Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Sechstes Kapitel

»Durch mich – für mich«

Während Pater Paulus zu dem Büßerkloster in den Dolomiten, dahin er seiner schweren Schuld willen geschickt wurde, auf einsamen wilden Wegen emporstieg, versuchte er noch immer das gräßliche Ereignis zu fassen: »Kreuzige! Kreuzige dich selbst!« – hatte er dem Schwärmer zugerufen; und dieser kreuzigte sich selbst.

Nicht seine junge gläubige Menschenseele schlug Einhard vom Rinn an das Kreuz des Entsagens und Leidens, sondern seinen armen zarten Knabenleib.

Am Karfreitag sang er mit den Gefährten am Grabe des Heilands das Miserere; und niemals war seine Stimme so voll weichen Wohllauts gewesen. Wie eine Stimme von oben herab schwebte sie über Christi offener Gruft, bei welcher der Sänger in der Nacht Totenwache gehalten. Jeder, der dem süßen Klange lauschte, fühlte sich davon wundersam ergriffen; und es entstand rings um das geschmückte Gottesgrab ein stilles Weinen all der Mütter, die gekommen waren, um in der Kirche von Kloster Neustift den gekreuzigten Sohn einer Mutter auf seinem letzten Lager gebettet zu sehen. Danach vermißte man den Sänger.

Er wurde durch einen ganzen Tag, durch eine ganze Nacht gesucht; wurde im Morgengrauen des Ostersonntags gefunden: von Pater Paulus in der St. Michaelskapelle, die ihres Alters und Verfalles willen geschlossen war und deren Schlüssel der Klosterschüler dem Pförtner entwendet hatte.

Vor dem verödeten Hochaltar führte der unselige Jüngling die grausige Selbstkreuzigung aus ...

Mit zerrüttetem Denken versuchte Pater Paulus wieder und wieder den unmenschlichen Vorgang sich vorzustellen: Einhard vom Rinn entfernte sich nach dem Ave aus dem Kloster, und da am Karfreitag des strengen Fastens wegen die Abendmahlzeit ausfiel, so konnte er sich unbemerkt fortschleichen. Es gelang ihm, auch aus dem inneren Klosterhof zu entweichen. Der Werkstatt des klösterlichen Zimmermanns entnahm er Nägel und Hammer; fand daselbst auch eine spitzige Feile, nicht unähnlich einem Dolch. Mit Wachskerze und Zünder hatte er sich im Kloster versehen.

Er schlich zu der altertümlichen Kapelle; öffnete mit verrostetem Schlüssel mühsam die schwere Tür; trat ein; schloß Welt und Leben hinter sich aus.

Wahnsinn mußte ihn gefaßt haben: die Wahnidee des religiösen Schwärmers, des Fanatikers, Märtyrers: »Kreuzige! Kreuzige dich selbst!«

Aber – kreuzige dich nicht deiner selbst willen. Auch nicht wegen der Leiden und Sünden der Menschheit: kreuzige dich wegen des Leidens und der Schuld eines Menschen, der dir lieb ist.

Denn darum hat der Knabe das Furchtbare vollbracht: um des geliebten Lehrers willen, der schwach im Glauben war, ein ungläubiger, also ein schlechter und falscher, ein unchristlicher Priester.

Durch mich, für mich.

Der Alpenwanderer dachte beständig nur das eine; malte sich den Vorgang, dafür es keine Vorstellung gab, mit fiebernden Pulsen, zerrütteten Sinnen beständig aus ... In der Kapelle schritt Einhard vom Rinn zum Hochaltar. Er zündete die Kerze an und begann die Vorbereitungen zu dem anderen Opfer, dem Menschenopfer, zu treffen.

Auf dem Hochaltar ragte einsam das hölzerne Kreuz, von dem der Gekreuzigte am Tage vor Karfreitag für die Grablegung herabgenommen und in die Klosterkirche geschafft worden war. Das Kreuz raubte der Opfernde von seinem Platz und legte es auf die Altarstufen. Jetzt entkleidete er sich. Der Kerzenschein fiel auf den jungen lauteren Körper, der in der Schönheit eines Epheben aufleuchtete. Dem erschlagenen Sohn Adams mochte dieser blasse Jünglingsleib gleichen.

