Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Viertes Kapitel

Das Judithlein

Ich bin so betrübt!

Daß ich nach Rom gehe, um daselbst am Grabe des Apostelfürsten unter den Augen des heiligen Vaters geistlich zu werden, scheint nämlich auch der Wunsch meiner Mutter zu sein. Sie sagt es nicht. Wenigstens sagt sie es nicht mit Worten. Aber ihr ganzes Wesen ist eine einzige flehentliche Bitte: »Liebster Sohn, werde geistlich! Mir zuliebe!« Ihr ganzes Leben flehet mich darum an. Ich darf ihr nicht einmal sagen, daß sie mir damit den ersten großen Schmerz zufügt. Aber ich kann es in dieses Buch einschreiben, welches ihre Liebe mir schenkte, wohl wissend, weshalb. In dieses Buch schreibe ich also:

Ich wüßte nicht, was ich meiner Mutter zuliebe nicht tun würde? Ich könnte meiner Mutter zuliebe keine Büchse mehr anrühren, kein Pferd mehr besteigen, keinen Gipfel mehr erklimmen; nicht mehr jauchzen, jubeln und singen. Also aufhören, jung zu sein und mich glücklich zu fühlen. Ich könnte für meine süße Mutter um Almosen betteln, meine kleine Judith Platter nicht wiedersehen und für sie einen Totschlag begehen. Aber ich kann nicht meiner Mutter zuliebe meine Natur kreuzigen, kann nicht ihretwillen meinen lebendigen Menschen verleugnen – kann nicht meiner Mutter zuliebe geistlich werden.

Von jeher waren wir Grafen von Enna ein sehr frommes Geschlecht: haben wir doch sogar einen Märtyrer in der Familie! Die Grafen von Enna waren fanatische Kreuzritter; sie kämpften um das Grab Christi, litten und starben dafür. Die Grafen von Enna bauten Klöster und Kirchen, machten fromme Stiftungen und wurden geistlich. Sie wurden Priester und Mönche, Prälaten und Bischöfe. Ein Graf von Enna hat den Kardinalshut getragen.

In unserm Schlosse ist alles vernachlässigt, verödet, verfallen. Nur nicht die Kapelle. Die Kapelle auf Schloß Enna ist fast prächtig. Wir sind sehr arm. Aber wir haben unsern eigenen Kaplan. Die höchsten und wichtigsten Dinge im täglichen Leben sind für uns, Messe zu hören, zur Beichte zu gehen, die Fasten zu halten, die Feiertage zu ehren, die Heiligen anzurufen, der Mutter Gottes zu dienen, um uns dadurch ein möglichst großes Anrecht auf den Himmel zu erwerben.

Wir geben von unsrer Armut den Armen; wir opfern Kerzen und Wachsbilder; wir machen Bußübungen; wir gehen wallfahrten; wir sind des Herrn mit allem, was wir haben; wir sind treue Anhänger, heiße Schwärmer, sind Fanatiker unsres triumphierenden katholischen Glaubens und der alleinseligmachenden Kirche.

Mein rauher Vater betet ebenso zerknirscht wie meine süße Mutter. In der Passionszeit leiden wir mit dem Heilande; jedem Geistlichen mußte ich schon als Kind die Hand küssen; die Triumphe der Kirche sind die Triumphe des Hauses Enna; jeder Nichtgläubige oder Mindergläubige oder Andersgläubige gilt uns als Feind Gottes und ist daher unser eigener Feind.

Dieser Strom schweren katholischen Blutes ist der Lebensstrom unsres alten Geschlechts. Auch ich habe davon manches Tröpflein in meinem Blut; aber – geistlich kann und kann ich nicht werden! Auch nicht meiner süßen Mutter zuliebe.

