Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Drittes Kapitel

Der junge Maienmensch

Schloß Enna am Eisack, den 15. Mai 18..

Gestern ward ich siebzehn Jahre alt.

Des Festbratens wegen wird von meiner guten Mutter nämlich auch der Geburtstag gefeiert. Mein Namenstag ist im August, wenn die Früchte, die jetzt grade im Blühen begriffen, reif sind.

Ich bin ein rechter Maienmensch, ein glückseliges Frühlingskind bin ich. Alles in mir grünt und blüht. Mir ist so sonnig zu Sinn, so ahnungsvoll zukunftsfreudig, so unbändig lebensfroh.

Mitunter weiß ich gar nicht, was ich anfangen soll mit so viel Jugend und Kraft. Junge Bäume möchte ich zum Vergnügen ausreißen und mit Felsblöcken Boccia spielen, wie ein ungeschlachter Riesenknabe.

Für meine siebzehn Jahre bin ich übrigens ein mächtig großer Junge, nicht anders, als wäre ich zwanzig. Wie das ist, wenn man seine Jugend in allen Gliedern verspürt, in jedem Blutstropfen, in jedem Gedanken. Herrgott! O Herrgott!

Und hat man überdies solche Heimat wie mein altes, geliebtes, herrliches Schloß Enna am wilden Eisackfluß im schönen Brixener Tal; solches Vaterland wie das teure, heilige Land Tirol; solche Eltern wie mein Vater, dieser wahrhaftige Tiroler Rittersmann, wie meine Mutter – Ach, meine kleine, feine, himmlische Mutter! Gelt du, Mütterlein!

Eigentlich ist es zu dumm, daß ich großer, unbändiger Junge wie ein zehnjähriger Knabe auf der Schulbank in meinem luftigen, hohen Turmzimmer hocke und Tinte verschreibe. Hinaus, hinaus! Hinauf, hinauf! Hinaus in die Wälder und zu Pferde durch das ganze Tal; hinauf auf die Berge, auf die Plose oder auf die Dolomiten, auf die allersteilsten, allerhöchsten, unzugänglichsten! Dann weiß man doch, wozu der Mensch jung ist; dann fühlt man es doch.

Müde, todmüde sich reiten; laufen, klettern, jagen, fischen, toben und tollen. O du wunderschöne Maienwelt!

Aber im Zimmer zu lauern und zu schreiben – so weibisch ist's! Ich tue es aber doch und würde es tun, wäre es mir auch zwanzigmal mehr verhaßt. An meinem siebzehnten Geburtstage schenkte mir nämlich meine Mutter dieses dicke Buch voll lauter leerer Blätter. Ich weiß nicht, was ihr nur einfiel? Aber sie schenkte mir's. In das dicke Buch soll ich einschreiben, wie es mir im Leben ergeht. Und sonst allerlei. Ich will auf den vielen weißen Seiten so sprechen – genau so wie ich zu meiner lieben Mutter sprechen würde.

Ich verstehe es nicht. Meine Mutter bat mich jedoch, es zu tun. Und würde der Federhalter in meiner Hand zu glühendem Erz, so würde ich meiner Mutter zuliebe schreiben. Wäre das Buch nur nicht gar so schrecklich dick!

Wie mir's im Leben geht, soll ich in das Buch einschreiben .... Wie soll es mir denn im Leben anders gehen als gut, als köstlich, als herrlich? Weshalb also das dicke, dicke Buch? Ich werde nicht viel einzuschreiben haben.

Wüßte ich nur, was ich alles auf diese leeren Seiten schreiben soll, meiner zarten, stillen, himmlischen Mutter zuliebe? Daß ich Rochus heiße; daß ich der Zweitälteste und zugleich jüngste Sohn des Grafen von Enna bin; daß ich außer diesem älteren Bruder keine Geschwister habe; daß die Grafen von Enna ein uraltes Geschlecht sind; daß wir sehr viele Ahnen besitzen und herzlich wenig Geld und Gut; daß mir unsre vielen Ahnen, unser wenig Geld und Gut vollständig gleichgültig sind, obgleich ich so stolz bin, wie der Schlern hoch ist. Stolz auf meine Gesundheit, auf meine Kraft; stolz auf meine Eltern, mein Vaterland; stolz auf unser Schloß Enna; stolz auf meine Rüden, auf meinen Falben, meine Flinte, mein Jagdzeug, mein Jägerglück; stolz auf noch viel mehr. Also ein dummer Bubenstolz.