Darauf betete der betörte Knabe lange, lange. Er betete mit heißer Inbrunst, die Verzückung ward:

»Herr, gib mir Kraft! Stärke mich, Herr, Herr! Dich rufe ich an! Siehe, dein lieber Sohn wurde für die ganze Menschheit gekreuzigt – ich will mich für einen, nur für einen Menschen an das Kreuz schlagen. Nimm mein Opfer gnädig auf!«

In der Ekstase des Märtyrers durchstach er sich Füße und Hände; bohrte sich die Nägel in die Wunde; legte sich blutüberströmt auf das Kreuz; trieb mit dem Hammer die Nägel ins Holz.

Es gelang ihm nur an den Füßen und der linken Hand. Vielleicht ward er darnach bewußtlos.

Jedoch noch einmal mußte er erwacht sein. Er mußte sich mit letzter schwindender Kraft den Speerstich in die linke Seite beigebracht haben ...

Er verblutete am Kreuz gleich einem Opferlamm:

»Durch mich – für mich!«

Blutüberströmt, als sei ei der Mörder, trug Pater Paulus den Leichnam auf seinen Armen aus der Kapelle. Als sei er der Mörder, wichen alle vor ihm zurück. Als sei er in Wahrheit der Mörder, klagte er sich selber an:

»Durch mich – für mich!«

Er wich nicht von dem Toten; wusch ihn; kleidete ihn; legte ihn in den Sarg; wachte bei ihm; grub ihm das Grab. Aber – er betete nicht für ihn.

Wenn dieser Tote nötig hatte, daß für seine Seele gebetet und Messe gelesen wurde – so gab es keinen allgütigen Gott. Auch keinen allgerechten.

Der Selbstmörder sollte kein christliches Begräbnis erhalten. Es sollten für ihn nicht die Glocken geläutet und sein Grab sollte nicht gesegnet werden.

Der hochwürdige Prälat war ein gütiger Herr; indessen – einem Selbstmörder wurde kein christliches Begräbnis gewährt. Das war nun einmal nicht anders.

Pater Paulus wollte aufschreien. Auflehnen wollte er sich gegen den Befehl seines Oberen, dagegen sich empören. Doch blieb er ruhig. Der tote Jüngling konnte über sein unchristliches Begräbnis kaum ruhiger sein. Er dachte wiederum:

›Wenn sein unchristliches Begräbnis einem Seelenheile zu Schaden gereichen sollte, so – gibt es weder einen allgütigen, noch einen allgerechten Gott. So gibt es überhaupt keinen Gott.‹

Er ging zu dem hochwürdigen Prälaten, grüßte ihn demütig, bat demütig:

»Gestattet, daß ich den Toten begrabe, in aller Morgenfrühe; ich allein. Beging er doch seine Tat durch mich – für mich. Lediglich durch mich und für mich.«

Die Bitte ward ihm gewährt. Als er den Sarg auf den Karren heben und hinausführen wollte, standen die Klosterschüler versammelt; reine gute Jünglinge trugen den Guten und Reinen zu Grabe. Und als der Tote in die Gruft an der Kirchhofmauer versenkt ward, stieg zu den Gipfeln der Alpen, zu dem im Morgenlicht erglühenden Himmel statt des Segens feierlicher Gesang auf.

Das Miserere des Meisters von Palestrina sangen sie dem verstummten Sänger im Tode nach.

Hochwürdiger Herr Prälat! Der Knabe starb durch mich und für mich. Ihr sagt: durch die Todsünde seines Selbstmordes wäre seine Seele dem Himmel entrissen worden. Ihr müßt es wissen. Nur wollet bedenken, daß seine Schuld die meine ist. Wie Ihr seine Missetat an seinem Leichnam straftet und diesem das christliche Begräbnis weigertet, so muß Eure große Gerechtigkeit jetzt auch meine Schuld strafen an meinem lebendigen Leibe. Seele für Seele! Ich stahl der Kirche eine Seele; so muß ich ihr denn eine andere dafür wiedergeben. Das will ich. Ich kenne eine Seele, die der Kirche nicht gehört und die ich der Kirche zuführen werde. Überdies befindet sich daselbst eine Strafanstalt unsres Ordens für schuldige Priester und Mönche. Also ist jener Ort für mich gerade die rechte Stätte. Übt auch an mir Eure Gerechtigkeit und sendet mich zur Strafe meiner Sünden dorthin.«

Dem nach seiner Bestrafung Verlangenden wurde entgegnet:

»Du sollst der Gottheit viele Seelen gewinnen, mein Sohn Paulus. Auch die Greueltat des unseligen Knaben hat bewiesen, welche Macht über Seelen dir verliehen ward. Der Orden hat Hohes mit dir im Sinn. Ein Chorherr des heiligen Augustin der lateranensischen Kongregation wirst du aufsteigen bis zum Höchsten deines Ordens.«