Auf Schloß Enna ist gegenwärtig meine kleine zukünftige Braut zu Besuch, was jedes Jahr einige Male geschieht. Auch meine Mutter liebt das Kind vom Platterhofe zärtlich. Aber sie klagt: das Judithlein sei so ganz anders als andre Mädchen von fünfzehn Jahren, und sie könne sich in dieser verschlossenen und tiefen Natur nicht zurechtfinden. Noch mehr bekümmert ist meine liebe Mutter, daß dieses junge Geschöpf Gottes nicht die so breit getretenen Wege des Herrn wandelt, sondern auf einsamen Pfaden für sich allein ihren Gott sucht und mit offenbarem Widerstreben den streng katholischen Bräuchen des Landes und unsres Hauses sich fügt. In ihrer leisen, eindringlichen Weise redet meine Mutter immer wieder und wieder in das Judithlein hinein, erhält aber immer wieder und wieder zur Antwort: solche Dinge ließen sich nicht erzwingen. Und sonst kein Wort über ihren Glauben an Gott und die Heiligen, wie innig meine Mutter auch bittet, oft in wahrer Herzensangst um das Seelenheil der jungen Christin. Diese bleibt gelassen und ernsthaft, bleibt gegen meine Mutter stets gleich liebevoll und zugleich in allem und allem voll eigenen starken Willens, als wäre das Kind bereits ein großer Mensch mit allen Leiden und Erfahrungen eines solchen. Meiner guten Mutter kostet dieses absonderliche Wesen manchen schweren Seufzer. Auch das weiß ich: daß sie über meine leidenschaftliche Liebe zu dem schönen und seltsamen Geschöpf bitter betrübt ist und in ihrer geheimsten Seele zwischen unserm ruinenhaften, armseligen Schloß Enna und dem stattlichen, reichen Platterhof einen Abgrund wünscht, darüber keine Brücke führt. Das Judithlein braucht indessen nur zu kommen, braucht nur da zu sein, und meine Mutter ist von uns die erste, die ihrem Zauber sich ergibt. Und dann sollte ihr großer dummer Junge dagegen gefeit sein? So habe ich denn bereits allerlei Kümmernisse und Nöte. Auch andres betrübt mich. Wenn nämlich das Judithlein bei uns ist, sehe ich plötzlich die bröckelnden Mauern und zerrissenen Wände meines heißgeliebten Schlosses Enna; ich sehe plötzlich die schadhaften Fußböden und Decken, die verblichenen und zerfetzten Tapeten, die verblaßten und zerstörten Malereien, das wurmstichige Holzwerk, das alte, schlechte Gerät und all die andern trübseligen Reste aus früheren besseren Zeiten. Vom Keller bis zum Dache ist das große Haus mit Gerümpel angefüllt. Ich möchte über alles einen Glanz werfen, der für Judiths allesschauende Augen den Verfall unsres Schlosses verhüllte. Nicht etwa, daß ich unsrer Armut mich schäme; aber sie tut mir weh. Sie tut mir jedoch nur dann weh, wenn das Judithlein bei uns ist, und lediglich seinetwillen. Weil ich das Kind so unsinnig liebe, und weil ich im Grunde meiner Seele ein solch unbändig stolzer Mensch bin, kann ich nicht ertragen, daß es womöglich Mitleid mit uns fühlt, was für die kleine Herrin vom Platterhofe – so denke ich mir – womöglich noch schmerzlicher und demütigender ist als für uns. Sie läßt es jedoch nicht merken. So jung sie ist, hat sie bereits eine große Kunst, den Ort, wo sie sich gerade befindet, mit ihrer Gegenwart zu erfüllen. Ehe ich mich's versehe, liegt der Schein, mit dem ich für sie das große, ruinenhafte Schloß Enna umschleiern möchte, bereits darüber gebreitet. Nur daß all der Glanz von ihr selbst ausgeht. Dann bin ich glücklich.

Ja, und dann geben wir uns so recht als das, was wir beide noch sind: als zwei Kinder. Das öde Haus tönt von unsrer glücklichen Jugend. Hand in Hand durchstreifen wir den Schloßboden, wo ich mit meiner Gefährtin Versteckens oder Blindekuh spielen möchte. Denn, wenn ich das Judithlein finde oder erhasche, muß es sich von mir küssen lassen auf seinen kirschroten, weichen, jungen Mund.