Ich lebe zu Hause bei den Eltern auf Schloß Enna. Mein Bruder ist in Wien in der kaiserlichen Pagerie. Als Ältester unsres Hauses soll er Hofkarriere machen. Lieber brächte ich mich um! Denn – kein freier Mann sein, heißt so viel, wie Diener sein, Knecht, Kreatur. Ich könnte selbst dem Kaiser nicht dienen. Nur dem Vaterlande! Der Kaiser ist ein Mensch. Das Vaterland ist etwas Heiliges.

Ich habe etwas in mir, von dem ich niemand sagen kann. Auch nicht meiner sanften, süßen Mutter. Noch weniger unserm guten alten Kaplan in der Beichte. So recht weiß ich selbst nicht, was es ist. Gewiß ist es etwas sehr Törichtes. Aber meiner guten Mutter zuliebe will ich es hier aufschreiben.

In mir ist etwas Wildes und Heißes, etwas Unbeugsames und Unbarmherziges, etwas Herrschsüchtiges und Herrschwütiges. Gehorcht mir ein Hund nicht, so schieß' ich die Bestie zusammen; zeigt sich mein Pferd widerspenstig, so Hetze ich das Tier halb zu Tode; sagt mir mein Vater einmal ein strafendes Wort, so empört sich in mir alles dagegen; wagte einer von unsern Leuten in mir nicht den Junker zu sehen, so möchte ich den Mann peitschen lassen.

Fast stets gelingt es mir jedoch, mich zu bezwingen, und es mögen mich daher alle wohl leiden. Aber wenn sie wüßten –

So jung ich noch bin, bezwingt ich mich doch. Denn ich will einmal andre bezwingen. Unterwerfen will ich mir einmal die Menschen, über sie herrschen!

Bisweilen ist mir, als wäre ich dazu bestimmt, in Zukunft eine große Gewalt auszuüben. Und das aus eigener Kraft.

Eben deswegen ist es mir vollkommen gleichgültig, daß ich sehr vornehm und sehr arm bin. Ich brauche keine Ahnen, keinen Adel, keine Reichtümer. Aus eigener Kraft will ich ein Mann werden. Wozu besäße ich sie sonst?

Aber fürs erste bin ich trotz meiner siebzehn Jahre ein törichter Knabe, werde noch lange ein törichter Knabe sein. Und das ist gut.

Gestern also an meinem siebzehnten Geburtstage schenkte mir meine liebe, liebe Mutter dieses garstige Buch. Außerdem erhielt ich ein neues Gewand aus braunem, schwerem Tirolerloden, grob, aber fest. Es wurde im Hause heimlich gemacht, zugeschnitten und genäht; denn die Schneider von Brixen sind für uns arme Grafenleute zu teuer. Sie hätten auch kein solches dauerhaftes Zeug genommen, und dieses nicht in einer Art zusammengeheftet, daß es Jahre und Jahre hält. Mein Vater tat zu dem mütterlichen Gewande einen Silbergulden, der, so hell er auch blinkt, bis zum letzten Kreuzer für schwarzes Pulver vertan werden soll. Und der Kaplan verehrte mir von seinem bißchen Armut ein hübsches Büchlein mit Legenden von der heiligen Barbara, deren besonderer Fürbitte die Grafen von Enna seit Jahrhunderten unterstehen. Ein mächtiges und reiches Geschlecht sind sie indessen trotz aller Hilfe der guten Heiligen niemals geworden, dafür aber ein fröhliches, kräftiges, trotziges. Auch heißt es in ganz Tirol: »Der freit ein Weib wie der Graf von Enna!« Ich glaube, das Sprichwort besagt: ein Graf von Enna nimmt sich diejenige Frau, die er gern hat; und müßte er sie vom Schlern aus dem Rosengarten des Königs Laurin herabholen. Aber ich weiß nicht, ob die heilige Barbara auch bei solcher wilden Freiern unsre liebe Schutzpatronin ist. Dann freien wir eben ohne himmlischen Schutz.

