem aus sie ihr kleines Gebiet übersehen konnte. Hellen Blicks und freien Herzens schaute sie um sich über die Fluren und Wälder, die sie sich in diesen Himmelshöhen zu eigen gemacht hatte. Das Gefühl einer großen Verantwortung überkam sie:

›Du darfst nicht müßig sein. Nicht eine einzige Stunde! Beide Hände mußt du regen. Sie regen bis zu deiner letzten Stunde. Hier gilt's, zu schaffen. Für wen? Nicht für Kind und Kindeskind. Also für wen? Daran darfst du nicht denken. Das Schaffen, die Arbeit, die Freude am Schaffen und an der Arbeit müssen dir Ziel und Zweck genug sein!‹

Unbedeckten Hauptes stand sie inmitten der lodernden Sonnenglorie; ihrem Haupte tat der Himmelsglanz nichts. An ihrer Hand flammte der Rubin auf. Ihrer Art nach wehrte sie sich nicht wider die bei dem Funkeln des Edelsteins auf sie einstürmenden Gedanken: ›Gut, daß Berge und Täler uns trennen. Es tut nicht wohl, wenn Zwei, welche Unendlichkeiten scheiden, nahe beieinander wohnen. Das mußte ich erkennen, da wir in der Sturmnacht am Eisack standen ... Wie er mich ansah, als er seinen Arm nach mir ausstreckte!... Wenn ich beten könnte, wie andre gute katholische Christen, so würde ich zu der Schutzheiligen seines Hauses, zu Santa Barbara die Hände aufheben und sie bitten, dieses Mannes Herz zu bewahren und darin nur das Bildnis der Himmelskönigin thronen zu lassen.... Was denkst du jetzt wieder? ... Judith! Judith!‹

Sie rief sich selbst so feierlich an, weil sie plötzlich wiederum denken mußte, ob es wohl sein könnte, daß in seinem Herzen – in dem Herzen des Priesters! – das Bild einer irdischen Frau eine Stätte hätte? Dann wäre er ein schlechter Priester, wäre sein ganzes Priestertum Lüge und Trug. Jedesmal, wenn diese Vorstellung Gewalt über sie gewann, mußte sie sich selbst warnend bei Namen rufen, um sich dadurch der dunklen Macht solcher Gedanken zu entziehen.

Unwillkürlich glitt ihr Blick von den sonnenüberstrahlten Gipfeln in die schattenvolle Tiefe hinab. Dort ragte auf finster umwaldetem Fels ein graues Gebäude: die Klause der büßenden Augustiner. Daß in der von ihr erwählten neuen Heimat grade dieses heilig-unheilige Haus sein mußte! Heilig durch den Namen seines Gründers, unheilig durch seine Bewohner, die als Priester in menschliche Schwäche und Schuld verfallen waren. Vielleicht befanden sich darunter etliche, dadurch strafbar, weil sie nicht nur die heilige Jungfrau im Herzen trugen; also schlechte und falsche Priester.

Gewiß war ihre Schuld eines tiefen Mitleids würdig. Judith Platter fühlte jedoch mit ihnen kein Mitleid.

Die Heuernte fiel prachtvoll aus. Judith half tüchtig mit d versuchte die Arbeit für die Leute möglichst freudig zu gestalten; sollte doch Arbeit für den Menschen ein Fest sein. Das stets reichliche und gute Essen war in Zeiten besonders angestrengter Tätigkeit auf dem Hof der Königsfrau besonders vortrefflich; und wurde bei dergleichen Gelegenheiten von dem Gesinde ausnehmend viel verlangt, so stellte die Herrin zuerst an sich selbst die strengsten Anforderungen, die sie auch immer erfüllte.

Bereits im Morgendämmer zogen die Mäher und Mäherinnen aus; denn das Gras schnitt sich am leichtesten, wenn auf den Wiesen noch Tau lag. Fluren von derartig üppigem Wuchs waren Judith bisher unbekannt gewesen, und sie hatte ihre helle Freude daran. Noch im hohen Juni blühten dort oben die Frühlingsblumen, daß die Matten märchenhaften Auen glichen, daraus die Dolomiten wie eine Götterburg aufragten. Die großen Glocken der Genzianen hüllten den welligen Grasboden in Azurblau, die duftenden Federnelken in zartes Rosa und die wohltätige Arnika in leuchtendes Gold. Ging über den purpurfarbenen Zinnen der Dolomiten die Sonne auf, so funkelten diese Gefilde in dem glühenden Glanz von Brillanten ...