Der Gepriesene fühlte sein Blut zum Herzen drängen. Er hörte in seiner Seele den Versucher ihm zuraunen: »Macht, Herrschaft. Du sollst ein Herrscher sein!«

Schweigend verharrte er eine Weile, dann sagte er mit vor Erregung heiserer Stimme:

»Laßt mich zuerst über die eine Seele Gewalt gewinnen! Als kniete ich vor Euch in der Beichte, bekenne ich Euch, daß meine Seele nicht eher Ruhe finden wird, als bis dieses eine geschehen ist. Danach wählt mich zu einem andern großen Werk; danach bestimmt über mich. Ihr sollt mich gehorsam befinden in allen Dingen. Heute flehe ich in Demut, mir als Strafe aufzuerlegen, in der Dolomitenwildnis nach meinen Brüdern zu sehen, die dort der Strafe verfielen. Laßt mich selbst ein Büßer sein.«

Es geschah so ... Und nun stieg Pater Paulus auf einsam wilden Wegen empor, hoch und höher. Aber die Last auf seiner Seele konnte er nicht in der Tiefe zurücklassen. Sie folgte ihm durch all sein Denken und Fühlen, all sein Beten und Büßen; sie blieb bei ihm, fortan seine Lebensgefährtin, und sollte er zu den höchsten Gipfeln der Kirche aufklimmen, ein Herr und Herrscher über die Seelen.

Durch mich – für mich ... Durch mich für die Kirche; durch mich für Gott; durch mich für ewiges Seelenheil.«

Er mußte sich besinnen, wen er eigentlich meinte? ... Den toten Knaben? ... Nicht doch! Er meinte sie: Judith Platter. Wen anders sollte er meinen als ihre Seele, die von der Kirche sich abwandte, die Gott niemals in seinem Hause aufsuchte, die ihren eigenen Gott besaß. Er meinte mit seinen Worten die Seele, die sich um ihr ewiges Heil nicht kümmerte; Judith Platters unchristliche Seele wollte er als Sühnopfer für die andre Seele darbringen.

So hatte er es seinen Oberen verheißen, so sich selbst gelobt. Und jetzt stieg er hoch und höher zu der Felsenwand der Dolomiten empor, die ihre Welt geworden war, von ihr geschaffen durch die Macht ihres Willens; geschaffen aus eigener Kraft, wie sie bereits als Kind geplant hatte.

Jetzt würde er mit seinem Willen, aus seiner Kraft sie zwingen –

Auch das war über alle Vorstellung, daß er Judith Platter »zwingen« würde. Er wollte jedoch nicht ihr Herz seinem Herzen untertan machen, sondern ihre Seele Gott. Vielmehr der Kirche Gottes.

Er stieg und stieg... Jetzt umwehten ihn wieder dieselben Lüfte wie sie, leuchtete derselbe Himmel über seinem Haupt wie über dem ihren. Wenn auf diesen Höhen der Wind zum Sturm ward, der Riesenfichten entwurzelte und Felsen zersplitterte, so war das nur um so besser, und zwar um so besser für ihn sowohl wie für sie. Für ihrer beider Seele waren Alpenstürme grade das rechte Element; waren sie ihnen doch Atem und Lebenslust! Nun mochte der Föhn der Dolomiten – der Föhn der Seelen sie umbrausen, den einen von beiden würde der Orkan sicher nicht zum Wanken bringen. Und dieser eine war der Mann, war der Priester.

Welche grandiose Welt! Genau so wie heute war sie bereits vor Jahrtausenden gewesen: tiefe Schluchten, schwarz von Tannennacht; in den Abgründen der Gischt schäumender Wildbäche; Felsenöden mit geheimnisvollen blaugrünen Seen, deren Flut schneeige Grate und Gipfel widerspiegelten. Und wieder Engpässe, wieder Steinwüsten!

Eine Welt für Königsadler war's; eine Welt für Königsmenschen ...

Aber dann mußte Pater Paulus die wirklichen Bewohner dieser Wildnis kennen lernen, das armselige Volk von Waldbauern und Hirten nebst den Klausnern St. Augustins in dem Hochtal, welches das Ziel seiner Pilgerfahrt war. Die einen bestanden in einer kleinen Schar von Mühseligen und Geladenen – von Einfältigen und Glaubensreichen; die andern in einer Genossenschaft von Sündern und unfreiwilligen Büßern, darunter sich Lästerer des Höchsten, Verräter an der Gottheit befanden, auch solche voll tiefmenschlicher Schuld.