Das hätte ich jetzt fast vergessen aufzuschreiben: von dem gestrigen Geburtstagsbraten. Ich holte ihn mir selbst von der Plose herunter. Manche Mitternacht bin ich aufgestanden dieses Auerhahns wegen. Der Vogel hatte den Teufel im Leibe; denn nicht beizukommen war ihm. Sämtliche Jäger zwischen Mühlbach und Brixen kannten den alten Herrn, lauerten ihm auf und – bekamen ihn nicht. Ich wollte ihn jedoch an meinem Festtage verspeisen. Also half es ihm nichts. Es war ein mächtiges Tier, das mir die Schultern wund drückte, als ich die Beute zu Tal trug. Dafür war denn auch der Braten rechtschaffen zäh, aller würzigen Beize zum Trotz. Mir schmeckte er aber trotzdem.

Da meine Mutter mir nun einmal das Buch schenkte, will ich darin meiner Mutter zuliebe nach Möglichkeit alles aufschreiben. Mit der Sache, darüber ich jetzt treuestens berichten werde, wollte ich es eigentlich anders halten. Denn sie verdroß mich gar zu sehr. Ich wollte sie gestern sogleich meiner Mutter erzählen, unterließ es jedoch, um sie nicht zu erschrecken. Sie ist so zart und fein, und ich bin so wild und unbändig. Nun will ich mir das Ding vom Herzen herunterschreiben. Zum Glück ist das Wetter schlecht, obgleich für mich kein Wetter der Welt zu schlecht sein kann, um draußen herumzuschweifen, sei es zu Pferd im Tal oder per pedes bis zu den höchsten Höhen hinauf.

Gestern also in aller Frühe kommt meine steile Turmtreppe jemand heraufgeklettert. Ich strecke mich noch auf meiner Matratze – sie ist hart wie eine Felsenplatte –, habe jedoch die Augen schon weit offen und schaue zu, wie vom Himmel das goldene Morgenrot auf die Gipfel der Dolomiten niedersinkt, horche auf die Amseln in unserm Kastanienwald, lasse mir plötzlich einfallen, daß heute mein Geburtstag ist, daß es zu Mittag den Auerhahn zu verspeisen gibt, und daß jetzt in ihrem weißen Bettlein die kleine Judith Platter meiner gedenkt. Denn das Judithlein steht auch mit der Sonne auf. Gewiß kommt sie Nachmittag mit ihrer alten Frau Bürgermeisterin von Vahrn herüber. Dann laufen wir zwei Jungen den »Großen« fort und fangen in dem Eisack Forellen.

Also just freue ich mich auf das Judithlein, als es die Treppe heraufgepoltert kommt. Ich denke: das ist der Florian. Er wird fragen wollen, ob ich in aller Frühe ausreite? Sonst nimmt der Florian den Falben nach Kloster Neustift, um den Vätern des heiligen Augustin die drei Säcke Sterz zu bringen, die sie letzthin von uns kauften ... Es war aber nicht der Florian, sondern mein gestrenger Herr Vater in eigener Person, der in mein hohes Turmstüblein tritt, darin es wunderlich ausschaut; denn ein wackerer Reiter, Bergsteiger, Fischer, Jäger und Vogelsteller kann nicht wie ein Nymphlein hausen. Auch befinden sich in meiner Kammer mehr Sporen, Büchsen, Fallen, Netze, Angeln, Tierfelle, Vogelbälge, Alpenstöcke, Schneeschuhe, Eispickel und sonstiges nutzloses oder fröhliches »Allerlei«, als gelehrte und fleißige Schriften.

