Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Siebentes Kapitel

Der Gang zum blutenden Herzen Marias

Meine fromme Mutter will in diesen leuchtenden Nachsommertagen eine Wallfahrt zum blutenden Herzen der süßen Gottesmutter tun. Sie will ganz allein gehen. Nicht einmal eine Magd oder ein Knecht soll sie begleiten. Zu Fuß will sie den weiten, beschwerlichen Weg zurücklegen.

Das kleine Heiligtum liegt hoch in den Dolomiten. Die Wege, die hinaufführen, sind steil und so schlimm, wie sie auf der ganzen Welt nur in Tirol sein können, wo jeder Weg, der nicht die breite Landstraße ist, einen wahren Büßerpfad und Martersteig bedeutet, so daß dem frommen Tiroler jeder Ausgang zur Wallfahrt wird. Und diesen weiten, schändlichen Weg will meine liebe Mutter ganz allein und zu Fuß zurücklegen. Darüber bin ich recht betrübt.

Mein Vater hielt sie von ihrem Vorhaben nicht ab. Ebenso, wenig der Kaplan, und ich – ach, ich vermag es nicht.

Denn es geschieht meinetwillen, daß meine Mutter zum blutenden Herzen der Gottesmutter wallfahrten will, womöglich mit bloßen Füßen über spitzige Steine, durch Disteln und Dornen... Daß sie aber grade zum blutenden Mutterherzen der Himmelskönigin pilgert! Und warum? Weil meiner Mutter Herz um ihren jüngsten Sohn blutet! Und es blutet, weil dieser nicht nach Rom gehen will; weil dieser nicht geistlich werden mag, sondern Judith Platter heiraten wird. Dieselbe Judith Platter, die, so jung sie noch ist, schon jetzt ihren eigenen Gott und eigenen Glauben besitzt.

Darum die weite, mühselige Pilgerfahrt!

Um ihres Sohnes willen wird meine Mutter beim blutenden Herzen Marias den Himmel anrufen, wird sie eine Wachskerze opfern und ein Gelübde tun, damit ihr lieber Sohn nach Rom gehe, in Rom geistlich werde und Judith Platter fahren lasse. Aber der Himmel wird meiner frommen Mutter Gebet nicht erhören; die Jungfrau Maria wird umsonst Fürbitte tun; die Wachskerze wird vergebens geopfert und das Gelübde vergebens geleistet werden.

Alsdann wird das heilige Herz meiner süßen Mutter bluten um ihres glückseligen Sohnes willen.

Meine Mutter trat ihre Pilgerschaft an. Sie hat ihr schlechtestes Gewand angetan und nur wenig Geld mit sich genommen.

Bis Klausen durften wir, mein Vater und ich, ihr das Geleite geben. Weiter nicht! Sie schalt uns, weil wir in Sorge um sie zurückblieben; nicht anders, als ließen wir sie nicht in des Himmels und aller Heiligen Schutz. Sie fragte uns, was ihr wohl geschehen sollte?

Wäre sie nur nicht gar so fein und zart: wären die Wege nur nicht gar so weit und beschwerlich.

Und sie ist so mutterseelenallein...

Das Wetter ist föhnig. Auch das ängstigt mich. Wenn es bei dem heftigen Südwind zu regnen beginnt, wenn der heiße Föhn umspringt und eisig kalt plötzlich der Nordwind sich erhebt, gibt es Schnee. Unten im Tale kann es um diese Jahreszeit nicht schneien, wohl aber auf den Höhen. Bereits im Mittelgebirge können Schneefall und starke Kälte eintreten; hatten wir jetzt doch schon einmal Neuschnee.

Wäre wenigstens ihr Sohn, dessentwillen sie die Pilgerfahrt unternimmt, mit ihr gegangen!