Am Abend des letzten Erntetages zogen plötzlich über den Gipfeln schwere Gewitter auf. Nicht eher sah man die Unwetter kommen, als bis sie bereits da waren. Plötzlich ward es blauschwarze Nacht. Noch standen die letzten Wagen hochbeladen und harrten der Einfuhr mit den Gespannen der silbergrauen, mächtig gehörnten Ochsen. Judith trieb zur Arbeit. Da erklärten einmütig die Knechte: würde ihnen der Lohn nicht erhöht, so rührten sie keine Hand. Sie erhielten zur Antwort:

»Morgen zahle ich euch euren vollen Monatslohn aus und morgen seid ihr samt und sonders entlassen. Ihr sollt aber auch heute keine Hand rühren.«

Nun wollten einige helfen; doch Judith gestattete es nicht. Sie befahl die Mägde zu den Ochsengespannen. Unter dem Höhnen der Männer gehorchten die einen mißmutig, unbeholfen die andern. Judith und der Knabe Martin arbeiteten fast allein.

Sie sah prachtvoll aus. In dem dunklen Kleide einer Bergbäuerin, welches die hohe Gestalt in wenigen großen Falten umschloß, im schwarzen mit Silberknöpfen besetzten Mieder, die braungebrannten Arme frei aus den bauschigen Hemdsärmeln – so stattlich anzusehen, fuhr sie Wagen auf Wagen unter die breit vorspringenden Dächer der Stallungen, wo das Heu vor dem Regen geschützt war. Ringsum knatterten und krachten die Donnerschläge, als ob die Dolomiten einstürzten, lohten und loderten die Blitze, die Gewitternacht mit blauen und roten Flammen durchzuckend. Als der letzte Wagen glücklich geborgen war, brauste der Sturm auf.

Am nächsten Tage wurden die frechen Knechte entlohnt und entlassen. Jetzt wären sie gern geblieben. Der eine und andre zeigte eine demütige Miene, oder er ließ sich sogar zu einer Bitte herbei. Stumm deutete Judith bei jedem zur Tür. Da begannen auch die Mägde heimlich zu murren, und eine von ihnen erklärte, gleichfalls gehen zu wollen. Es war die Großmagd, des Hofes tüchtigste Kraft. Sie ward zugleich mit den Männern fortgeschickt. In der dritten Nacht nach diesem Tage wurden die bis zum Dach hinauf gefüllten Heuschober in Brand gesteckt. Das Jammergeschrei der Mägde übertönte der Herrin gebieterischer Ruf:

»Laßt brennen! Rettet das Vieh!«

Judith erkannte sogleich, daß das Feuer nicht zu löschen sei, erkannte sogleich die Gefahr; erhob sich der leiseste Wind, so wurde auch das Wohnhaus, wurden auch die Stallungen von den Flammen erfaßt und eingeäschert. Der ganze, soeben erst aufgebaute, prächtige Hof konnte über Nacht in einen einzigen Trümmerhaufen verwandelt werden.

Ihr Herz krampfte sich bei der Vorstellung zusammen, als würde es zwischen zwei Steinen gepreßt. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Mochte der ganze Hof brennen! Er konnte ein zweitesmal – konnte ein drittesmal aufgebaut werden, wenn nur das in Todesängsten brüllende Vieh gerettet ward.

Es gelang. Die starke Ruhe der Herrin wirkte wie Zauberkraft. Allein der Knabe Martin vollbrachte wahre Wunder.

Erst nachdem die letzte Kuh, das letzte Lamm und Zicklein auf die Wiesen getrieben worden, ließ Judith den Hausrat bergen. Aber die Nacht blieb vollkommen windstill. Auch der Himmel tat ein Wunder.