Mein Herr Vater bleibt denn auch auf der Schwelle stehen, läßt die Rüden, die mit ihrem Herrn das Zimmer teilen, achtlos an sich vorüberspringen, zur Tür hinaus, schaut sich wehmütig um, schüttelt kummervoll sein gewaltiges Haupt, seufzt aus vollem Herzen über seinen lieben lustigen Sohn Rochus, der alsogleich aufgesprungen und in die Hosen gefahren ist und nun in seiner baumlangen Größe respektvoll vor dem betrübten Schloßherrn von Enna aufgepflanzt steht.

»Siebzehn Jahre wird heute der Junge! Und was soll aus ihm werden?«

Also deshalb kommt mein Herr Vater in aller Morgenfrühe die hohe, steile Turmtreppe heraufgeklettert? Du liebe heilige Barbara – deshalb!

Was aus mir werden soll? An so etwas überhaupt nur zu denken, wenn man solch junger, gesunder, lebensdurstiger Mensch ist, ein echter Tirolerbub und ein hochgeborener Graf Enna dazu! Eben deshalb, meinte mein Herr Vater; denn:

»Gelernt hatte er nichts, der Junker Graf.«

Der hätte nichts gelernt? Schreiben, lesen und beten von seiner süßen Mutter; Kirchengeschichte und Tirolergeschichten von seinem alten guten Kaplan Plohner. Sogar Latein von seinem guten Kaplan. Reiten, schießen und jagen von seinem gestrengen Herrn Vater. Und wie der Junker reitet, schießt und jagt! Und was er sonst noch alles gelernt hat. Entweder vom Florian oder vom lieben Herrgott oder ganz von selbst.

Das erwidere ich meinem Herrn Vater und denke dabei:

Möchte doch wissen, was ich sonst noch zu lernen habe? Außer etwa ein wenig zu zechen und zu schlemmen. Ja, und noch eines: junge rote Lippen zu küssen – recht junge und recht rote ...

Das Zechen und Schlemmen wäre weiter nicht notwendig gewesen, und das letztere – wie wäre es, wenn ich es damit einmal versuchen würde? Bin ich doch heute bereits volle siebzehn Jahre alt, ohne von solcher geheimnisvollen Wissenschaft auch nur das geringste zu kennen. Das Judithlein würde übrigens ihren jungen roten Mund schwerlich als Versuchsobjekt hergeben; und andre Lippen mag ich nicht küssen, sie mögen noch so jung, rot und weich sein.

Während mir das durch den Sinn fährt, sagt mein Herr Vater: »Rochus, du machst uns Sorgen, mir und deiner Mutter. Wir sind arm, mein Junge. Unser Schloß Enna ist eine Ruine, und unser alter Name läuft in zerrissenen Schuhen durch die Welt. Was an uns noch heil ist – und das ist wenig genug – muß einmal dein Bruder an seinen Leib bekommen. Er ist der Älteste und der Stammhalter. Wird er nun auch durch des Kaisers Gnade versorgt, so bist du doch noch da. Und was geschieht mit dir? Sollen wir in Wien etwa auch für dich bitten und betteln? Bitten und betteln um was?«

Mir schoß das Blut zu Kopf, daß mir schwindelte. Ich stieß hervor: »Für mich beim Kaiser betteln gehen? Wenn Ihr mir das antätet!«

»Wie soll es also mit dir werden?«

»Ei, Vater, ich bin ja schon etwas! Meiner Eltern Sohn bin ich und ein Tiroler. Als ob das nicht genug wäre?«

Mein Vater sieht mich ernsthaft an, schweigt eine Weile und spricht dann, spricht mit leiser und, wie mich bedünken will, trauriger Stimme:

»Für dich bleibt nur eines übrig: nach Rom zu gehen und geistlich zu werden. In Rom haben wir für jeden zweiten und dritten Sohn, der geistlich wird, große Benefizien.«

»Für mich bleibt nichts andres übrig, als geistlich zu werden,« sprach ich meinem Herrn Vater nach, ohne recht zu wissen, daß ich es tat, und was es eigentlich bedeutete.