Rings um das Schloß breitet sich eine weite, wonnige Wildnis. Sie zieht sich hoch von der Plose bis an den Eisack hinab, der genau so wild ist wie mein siebzehnjähriges Gemüt. Das Land rings um Enna ist derartig verwachsen, daß mein Vater den Hochwald müßte ausroden lassen, um für den Maisbau etwas mehr Feld zu beschaffen. Es wird jedoch bei uns weder ausgerottet noch angebaut; denn wir lassen für uns den Himmel sorgen, und der läßt selbst für unser frommes Haus keine Maisfelder und Weinberge wachsen. So sind wir denn in unserm Gott und in unsrer Armut erhaben; und ich freue mich, rings um Schloß Enna nach Herzenslust herumstreifen zu können, nicht anders, als wäre ich mitten im Urwald. Ich merke wohl, wie dies gleichgültige Wesen dem Judithlein in tiefster Seele verhaßt ist. An allen Ecken und Enden möchte sie es anders haben. Wenn sie später einmal ihren blühenden Platterhof verkauft, kann sie ja auf Schloß Enna – denn mein Herr Bruder bleibt gewiß beim Kaiser in Wien – die Wildnis vertreiben. Das soll sie auch einmal: als seine Herrin! Bis dahin mag es bei uns gehen, wie es eben geht.

Auf unsern Herrntisch kommt für gewöhnlich nur grobe Bauernkost. Es gibt bei uns viel Sterz und Polenta, viel Speck und geräuchertes Fleisch. Dazu als Trunk schlechten Wein und gute Milch. Zum Glück sorgt Junker Rochus für Wildpret und Fische. Haben wir jedoch das Judithlein zu Gast, so ruhe ich nicht, bis unsre Tafel bestellt ist, daß unser Kaiser selbst bei dem Grafen von Enna speisen könnte. Auch Blumen müssen dann unsern Tisch zieren; denn so ist sie es auf dem Platterhofe gewöhnt. Meine süße Mutter seufzt, mein gestrenger Herr Vater brummt dazu und – beide lassen es seufzend und brummend geschehen, behandeln das Bürgerkind wie eine verwunschene Prinzeß und lassen im übrigen den Himmel walten.

Mit Judith zusammen bin ich einer Todesgefahr entronnen, Wir schienen verloren, und ich möchte fast von einem Wunder reden, welches der Himmel für uns Kinder geschehen ließ. Meine Mutter ist darüber in Verzückung, läßt dafür eine Dankmesse lesen und vor dem Bilde meiner Schutzheiligen, Santa Barbara, geweihte Kerzen abbrennen. Sie glaubt mich zu großen Dingen ausersehen, die ich zu Ehren Gottes vollbringen soll, da allein Gottes Gnade mich am Leben erhielt. Meine fromme Mutter vergißt, daß Judith Platter mit mir war, daß wir beide in Todesgefahr standen, beide aus Todesgefahr gerettet wurden; daß also der Himmel selbst mich und sie für das Leben zusammengab. Aber ich will aufschreiben, wie die Sache sich zutrug.

Wassersgefahr in Tirol! Wassersnot am Eisack!

Man muß das erlebt haben. Und wenn es gar inmitten einer glückseligen Frühlingszeit ist! Plötzlich kann die Not, kann die Gefahr da sein: über Nacht, in einer Stunde, einem Augenblick. Nach lang anhaltenden heftigen Regengüssen. Oder während eines Wolkenbruchs, der nicht einmal über uns herabzufluten braucht, sondern in einer von unserm Tale weit entfernten Gegend geschehen kann. Oder wenn im ersten Frühling ein wilder Föhn aufbraust und die weichen Schneemassen der Alpen zum schnellen Schmelzen bringt.