Immer noch wilder Föhn. Im Hause ist es einsam und öde: des Hauses Seele fehlt. Ich hielt es drinnen in den leeren Räumen nicht aus, ging hinaus in den Schloßgarten, setzte mich in die Laube, dachte an meine Mutter und daran, daß sie meinetwillen –

Als fahles Dunstgewölk lagert der Föhn über der leuchtenden Welt; denn die Laubbäume tragen noch immer ihre Herbstespracht. Von der Laube im Schloßgarten aus schaue ich wie von einer Warte hinaus. Die Sonne kann den Föhndunst nicht durchdringen. Aber das goldige Herbstlaub leuchtet statt ihrer.

Wie Alpdruck legt sich der heiße Brodem auf die Brust. Es ist mühsam, Atem zu holen. Dabei ist es so still. Lautlos ist's in den Lüften. Und meine feine, zarte Mutter wandert bei dem feurigen Föhn die schlechten Wege allein!

Wie hoch sie hinauf muß!

Hoch über das Mittelgebirge hinauf!

Wie konnte ihr mein Vater die Wallfahrt gestatten; wie der Kaplan sie nicht zurückhalten?

Wir katholische Christen können solche Fanatiker sein!

Nach Vahrn ritt ich, Judith meine Angst um meine Mutter zu klagen. Das Schwerste durfte ich ihr freilich nicht sagen; nicht, weswegen meine liebe Mutter wallfahrten ging.

In ihrer Gegenwart wurde ich gleich ruhiger. Es ist mir dann stets, als könnte kein Leid mich treffen, als gäbe es kein Unglück auf der Welt, als müßte alles gut werden. Man fühlt sich bei ihr so sicher, so wohl aufgehoben, so geborgen. Das fühlt man schon jetzt in ihrer Gegenwart, wo sie doch noch ein halbes Kind ist.

Auf dem Heimwege erlebte ich etwas Wundersames ... Ich ritt durch die herbstlichen Wälder wie durch lauter Gluten und Glanz. Kein Blatt regte sich. Es war so feierlich wie in einer Kirche. Plötzlich – in einem Augenblick – ein Windstoß! In eines Augenblicks Schnelle kam der Sturm.

Die Wipfel wurden geschüttelt, die Zweige gepeitscht. An den Stämmen ward gerüttelt wie von überirdischer Hand.

Goldig, rostbraun, purpurrot prasselte der Regen der Blätter auf mich herab. Ich sah nichts als goldige, rostbraune, purpurrote Flocken. Wie märchenhafte Funken und Flammen sprühte es rauschend und raffelnd durch die Lüfte. Mein Falber scheute. In Karriere ging es durch den Sturm, durch den Blätterregen.

In wenigen Minuten waren alle Bäume entlaubt. Bis zum Wipfel kahl und grau, schier leichenhaft, standen sie da.

Gleichfalls in Augenblicksschnelle legte sich der Wirbelwind. Kein Lüftchen regte sich mehr; totenstill war es plötzlich geworden. Am Boden lag das welke Laub, durch das mein Falber dahinsprengte, fußhoch. Unter mir war es ein schier geisterhaftes Rauschen und Rascheln.

Später begann es heftig zu regnen.

Jetzt nur kein Nordwind! Um Gottes Barmherzigkeit willen –

Nordwind! Ich reite meiner Mutter nach. Es ist Mitternacht.

Meine Mutter ist tot. Umgekommen im Schneesturm.

Meinetwillen.

Erfroren ist sie. Ich fand sie.

Schon seit Wochen ist meine liebe Mutter tot; schon seit Wochen ist es in dem großen Hause einsam und öde. Es ist nicht zu sagen, wie leer es in jedem Zimmer und jedem Räume ist; nicht anders, als befände sich darin weder Stuhl noch Tisch, als wäre jedes Geräte hinausgeschafft worden und es stünden nur noch die kahlen vier Wände.

Durch das leere Haus hallen die Schritte geisterhaft, und bei jedem lauten Wort möchte ich aufschreien: »Seid still! Sprecht leise! Meine Mutter ist ja doch tot!«

O du! Mutter, Mutter!