Mein Vater spricht mit derselben leisen und traurigen Stimme weiter: »Du weißt, daß fast jeder zweite und dritte Sohn unsres Hauses geistlich geworden ist, und das seit Jahrhunderten. Die meisten Töchter unsres Hauses werden geistlich. Hätte unser Geschlecht es mit seinen vielen Töchtern und Söhnen anders gehalten, bestünde es längst nicht mehr. Es wird dir also nichts andres übrig bleiben. Überlege es dir.«

Damit ging er.

Ich rief meinem Vater nach: »Ich will ein Graf von Enna bleiben und Judith Platter heiraten!«

Ganz wild rief ich es meinem gestrengen Herrn Vater nach. Und jetzt soll ich mir es »überlegen«.

Was überlegen?

Ob ich »auf geistlich« studieren will, wie unsre Tiroler Bauern sagen. Ich, der Junker Rochus, ein Priester, ein Mönch, ein Knecht in der Kutte ... Lieber bring' ich mich um.

Der Florian durfte gestern morgen die drei Säcke Sterz nicht ins Kloster Neustift fahren; denn sein Junker machte einen weiten Ritt. Ein wilder Ritt war es. Der Falbe bekam die Sporen und immer wieder die Sporen. Er flog nur so. Wie ein Falke flog mein Falbe. Binnen vierzig Minuten über Brixen bis nach Mühlbach hinauf! Ein andrer soll mir das nachtun.

Ich geistlich werden? Hei, Falber! Ich nach Rom, um in Rom geistliche Benefizien zu haben? Lauf, Falber! Jage, rase!

Und ich raste meine siebzehnjährige junge Seele auf meinem armen Falben still.

Den Rückweg nahm ich über das grüne, grüne Vahrn. Als ich von fern den Platterhof liegen sah, wußte ich bestimmt: eher stürzt der Schlern zusammen; eher blüht der »Rosengarten« in duftenden Gluten, als daß ich nach Rom gehe, um mit allen Benefizien der Kirche geistlich zu werden, denn:

Auch der jüngste Graf von Enna wollte dereinst ein Weib freien! Ein Weib vom Platterhof wollte er sich holen, und läge der Platterhof im siebenten Himmel.

Einstweilen lag er zum Glück noch auf der Erde, dicht vor mir, inmitten seines weit und breit berühmten Waldes von Edelkastanien. Baumriesen sind das, wie sie so alt und hoch, so stolz und prächtig selbst bei Schloß Enna nicht zu finden sind. Gleich grauen, gewaltigen Granitsäulen ragen die Stämme auf, und ein goldiger Schimmer schwebt jetzt wie Sonnenschein darüber: alle die feinen, ganz feinen jungen Knösplein und Blütlein.

Der Boden unter den Bäumen glüht scharlach von großen roten Orchideen. Auf der Terrasse vor dem Herrenhaus schießen Gras und Frühlingsblumen so üppig auf, daß der alte Edelsitz wie in einer fröhlichen Wildnis daliegt. Meine kleine Judith Platter ist nämlich die Schutzheilige sämtlicher Gräser, Kräuter und Blumen, und keine Hand darf sich danach ausstrecken, soweit ihr besonderes Gebiet reicht. Dieses aber ist der Kastanienwald, ist die große Terrasse, ist der Garten vom Platterhof.

Als ich gestern auf den Hof geritten kam, spielten vor dem Hause im warmen Frühlingssonnenschein Judiths Tiere; denn meine kleine Judith ist eine große Zauberin, der Tiere und Menschen unterliegen. Sie hat sich eine vollständige Menagerie wilder Bestien gezähmt. Als Schoßhündlein läuft ihr ein junger Edelmarder nach; zwei braune Falken umflattern sie wie Täublein, und an ihrer Seite stolzieren ein Reiher und ein Silberfasan. Und das sollte keine Hexerei sein?