Die Waldleute, die der dunklen Mönchsgestalt des Ankömmlings begegneten, gingen mit widerwilligem, mürrischem Gruß an ihm vorüber: »Da schicken sie uns von da draußen schon wieder einen, den sie bestrafen müssen und den wir behalten sollen!« Aber die Weiber liefen herbei und haschten nach des Priesters Hand, der für sie auch in seiner Schuld und Buße ein Geweihter blieb.

Pater Paulus achtete weder der einen noch der andern, achtete nicht der finsteren Felsenenge, die ihn umschloß, als hielte sie ihn wie in einem Kerker gefangen. Er blickte suchend empor. Nicht zum Himmel schweifte sein Blick, sondern zu den Gipfeln der Dolomiten, darunter Judith Platter sich ihr Haus gebaut haben sollte. Unter den höchsten, den wildesten Schroffen leuchtete es auf: Mauern und Dächer.

Dort oben also war's!

Und er grüßte mit Blick und Seele hinauf:

»Ich komme zu dir emporgestiegen! Und – höre mich, Judith Platter! Die Stunde wird schlagen, wo du zu mir niedergestiegen kommst.«

Der Empfang, der Pater Paulus in der Klause zuteil ward, brachte sein heißes Blut in Wallung. Als sei er ihresgleichen! Als habe er geleugnet und gelästert in ihrer kleinen Sünderart; als habe er ihre Frevel und Verbrechen verübt, mit ihren Lastern sich befleckt. Aber bereits in der ersten Stunde zeigte er ihnen, daß er nicht zu ihrer Gemeinschaft gehörte; gab er sich ihnen als den Herrenmenschen zu erkennen, der er auch als Gottesmann geblieben war. Da es im Hause der Büßenden keinen Oberen gab, so wählte sich Pater Paulus selbst die Zelle; und er nahm für sich den Raum in Anspruch, der dem Superior gebühren würde, wäre die Strafanstalt St. Augustins dieses Heiligen Heiligtum. Selbst die heimlich wider ihn Murrenden erkannten: ›Diesem kommt es zu, hier zu wohnen!‹ Und sie setzten im Geiste hinzu: »Diesem wird es zukommen, über uns zu gebieten!«

Zu ihrer feindseligen Empfindung gegen den Neuling gesellten sich jedoch Furcht und Grauen, als dieser auf ihre Frage, weswegen er zu ihnen geschickt worden sei, gelassen zur Antwort gab:

»Wegen Totschlags.«

Nicht, um in der größten und vornehmsten Zelle zu hausen, wählte Pater Paulus die altertümliche Wölbung, sondern er entschied sich für sie, weil er, als er an das Fenster trat, hoch über sich die Dolomiten sah. Die kahlen Felsenzinnen loderten in Sonnenuntergangsgluten gleich Flammensäulen, die zum Himmel aufschlugen, um diesen in Brand zu setzen, und in dem Purpurschein leuchtete das Haus der fremden Frau ...

Anstatt die erste Nacht seiner Ankunft in der Kirche und im Gebet zu verbringen, durchwachte sie der Mann, der sich selbst eines Totschlags zieh, vor dem offenen Fenster seiner Zelle.

Ob Judith Platter dort oben in ihrem Traum wohl empfand, daß er gekommen sei? Und weshalb gekommen? Nicht wegen des guten Jünglings, der sich für ihn, durch ihn selber gekreuzigt hatte, sondern ihretwillen gekommen. Ihretwillen allein!

Als er am offenen Fenster stand, hinaufschaute in die Finsternis und an Judith Platters Träume dachte, vernahm er durch das Schweigen der Nacht vor den Mauern der Klause ein leises klägliches Winseln.

Da im Hause niemand hörte und die jammervollen Laute nicht verstummten, ging der einsam Wachende, öffnete, fand auf der Schwelle zusammengebrochen einen völlig entkräfteten, mit dem Tode ringenden Hund:

»Argos!«

Der Priester kniete zu dem Getreuesten der Getreuen nieder, umfaßte seinen Kopf, wollte ihn aufrichten, wollte ihn ins Haus tragen, wollte das schon einmal durch ihn gerettete Leben mit der ganzen Macht seiner Liebe dem Tode entreißen. Aber seine Liebesmacht erwies sich diesmal als machtlos.

Der Hund Argos starb.

Ende des zweiten Teiles


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