Seit Wochen breitet sich über Berg und Tal die leuchtende Decke, die mit ihrem eisigen Schimmer meine Mutter in ihrer Todesstunde eingehüllt hat. Die Wiesen und jungen Saaten haben es warm darunter; die sprießende Hoffnung wird von der leuchtenden Decke gegen Frost und Tod geschützt. Meine Mutter kam um unter ihrem eisigen Glanz; sie erstarrte, starb.

Wie Kirschblüten so weiß liegt es über Berg und Tal, wie ein Gespinst und Gewebe meiner Mutter. Wenn die Sonne scheint, ist es ein Flimmern und Funkeln, ein Glänzen und Gleißen, als wäre meiner Mutter Grabesdecke aus lauter Strahlen gewirkt.

So einsam und öde es auch in dem großen Hause ist, gehe ich doch nie hinaus. Seitdem ich meine Mutter unter dem Schnee fand, – ich mußte sie mit den Händen ausgraben – seitdem reißt es an meinem Herzen, wenn ich über Schnee gehen muß. Mir ist es dann, als ob ich auf meiner Mutter Leib träte.

Ich bleibe also zu Hause, stehe und gehe umher wie verloren und verlassen, beständig meine Mutter suchend. Oder ich sitze in meinem hohen Turmgemach am Fenster, schaue hinaus, schaue auf das weiße Leichentuch, in welches der Leib von Mutter Erde eingehüllt ist.

Aber die tote Natur steht wieder auf; denn bald wird es Frühling, bald singen die Vögel, blühen die Blumen wieder. Meine tote Mutter ersteht erst nach einer Ewigkeit aus ihrem Grabe. Eine ganze Ewigkeit muß ich warten, bis ich sie wiedersehe.

Auch nach Vahrn gehe ich nicht, nach dem Platterhof.

Ich kann nicht!

Mein Herz ist noch zu sehr bei meiner toten Mutter, die meinetwillen starb.

Wäre sie nur nicht darum gestorben! Wie soll ich denn weiterleben mit diesem Muttergrab in mir? Und leben will ich doch. Wieder lachen will ich, will wieder glücklich sein; auf meinem Falben, von den Rüden begleitet, wieder nach dem Platterhof traben...

Und wenn dann die Zeit kommt, wo Judith mich küßt – wie soll ich mich jemals von ihr küssen lassen, wo meine Mutter darum wallfahrten, darum in den Tod ging.

Aber das kann ich meiner Mutter nicht zuliebe tun! Ich kann nicht das erfüllen, um was sie bei dem blutenden Herzen der Gottesmutter für mich den Himmel anrief.

Auch meiner toten Mutter zuliebe kann ich nicht.

Da ich zu meinem Vater nicht sprechen kann und da meine Mutter tot ist, so schreibe ich in diesem Buche, welches sie mir geschenkt hat, wohl wissend, daß das Buch ihrem Sohn ein Gefährte, ein Freund und Vertrauter sein würde. Mir ist es, als ob ich in dem Buche meiner Mutter zu ihr selbst spräche... Heute nun will ich aufschreiben, wie alles geschah, nachdem es an jenem Föhntage, an welchem die leuchtende Laubflut auf mich niederströmte, gegen Abend zu regnen begann und um Mitternacht sich der Nordwind erhob. Ich begab mich in dieser Nacht nicht zu Bette. Und kaum hörte ich den Wind vom Brenner her wehen, als ich wußte, was ich tun mußte, nicht begreifend, daß es mir erst jetzt einfiel: gleich hätte ich meiner Mutter folgen müssen!

Ohne jemand im Hause zu wecken, machte ich mich reisefertig, sattelte mein Pferd, pfiff den Hunden und sprengte davon. Es regnete in Strömen, und der Wind brauste immer wilder vom Brenner herab.

Nur bis Waidbruck konnte ich reiten; von dort kam ich zu Fuß schneller vorwärts.

Als der Tag graute, sah ich das ganze Gebirge von weißlichem Dunst umbraut: Schnee! An dem jagenden Gewölk erkannte ich, daß droben der Wind noch heftiger wehte. Wenn meine Mutter sich nicht in einer sicheren Unterkunft befand, mußte sie mitten im Schneetreiben sein.