Also: als ich gestern auf meinem Falben angetrabt kam, waren Judiths Marder, Judiths Falken, der Reiher und Silberfasan vor dem Hause auf der Terrasse. Meine Rüden, die immer dort sind, wo ihr Herr ist, kennen Judiths Haustiere so gut, wie ihr Herr deren Gebieterin kennt, haben sich mit ihnen auch ebenso angefreundet. So gab es denn mit dem Marder das lustigste Spektakel, bei dem der Reiher würdevoll dastand und sich die Lustbarkeit mit klugen Augen anschaute. Da hörte Judith die Hunde und kam aus dem Hause gelaufen. Gelaufen! Das ist nicht wahr. Sie kam gegangen, geschritten. Bei aller inneren Helle und Heiterkeit hat das Judithlein etwas Gehobenes, schier Feierliches an sich – anders weiß ich ihr besonderes Wesen nicht auszudrücken.

Sie schritt mir also entgegen, im hellen Morgengewande, die graue Steintreppe herab. Einer ihrer Edelfalken kreiste über ihr, gleich einem Adler über dem Haupt einer jungen Göttin. Der Reiher breitete, so gut er konnte, seine beschnittenen schimmernden Schwingen und flatterte auf sie zu. Auch das andre Getier, soviel beisammen war, stürzte der feinen, lichten Gestalt entgegen. Von meinem Falben herab grüßte ich die zukünftige Gräfin von Enna ritterlich, schwang mich aus dem Sattel und ließ mein müdes Roß frei laufen. Es begann sogleich unter den goldenen Kastanien, zwischen den scharlachroten Orchideen zu grasen.

Des Judithleins Morgengruß war: »Du wolltest wohl deinem Falben zeigen, daß sein Herr heute siebzehn Jahre alt geworden ist? Wie wirst du es erst mit zwanzig treiben!«

Sie hat gar keine sonderlich weiche und zarte Stimme, meine zukünftige Braut; in ihrer Stimme liegt eine stille Kraft. Dabei sagt sie alles sehr gelassen, fast leise. Ich hörte sie niemals laut rufen oder gar schreien, wie ich sie auch niemals laufen sah. Aber obgleich ihre Stimme weder weich noch zart ist, so ist mir's, wenn sie redet, als hörte ich fernen, leisen Gesang. Das machen ihre Augen.

Die Augen meiner kleinen blonden Judith sind rabenschwarz, mächtig groß und haben einen tiefen, tiefen Blick. Ihre Augen sind so voller Glanz, daß ihr Gesicht etwas Strahlendes hat; und wie etwas Strahlendes liegt es für mich über ihrer ganzen Gestalt...

Ich weiß nicht mehr, was Übermütiges ich ihr erwiderte. Es muß aber etwas sehr Siebzehnjähriges gewesen sein, denn sie sagte: »Wilder Rochus!«

Auch das ist ihr eigentümlich, daß sie selten lächelt, fast nie. Trotzdem liegt auf ihrem Gesicht solche Morgenhelle. Es ist wahres Frühlingslicht.

»Schön, daß du dir selbst meinen Geburtstagsgruß für dich holst,« meinte sie dann, das Getier leise von sich fortscheuchend. »Ich wollte dir grade schreiben und hatte schon ein Päcklein für dich zurecht gemacht. Meine gute Frau Bürgermeisterin hat heute einen bösen Gichttag; ich hätte also nicht kommen können, dir zu gratulieren, du großer, lieber Mensch.«

Ich muß aufschreiben, daß die Eltern meiner kleinen Judith tot sind; daß mein Bräutlein schon jetzt die Herrin vom Platterhof ist; daß eine entfernte Verwandte, die verwitwete Frau Bürgermeisterin Leitner aus Bozen, mit ihr auf dem Platterhof haust. Die zukünftige Gräfin von Enna ist ein wohlhabendes Patriziermägdlein, mit dem mein gestrenger Herr Vater als Schwiegertochter wohl zufrieden sein darf. Vor kurzem wurde sie fünfzehn Jahre.

Und dann soll ich Mönch werden!