Nach allen Seiten hin stürzen von den Firnen und Felsen, aus Schluchten und Schrunden Gießbäche herab. Sie fluten zusammen, sammeln sich. Als Bergstrom entwurzeln sie Wälder, spülen die Erdschichten ab, reißen Wände ein. Eine braune, gewaltige Schlamm-Masse wälzt sich verheerend hernieder: tiefer und tiefer, näher und näher. Während über die Ortschaften der oberen Täler die Sintflut bereits zusammenschlägt, denken die Bewohner der unteren Dörfer: »Es hat wohl noch Zeit; es kommt wohl noch nicht.«

Aber schon ist es da, oft in Augenblicksschnelle! Was soeben noch ein kleines, munter dahinfließendes Bächlein war, ist jetzt ein wildes, wütendes Gewässer. Es schwillt und steigt, brandet und braust, tobt und tost, wächst an zu einem beutegierigen Ungeheuer. Die wirbelnden, wallenden Wogen zerreißen die Ufer, zerbrechen die Dämme, strömen über, stürzen sich auf das arme, wehrlose Land. Die Glocken wimmern und warnen:

»Wassersnot! Wassersgefahr!«

Niemand dachte daran, obgleich die ganze Nacht Südwind geweht hatte. Am Morgen war es wundervoll. Wolkenloser, tiefblauer Himmel und kein Lüftchen unter den Wipfeln der Edelkastanien. Wir, das Judithlein und ich, waren seit dem frühen Morgen unterwegs gewesen: zu Fuß über Brixen nach dem Neustift, woselbst wir bei dem Klostergärtner eine Bestellung auf junge Marillenbäume machten, mit denen Judith ein ganzes Feld bepflanzen lassen will. Denn diese fünfzehnjährige Landwirtin meint: weil im Brixenerlande die Marillen gar so herrlich gedeihen, so sei mit den saftigen Früchten eine große Kultur zu betreiben. Auf dem Heimwege, als wir wieder durch die ehrwürdige Bischofsstadt kamen, führte ich meine Dame in das weit und breit berühmte Gasthaus zum »Elefanten« und traktierte sie zu meinem nicht geringen Stolz mit Backwerk und süßem Wein. Nachmittags waren wir denn doch etwas ermüdet und wußten nichts Besseres anzufangen, als den Schloßberg hinunter und an den grünen Eisack zu schlendern, den Nachen zu lösen und uns gemächlich stromabwärts treiben zu lassen. Wohlig glitten wir auf den weichen Wellen zwischen dicht bebuschten Ufern dahin, bis wir an unserm Lieblingsort anfuhren. Dies ist ein winziges Eiland, mitten im Strombette. Weiden haben es gebildet, die, durch eine Hochflut vom Ufer losgerissen, von den Wirbeln zusammengetrieben und hier festgeankert sind. Rings schießen üppig Schilf und Riedgras auf und ein Polster von Moos und Kräutern füllt das Innere, in welches man durch das Weidengeäst wie durch ein Bollwerk dringen muß. Angelangt, schlang ich die Kette um einen Stamm und schlüpfte mit dem Judithlein aus dem Nachen in das schöne Versteck. Hier ruhten wir nun auf einem Bette von gelben Primeln wie inmitten blühenden Goldes, umwallt von den im Sonnenschein schimmernden Wänden der knospenden Weiden, umrauscht von den murmelnden Wellen des jungen Eisack, welchen Blumen, Schilf und Dickicht uns vollständig verbargen, so daß das Wogenrauschen sich anhörte wie mystische Musik. In den Büschen flötete eine Amsel, die Schmetterlinge gaukelten über uns hin, und die Luft ertönte vom Summen der Insekten. O du mein lieber himmlischer Vater, wie ist deine Welt doch so schön, so wunderschön mit dem Judithlein an der Seite! Lang ausgestreckt lag ich großer Junge auf dem Rücken, schaute weit offenen Auges in das Glanzmeer des Äthers, lauschte auf alle Stimmen der lebendigen Gotteswelt und fühlte meine Jugend, meine Kraft und mein Glück wie einen heißen Strom meine Seele durchbrausen. Ich weiß nicht, was mir durch den Sinn fuhr; aber auf einmal fragte ich das Judithlein mit großer Heftigkeit:

»Warum hast du eigentlich deinen aparten Glauben? Es wundern und bekümmern sich alle darüber. Du bist doch eine Tirolerin; und du bist doch noch ein wahres Kind. Wie kannst du also deinen Glauben für dich allein haben wollen?«

Da ich über mir in die Luft starrte, sah ich sie nicht an, als sie erwiderte: »Wie ich das kann? Ich weiß gar nicht, daß mein Glaube apart ist, wie du es nennst.« »Ich möchte wissen, wie man es sonst nennen soll,« rief ich trotzig.