Aber sie war ja doch in der Nachtherberge, würde diese erst am Morgen verlassen. Vielmehr: sie würde bei dem Unwetter bleiben. Jedenfalls befand sie sich wohl aufgehoben.

Wie konnte ich nur so ganz besinnungslos sein? Sicher war auch, daß sie unterwegs andre Wallfahrer getroffen, ihnen sich angeschlossen hatte und nun mit der Pilgerschar vor dem Unwetter geborgen war.

Nach meiner Berechnung mußte sie gestern abend vor Anbruch der Nacht in einem kleinen Gasthause eingetroffen sein. Es befand sich wenige Stunden vor dem Heiligtum zu dem blutenden Herzen der schmerzensreichen Mutter entfernt und diente den Wallfahrern gewöhnlich als letzte Station. Das Kirchlein selbst liegt in tiefer Dolomiteneinsamkeit, ohne eine andre Behausung in der Nähe als die Wohnung des Mesners. Bei der Zartheit meiner Mutter konnte sie die Kapelle vor dem Schneetreiben nicht erreicht haben. Ich durfte wirklich beruhigt sein. Niemals werde ich vergessen, wie heiß ich betete, wie inbrünstig ich dem Himmel dankte, daß ich beruhigt sein durfte.

Dem blutenden Herzen der Himmelskönigin gelobte ich ein silbernes Herz für das, was ich die Rettung meiner Mutter aus Todesgefahr nannte. Das silberne Herz sollte mein angstvolles und dankbares Sohnesherz vorstellen, und das Geld, welches es kosten würde, wollte ich von den Kreuzern zusammensparen, die ich von meinem Vater für Pulver und Blei zu meinem geliebten Weidwerk erhielt. Besseres fiel mir armem Jungen nicht ein. Mein Pferd stellte ich bei Tagesanbruch in einem Wirtshause ein und machte mich zu Fuß auf den Weg. Er war beschwerlich genug. Als ich die Höhe erreichte, wo der Regen zu Schnee ward, der Sturm die reichlich fallenden Flocken zu wilden Wirbeln auftrieb, hatte selbst ich in meiner Jugendkraft Mühe, vorwärts zu dringen. Nur auf dem Wege zu bleiben, kostete Anstrengung.

Wie die Botschaft eines Engels des Herrn leuchtete in meiner Seele die Vorstellung: ›Deine Mutter, die deinetwillen wallfahrten ging, ist gut aufgehoben!‹ Was galt mir da das Unwetter? Ich fühlte es gleich lindem Frühlingswehen.

Gegen Mittag erreichte ich das Alpenwirtshaus. Es war voller Wallfahrer, die wegen des Schneesturms nicht weiter konnten.

Meine Mutter war nicht darunter!

Ich fragte nach ihr: nach einer blassen, zarten, feinen Frau, die ganz allein gekommen war.

Meine Mutter befand sich nicht in dem Hause!

Aber sie war dort gewesen: gestern schon. Und schon gestern war sie weitergewandert, ganz allein!

Schon gestern allein weiter auf dem steilen, mühseligen und gefahrvollen Weg zum Heiligtum!

Sie würde bei dem Mesner des Wildkirchleins geblieben sein. Ja, ja, ja! Noch immer durfte ich beruhigt sein; durfte ich dem Himmel heiß danken; durfte ich der Gottesmutter das silberne Herz geloben.

Ich erkundigte mich: »Wie war die Frau? War sie sehr müde, sehr ermattet? Sah sie sehr blaß und leidend aus?«

Ja, ach ja! Sehr matt und müde war sie gewesen, sehr leidend hatte sie ausgesehen. Die Wirtsleute hatten sie aufgefordert, zu bleiben; hatten ihr dringend abgeraten, den Weg fortzusetzen; hatten sie ernstlich gewarnt. Aber sie wollte sich nicht zurückhalten lassen. Sie hatte es eilig, weiterzukommen, um die Pilgerschaft bald zu beenden, um bald wieder zu Hause zu sein, wo ihr lieber Sohn in Sorge um sie war.