Gleich riesigen Fanalen schlugen die Flammen empor. Schön war's anzusehen! Über der Brandstätte glühte der Himmel, glühten die Dolomiten. Die Königswände standen bei dem roten Widerschein wie von Purpur umhüllt.

Gegen Morgen erschienen einige der zunächst wohnenden Waldbauern und etliche Hirten. Auch von den Talleuten kam dieser und jener heraufgestiegen. Sie verhehlten kaum ihre Schadenfreude, kaum ihren Haß und Hohn. Aber das große Wesen der Fremden machte doch starken Eindruck. Von diesem Ereignis an begann in den wilden Gemütern eine Wandlung sich vorzubereiten, sehr langsam und höchst widerwillig. Doch sie begann.

Das Vieh blieb vorerst auch über Nacht im Freien. Die niedergebrannten Scheuern entstanden neu und wurden im Spätherbst mit zum großen Teil aufgekauften Vorräten gefüllt. Zwei mächtige Bernhardinerhunde langten an. Sie erhielten von einem der vielen heimlichen Feinde der Königsfrau Gift und starben unter Qualen, das mächtige Haupt in den Schoß der Herrin gebettet. Da wäre es fast geschehen, daß Judiths Gesinde die Herrin hätte weinen sehen.

Aber noch vor Wintersanfang wurden zwei neue gewaltige Wächter des vielfach bedrohten Hofes beschafft. Fortan hielt auch die Königsfrau Nachtwache.

Das zweite Hundepaar ließ man am Leben; und den zweiten Bau der Scheuern steckte keine Bubenhand in Brand. Sie begann zu siegen, langsam, sehr langsam und ganz gegen den Willen ihres Gesindes sowohl wie den der Dolomitenbewohner ...

Es kam ein Winter, der einem einzigen wolkenlosen Herbsttage glich. Die ganze strenge Zeit über konnte unter den Königswänden im Freien geschafft werden. Unwegbare Wildnisse wurden gangbar gemacht, über reißende Bäche Brücken geschlagen, weite Strecken Forstes – er glich einem Urwald – gelichtet oder gerodet.

Wenn jetzt die Leute von Judith Platter sprachen, begannen sie zu sagen:

»Das ist eine!«

Der Knabe Martin entdeckte in den Königswänden eine Möglichkeit, zu bisher unzugänglichen Almen zu gelangen. Strahlend vor Freude kam er mit der guten Kunde zur Herrin:

»Die Adlerjungen wolltest du nicht haben. Längst sind sie groß, rauben mein Jungvieh, und ich kann dir die Untäter nicht erschossen bringen! Denn ich habe noch immer keine Büchse, weil ich noch immer nur erst ein Bube sein soll. Aber ich fand andres für dich.« Und er berichtete seine große Entdeckung.

Judith wußte von dem Vorhandensein herrlicher Weidegründe in den höchsten Dolomitenwänden. Sie gehörten zu ihrem Besitztum. Doch es sagten ihre alle Erfahrenen:

»Lediglich Wildheuer sind imstande, an Seilen gebunden von hoch herab hinzugelangen; und es hat bisher beim Bergen des Heues jedesmal ein Unglück gegeben, so daß niemand mehr sich hinaufwagt. Auch du darfst es deine Knechte nicht tun lassen.«

Als gute Haushälterin dauerte Judith der verlorene Grasreichtum. Sie hatte davon eines Tages zu dem ihr leidenschaftlich ergebenen jungen Hirten gesprochen. Dieser bewahrte jedes ihrer Worte im Gedächtnis und nahm sich vor: ›Zu den Almen findest du einen Weg!‹ Er suchte und suchte, schwebte dabei beständig in Lebensgefahr, dachte dabei beständig: ›Wenn du ihr die Almen dort oben erschließest, lobt sie dich wieder, legt sie dir wieder die Hand auf den Kopf.‹ Nun hatte er den Zugang zu der verschlossenen Welt entdeckt, ward dafür höchst belobt, bekam als wahren Königslohn von der Königsfrau zu hören:

»Mit dem ›Buben‹ ist's fortan vorbei. Kein Knabe hätte finden können, was du fandest. Aus Bozen lasse ich für dich eine Büchse kommen und alles, was sonst zu einem richtigen Weidmann gehört. Dann kannst du mir auch die Räuber abschießen. Bären kannst du jagen!«

Ein Jubelschrei des Knaben, der über Nacht ein Jüngling geworden, war des Beschenkten Dank. Aber dieses Mal hatte sie ihm nicht wie einem großen Kinde den Krauskopf gestreichelt. Fast wäre der so plötzlich für erwachsen Erklärte lieber noch immer nur erst ein ›Bube‹ gewesen ...