Begleitet von der ganzen Judith-Menagerie und meinen Rüden gingen wir miteinander um das Haus, welches noch von alten Zeiten her eine wahre Burg ist, mit gewaltigen Mauern und Zinnen, Türmen und starken Toren, bedeckten Treppen und hölzernen Laufgängen. An diesem Urhause des Platterhofes hatte seit vier Jahrhunderten jede Zeit angeflickt, was jede Zeit für sich grade bedurfte. Das mußte also das vergnüglichste Durcheinander geben! Jetzt war das Mauerwerk aller Jahrhunderte gleichmäßig mit großblätterigem Efeu und anderm Gerank bedeckt; und die Dächer der alten sowohl wie der neuen Zeit waren von einer dicken, leuchtenden Moosschicht überzogen.

»Ist das schön bei dir, Judith! Auf der Welt gibt es doch nichts Schöneres als deinen Platterhof und unser altes Schloß Enna!«

Da sagte das junge Ding: »Bin ich erst einmal erwachsen, daß ich keinen Vormund mehr habe und tun kann, was ich will, so verkaufe ich den Platterhof.«

Ich blieb stehen und schaute sie an, die das Schreckliche ganz gelassen gesagt hatte.

»So verkaufst du den Platterhof? Den alten, herrlichen Hof, der deinem Geschlecht seit vielen Jahrhunderten gehört; diesen Herrensitz, der so schön ist, den du so liebst, willst du fremden Leuten verkaufen?«

»Bin ich erst groß und stark, so muß ich etwas zu tun haben,« erklärte das Kind wiederum durchaus ernsthaft. »Hier kann ich nichts tun, als die Dinge lassen, wie sie sind. Ich muß etwas Neues schaffen; und hier ist alles schon fertig, im Hause sowohl wie auf den Feldern und den Weinbergen. Alles geht hier seinen hergebrachten guten Gang; alles ist im vortrefflichen Zustand und braucht nur die Aufsicht. Das kann jeder gescheite Verwalter besorgen oder sonst irgendwer.«

»Deine Tiroler Heimat willst du verkaufen?« fragte ich wieder, noch immer ganz fassungslos.

Und die Antwort lautete: »Ich will eine Heimat haben, die ich mir selber geschaffen habe.«

Ich war so wild auf die Abtrünnige, daß ich nicht zu reden vermochte. Denn eine Tirolerin, die ihre Heimat verkaufen kann, wird nie und nimmer eine Gräfin von Enna. So wild war ich, daß ich mich vor Zorn gar nicht zu fassen vermochte.

Aber das törichte Geschöpf sprach in seiner gleichmütigen Art weiter: »Jetzt möchtest du mich am liebsten erstechen, du wilder Rochus. Einstweilen laß das noch und komme lieber mit mir. Ich will dir zeigen, was ich dereinst tun möchte: so im Großen, verstehst du.«

Sie führte mich in den Garten, wo es Gemüse und Früchte gibt, wie nirgends wo anders im Lande, und wo mitten in den Kräutern und Blumen buntbemalte Bienenstöcke stehen, die einen Honig liefern, als wäre der Platterhof, den seine kleine Herrin, wenn sie erst groß geworden, verkaufen will, das Land, darinnen Milch und Honig fließt.

Vor dem Garten mußte die Menagerie mit den Hunden zurückbleiben, nur das Falkenpaar durfte mit. Wir gingen die mit hohen Himbeer-, Johannis- und Stachelbeersträuchern eingefaßten Wege dahin; gingen an den mit seltenen Obstsorten überzogenen Spalieren entlang, an den bereits reifenden Erdbeeren vorüber und gelangten zu den Blumenbeeten, wahren Gefilden von Tulpen und Hyazinthen, von Narzissen und Veilchen. Alsdann traten wir in den großen Kräutergarten, darüber eine Wolle von Wohlgerüchen schwebte und Scharen von Schmetterlingen, Bienen und Käfer gaukelten. Hier deutete Judith auf einige Rosenstöcke, an denen nichts andres Merkwürdiges zu sehen war, als daß sie prächtig Knospen angesetzt hatten.