Ich fragte: »Hat die müde Frau gegessen und getrunken?«

»Ein wenig.«

»Also war sie doch etwas gestärkt weitergegangen?«

Etwas ... Ob ich nicht ausrasten und einiges genießen wolle, um gestärkt weiterzugehen? Das Wetter sei entsetzlich und der Weg sicher tief verschneit.

Aber ich wollte sogleich weiter, meiner Mutter nach. Erst an ihrem heiligen Herzen wollte ich ausruhen...

Immer wüster ward der Weg, immer wilder das Wetter. Jeder Schritt vorwärts mußte erkämpft werden. Wie langsam ich weitergelangte und empordrang! Selbst die Hunde ermatteten. Ich redete mit ihnen, sprach ihnen Mut ein. Sie antworteten mir durch klägliches Winseln. Es wurde früh Nacht. Aber der Schnee verbreitete eine fahle Dämmerung. Bei dem gespenstischen Schein drang ich vorwärts, jeden Schritt mir erobernd, beständig ankämpfend gegen die Windsbraut. Solchen Weg hatte ich noch nie gemacht! Und ich wußte doch, was böse Wege und Unwetter hießen.

Bis jetzt hatte ich mich auf dem rechten Weg befunden; plötzlich verlor ich ihn. Ich suchte und suchte und – fand ihn nicht wieder.

Bei der Sturmesnacht, im Schneetreiben mitten in den hohen Dolomiten befand ich mich in der Irre.

Von meinen Hunden blieb einer zurück. Ich suchte den Verlorenen.

Ich ermattete.

Dicht vor mir heller Lichtschein! Grade, als meine Kräfte mich zu verlassen drohten, als ich umsinken wollte. Taumelnd schwankte ich weiter, wo durch die fahle Finsternis plötzlich das Licht aufleuchtete. Meinen beiden Hunden, die sich hinter mir herschleppten, rief ich mit neuem Lebensmut zu, daß wir errettet wären. Denn ohne den leuchtenden Glanz vor uns wären wir verloren gewesen.

Das Heiligtum des blutenden Herzens der schmerzensreichen Gottesmutter war es. Die Tür stand weit offen, vom Sturm aufgerissen. Auf dem Altare brannte eine hohe, mit Gold und Silber reich verzierte Wachskerze: die Opfergabe meiner Mutter, die hier gewesen war, die hier gekniet und gebetet hatte: für mich, für ihren lieben Sohn.

Ich erkannte das Licht.

Noch viele Kerzen andrer Pilger waren auf dem kleinen Altäre vor dem Bildnis der heiligen Jungfrau aufgestellt und angezündet worden. Aber alle die andern hatte der Sturm verlöscht. Auch das ewige Lämplein in der Ampel war ausgeweht.

Nur die Wachskerze meiner Mutter brannte. Das brennende Licht meiner Mutter hatte mich vor einem jämmerlichen Tode bewahrt.

Vor dem Altar fiel ich hin. Meine Arme streckte ich auf zu dem Bildnisse der himmlischen Frau, die im Glanz der Kerze meiner Mutter über ihrem blutenden Herzen mich anlächelte. Nur einen Augenblick blieb ich liegen. Alsdann riß ich mich in die Höhe, schwankte zum Kirchlein hinaus, wiederum in den Sturm zurück, lief zum Mesnerhaus, pochte und rief.

Dabei sank ich vor Erschöpfung vor der Tür zusammen. Ich dachte jedoch: ›Drinnen ist deine Mutter! Deine Mutter ist gerettet, geborgen! Bald ruhst du aus an ihrem Herzen – schon im nächsten Augenblick.‹

Der Mesner machte mir auf.

Meine Mutter war nicht in dem Hause.