Eines schönen Tages wollte Judith den entdeckten Aufgang besichtigen. Zu dieser Absicht meinte der Entdecker:

»Andere Frauenzimmer kämen nicht hinauf. Du bist aber nicht wie die andern. Mit dir wage ich's. Schwindlig darfst du freilich nicht werden. Sonst stürzest du ab; und ich müßte mit dir hinunter.«

Judith entgegnete belustigt:

»Dafür täte dir dein junges Leben denn doch wohl zu leid.«

Sie erhielt mit höchstem Ernst erwidert:

»Um mein Leben wäre mir's weniger, obschon es bei dir hier oben ein gar schönes Leben ist. Aber meine gute Büchse, all das prächtige Pulver und Blei. Was sollte damit werden?«

»Das bekäme eben ein anderer.«

»Keinem gönn' ich's! Also darfst du keinen Schwindel haben !«

»Gewiß nicht. Beruhige dich nur.«

Beide traten den Weg an. Er erwies sich als gefährlich genug. Um für das Vieh gangbar zu sein, mußte der Fels vielfach gesprengt und der Pfad an den abgründigsten Stellen gut versichert werden. Aber droben war es eine wahre Herrlichkeit! Wie eine verwunschene Welt lag die Alm eingezwängt in den wilden Wänden, wie ein in den Abgrund versunkener Alpengarten.

Der glückliche Pfadfinder sollte zu seinem Schießgewehr droben eine stattliche Sennhütte erhalten ...

Als Judith dem Hirten das Weidmannszeug übergab und seinen Jubel vernahm, überlief es sie. Etwas von dem Jauchzen eines Verstorbenen klang ihr aus der Stimme des Lebenden entgegen. So mahnte sie auch in ihrer neuen Heimat, ihrem neuen Leben immer wieder etwas an längst Vergangenes, längst Begrabenes. Es war ein Glück, daß sie sich niemals vorgenommen hatte, die Vergangenheit tot sein zu lassen, daß sie die Kraft besaß, diese mit sich durch ihr Leben zu tragen. Wie sie nun einmal geartet war, hätte sie nur zu oft erkennen müssen:

›Es gibt für dich kein Vergessen‹

Selbst bis in ihre hohe Einsamkeit hinauf drang zur Frühlingszeit die Kunde eines grauenvollen Ereignisses, das in ihrer ehemaligen Heimat alle Gemüter mit Entsetzen erfüllte ... Ein Klosterschüler aus Neustift hatte sich am Karfreitag, von religiösem Wahnsinn ergriffen, selbst gekreuzigt. Die Mönche wollten anfangs den Selbstmord verhehlen. Aber einer von ihnen, derjenige, der den Gekreuzigten fand, zieh sich laut der Schuld, den Jüngling zum Selbstmord getrieben zu haben. Also gab es kein Verschweigen und Vertuschen, und der Selbstmörder erhielt das Begräbnis des Selbstmörders.

Bleich und stumm ging Judith einher. Sie mußte mitanhören, wie das Gesinde das Gräßliche besprach, immer wieder und wieder; mußte jenen fanatischen Priester, der einen guten und unschuldigen Knaben in den Tod – in solchen Tod – getrieben hatte, laut verwünschen hören, mußte schweigen.

Wenn es der eine war? ... Eine innere Stimme rief ihr zu: »Er war es! Priester seines Geistes werden Fanatiker, müssen Fanatiker werden. Und sie müssen durch ihren Fanatismus andre verderben – andre und sich selbst.«


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