Sie sagte: »Sieh, wilder Rochus! Diese Rosenstöcke hatte der Gärtner fortgeworfen. Ich fand sie im Kehricht. Sie schienen verdorrt und ganz tot zu sein. Jetzt sieh sie an!«

Dabei hatte das Kind einen seltsamen Glanz in den Augen. Darauf sprach es weiter: »Das will ich in Zukunft tun: Verwelktes wieder zum Blühen bringen, Krankes wieder gesund machen, halb Erstorbenes zu neuem Leben erwecken.«

Mein ganzer Grimm verflog bei dem heiligen Ernst, mit dem das Judithlein diese großen Dinge sprach. Und ich mußte über die kleine Weisheit in ein übermütiges Gelächter ausbrechen. Sie nahm meine unbändige Lustigkeit über ihre Kinderphantasie so gelassen hin, wie sie meinen mühsam gebändigten Zorn über den »Verrat« am Vaterlande hingenommen hatte.

In bester Eintracht begaben wir uns nun ins Haus. In dem großen Saalflur standen die Türen zu sämtlichen Zimmern weit offen, daß all das Blühen und Duften des Mais, all das Flimmern und Funkeln des Sonnenscheins hereindrang in den weiten, dämmerigen Raum, dessen vielhundertjähriges Getäfel aus Zirbenholz an Decken und Wänden ebenso berühmt ist, wie vor dem Edelsitz der Kastanienwald. Wo in Tirol von dem grünen, grünen Vahrn gesprochen ward, sprach man auch vom Platterhof; und jedesmal hieß es:

»Ja, der Platterhof! Der hat einen Kastanienwald und ein Getäfel, das man gesehen haben muß. Und der Platterhof hat Rosmarinäpfel und Muskatellerbirnen, hat Honig und Butter, die man gegessen haben muß. Und er hat Wiesen und Maisfelder, Knechte und Mägde, auf die der Herr vom Platterhof stolz sein kann. Aber der Herr vom Platterhof wird einstmals eine Herrin sein. Judith heißt sie. Diese Judith Platter wird einstmals eine!«

Inzwischen dachte diese »Eine« daran, den alten, hochherrlichen Platterhof zu verkaufen, um in der weiten Welt nach verwelkten Sträuchern zu suchen, die sie wieder grün machen könnte...

Und inzwischen hatte das Judithlein im Saalflur für ihren großen siebzehnjährigen Freund vor der weit offenen Haustür den Tisch gedeckt, diesen mit des Junkers Lieblingsspeisen beladen und die Tafel mit einem gewaltigen Strauß Maiblumen geschmückt. Gleich einem König saß der Junker unter dem schimmernden Getäfel, über dem schneeweißen Linnen und hatte vor sich auf wie Silber blinkenden Zinnschüsseln schwarzes Tirolerbrot und goldige Tirolerbutter, rosigen Platterhof-Schinken und – sein Leibgericht – einen Berg leuchtender Riesenkrebse! Die Ahnen meiner Judith schauten von den Wänden herab zu, wie es der Junker Graf auf dem Platterhof sich schmecken ließ, und sie machten dazu entsetzlich ehrbare Gesichter. Einige sahen sehr unwirsch, fast drohend drein, als wären die alten Platters mit einer Heirat zwischen dem Junker von Enna und dem Töchterlein ihres Geschlechts genau so wenig zufrieden, wie des Junkers erlauchte Ahnen sein würden. Ich lachte sie jedoch im Herzen samt und sonders aus, die alten Platterleute sowohl wie die noch älteren Grafen von Enna. Ernsthaft saß das Judithlein neben mir, öffnete für mich mit ihren braunen, festen Händlein gar zierlich die Krebsscheren – bei den Schwänzen verrichtete ich die mühsame Arbeit selbst – und die vierfüßige Gesellschaft, Rüden und Edelmarder, warteten mit Ungeduld, bis der Junker gespeist hatte.

Daß ich nicht vergesse: das Päcklein, welches dem Geburtstagskind bei seiner Ankunft zurecht gemacht werden sollte, trug ich später auf dem Falben mit mir nach Hause. Es enthielt die herrlichsten Dinge für Jagd, Vogelfang und Fischerei.

Nein, mein gestrenger Herr Vater, nach Rom geht der Rochus nicht!


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