»O du wilder, böser Rochus,« sprach das Kind weiter. »Sieh, ich hatte solche engelsgute Mutter. Von meiner Mutter sagten die Leute auch, daß sie einen aparten Glauben hätte. Ich verstand es nicht; denn ich war noch ein ganz kleines Ding, als meine Mutter starb. Ich wußte nur, daß sie so gut, o so gut war, etwa wie deine Mutter. Und als sie gestorben war, hörte ich die Leute von ihr sagen, ihre Seele müsse lange Zeit im Fegefeuer brennen, weil sie einen aparten Glauben gehabt hätte.

»Meine engelsgute Mutter lange Zeit im Fegefeuer, in den gräßlichen Flammen! Ich weiß noch, wie ich viele Tage und Nächte immerfort geschrieen und geweint habe; wie ich einen großen Krug nahm und mit Wasser füllte; wie ich hingehen wollte, um das Fegefeuer, darin die Seele meiner Mutter brennen sollte, zu löschen. Und ich weiß noch, wie ich meine kleinen Hände ins Herdfeuer hielt, um zu fühlen, ob das Brennen sehr weh tat.

»Es tat sehr, sehr, sehr weh. Und was war der kleine Schmerz gegen die Qualen, die meine Mutter erdulden mußte? Mir taten meine Hände weh, und sie mußte am ganzen Leibe brennen; ich hielt meine Hände nur für wenige Augenblicke in die Flamme, und sie mußte lange, lange Zeit darin dulden.

»Ich weinte und schrie, wußte nicht aus und ein, hatte niemand, der mich hätte trösten können.

»Niemand, niemand!

»Wenn dann die Leute von dem lieben Gott zu mir sprachen, von dem gekreuzigten Heiland, der süßen Mutter Gottes und allen Heiligen, so dachte ich immer nur an meine Mutter, daß sie im Fegefeuer brennen mußte, daß der liebe Gott es zugab und daß auch die süße Mutter Gottes und alle Heiligen es ruhig geschehen ließen. Da bekam ich eben meinen aparten Glauben, wie du es nennst und wie solchen meine gute Mutter auch gehabt haben soll.«

Jetzt wußte ich's und jetzt war ich still.

Beide waren wir ganz still, ruhten unter goldenen Blüten im Sonnengefunkel; lauschten auf das Wellengemurmel und den Amselgesang; wurden plötzlich köstlich müde; schliefen fest ein. Ein Rauschen weckte mich auf. Nein! Ein Sausen war es, ein Brausen. Es schien aus der Tiefe aufzusteigen, aus den Lüften niederzudringen. Dabei war kein Sturm. Kein Lüftchen regte sich. Regungslos standen in dem gelben Abendlicht die Weiden, standen Röhricht und Schilf. Und immerfort das Sausen und Brausen, von dem ich nicht wußte, woher es kam und ob es fern oder nah war?

Plötzlich fühlte ich unter mir das Bett von Gras und Blumen, darauf das Judithlein noch immer im tiefen Schlummer lag, heftig erbeben. Dann ein Anprall, ein gewaltiger Stoß, bei dem ich meine zukünftige Braut aufriß und fest umklammert hielt. Zugleich vernahm man durch das Sausen und Brausen vom Strom aufwärts her schrilles Glockengeläute.

In Brixen läuteten sie die Notglocke: Wassersgefahr!

Und jetzt von allen Seiten die wilden Töne ... Von allen Höhen gellte es herab, aus allen Tälern und Schluchten:

Wassersgefahr!

Judith im Arm, die nicht einmal zitterte, stürzte ich zum Dickicht, wo der Kahn angebunden war. Wir drangen durch das wirre Gezweig. Kein Kahn war zu sehen! Ringsum braune, wogende, wirbelnde, tosende Fluten, welche die Kette des Nachens gelöst und diesen hinweggetrieben hatten.

Ich konnte schwimmen, ich hätte mich retten können – mich allein. Judith erkannte sogleich die Todesgefahr. Sie rief mir zu: »Rette dich!« Ich antwortete ihr: »Weißt du nicht, daß du einstmals meine kleine Braut sein sollst?« Da lachte sie mich an, was sie zuvor nie getan hatte.

Die Scholle unter uns ächzte und schwankte. Wie mit unsichtbaren wilden Armen riß es an unserm Eiland, über dessen Rand der Fluß stieg und stieg. Wir konnten berechnen, wann die Insel überflutet sein würde, wann wir miteinander untergehen mußten. Die Ufer waren einsam, die nächsten Ortschaften lagen weit entfernt; durch Menschenhand konnten wir also vor dem Tode nicht bewahrt werden. Nur durch ein Wunder. Überdies ward es bald tiefe Dämmerung. Und immer noch das Sausen und Brausen, immer noch die gellenden Hilferufe der Notglocken:

»Wassersgefahr: Rettet euch! Rettet euch!«

Um uns kreiste allerlei Gevögel wie in Todesangst. Und die Amsel, die uns in den Schlaf geflötet hatte, kauerte dicht neben Judith auf einem Zweig blühenden Weißdorns. Jetzt begann meine kleine Braut, mich zu bitten, daß ich mich allein retten sollte – ihr zuliebe! Meine Arme würden gewiß kräftig genug sein, um den wilden Fluten Widerstand zu leisten und sie glücklich zu durchschwimmen. Judith flehte und schmeichelte. Sie war so weich, so sanft und holdselig, wie ich nie gedacht hätte, daß sie sein könnte. Beide Arme schlang sie um meinen Nacken, preßte ihre Wangen an mein Gesicht, flüsterte in mich hinein und gab mir die süßesten Namen: ihr zuliebe am leben zu bleiben und sie allein sterben zu lassen.

Von meiner guten Mutter sprach sie zu mir, von meinem Vater, von meiner Zukunft und davon, daß ich einmal ein wackerer Tiroler werden sollte, ein tüchtiger Mann und guter Mensch, sich selbst und andern zur Freude und zum Nutzen. Sie fand in ihrer Todesangst um mein junges Leben Worte, wie ich solche niemals aus eines Menschen Mund vernommen hatte: nicht aus dem Munde eines Priesters und nicht von den Lippen meiner Mutter. Mit großen, feierlichen Worten drang das Kind in mich, am Leben zu bleiben.

Judiths Worte berauschten mich, daß ich nichts fühlte als eine Seligkeit, die mich im Tiefsten erschauern machte.

Eng umschlungen standen wir ... Es wurde dunkel und dunkler; es wurde Nacht. Immer höher stieg die Flut, während uns das Sausen und Brausen in der tiefen Finsternis wie ein Orkan umtoste. Ich dachte nicht an meine Mutter, die jetzt gewiß Todesangst um uns litt; ich dachte nicht an meine Zukunft, von der ich Großes geträumt hatte – ich dachte nur an meine kleine Judith Platter und daran, daß sie mit mir sterben würde, wenn kein Wunder uns errettete.

Da geschah es, daß mir einfiel: Du bist ein guter Katholik. Für einen guten Katholiken läßt der Himmel fort und fort Wunder geschehen. Du hast eine mächtige Schutzpatronin. Rufe sie an in deiner höchsten Not! »Heilige Barbara, hilf; heilige Barbara, bitte für mich. Heilige Barbara, rette uns; und ich gelobe dir –«

Was? Was? – Geistlich zu werden; Judith zu lassen ...? –

Lieber sterbe ich jetzt mit ihr! Und während ich noch dachte, daß ich meine Schutzheilige für uns arme Kinder nicht anrufen wollte, half sie uns bereits. Wir verspürten von neuem einen gewaltigen Stoß, der uns sicherlich umgeworfen hätte, wenn wir uns nicht an die Weidenbäume geklammert. Darauf begann das Inselchen sich zu drehen. Es begann zu kreisen, um alsdann, losgerissen und freigeworden, gleich einem Floß mit uns den hochgehenden Strom hinabzutreiben.


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