Ich wußte es sofort: ›Sie ist tot! Umgekommen ist sie im Schneesturm! Während du auf der Schwelle des Hauses stehst, in welchem du jetzt ausruhen und behaglich warm haben könntest, liegt sie irgendwo unter der weißen, eiskalten Decke und – ruht auch aus.‹

Vielleicht, ach vielleicht lebte sie noch, war sie noch zu retten. Wenn ich sie sogleich suchen, sogleich sie finden würde ... Es mußte jedoch auf der Stelle sein.

Sogleich sie suchen!

Und sogleich fühlte ich alle Müdigkeit von mir fallen, fühlte ich mich ausgeruht und erfrischt. Wundersam stark fühlte ich mich.

Aber die beiden zu Tode ermatteten Hunde ... Sie mußten mir suchen helfen; denn nur sie konnten sie finden. Aber sie waren nicht imstande, sich weiterzuschleppen. Wie tot lagen sie da. Ich mußte warten, bis die Hunde sich erholt hatten.

Die Mesnersleute brachten mir Wein, ich wollte jedoch nur etwas für die völlig erschöpften Tiere. Sie bekamen Milch und Brot. Zuerst rührten sie nichts an, blieben unbeweglich liegen. Und ich stand daneben, tatenlos, hilflos. Ich mußte warten, wo meine Mutter vielleicht gerade jetzt noch zu retten gewesen wäre.

Ohne die Hunde wollte ich suchen. Die Mesnersleute mußten mich gewaltsam zurückhalten, bis die Hunde derartig gekräftigt waren, daß sie mir folgen konnten. Ich wartete also. Endlich genossen sie von der Milch. Ich kniete bei ihnen nieder, hielt ihnen die Schale mit der Milch vor, redete ihnen zu. Als sie sich sichtlich erholten, war ich fast glücklich, hielt ich meine Mutter fast für gerettet.

Ich trug ein Tuch bei mir, welches ihr gehörte. Ich zeigte es den Hunden, ihnen befehlend, sie sollten suchen, suchen! Sie verstanden mich, sie, meine treuen, klugen Tiere! Ein schwaches, winselndes Geheul ausstoßend, folgten sie mir.

Mir folgte auch der Mesner. Er trug eine Laterne und Schaufel und führte eine Flasche mit sich. Als seine Frau sie ihm gab, hörte ich diese leise sagen: »Ihr braucht sie ja doch nicht mehr.« Fast hätte ich laut aufgeschrieen.

Wir suchten.

Durch den Sturm das Winseln und Heulen der Hunde; durch den Sturm mein Rufen, mein Angstschrei: »Mutter! Mutter! Mutter!«

Während ich mich heiser schrie, vernahm ich in mir beständig die leisen Worte der Mesnersfrau: »Ihr braucht sie ja doch nicht mehr!« Und ich antwortete darauf beständig mit meinem verzweiflungsvollen Aufschrei:

»Mutter! Mutter! Mutter!«

Alsdann – ich weiß noch heute nicht, nach wie langem Suchen – alsdann fanden sie die Hunde.

Mit meinen Händen wühlte ich den Schnee auf. Ich wühlte schneller, als der Mesner grub, die Hunde kratzten. Immer noch hoffte ich, die eiskalte Decke könnte sie warm einhüllen. Sie möchte darunter schlummern, so sanft schlummern, daß sie noch zu erwecken war. Wenn ich sie so recht, recht innig bat, erwachte sie gewiß. Sie konnte ihrem Jungen nichts abschlagen, würde ihm einstmals auch Judith Platter zur Frau geben – wenn er sie so recht, recht innig bat.

Ich zog sie aus ihrem leuchtenden Grabe... Gewiß, o gewiß schlief sie nur! Ihr liebes, schönes Gesicht sah so friedlich aus. Mir war es, als lächelte sie im Schlaf. Vielleicht träumte sie, sie wäre zu Hause bei den Ihren und die Frühlingssonne schiene.

Einflößen konnten wir ihr nichts mehr von dem wärmenden Trunk aus der Flasche der guten Frau. Wir konnten sie nicht mehr erwecken. Ich nahm sie in die Arme, hob sie auf, trug sie fort. Sie war leicht wie ein Kind.

Ich ward mit meiner leichten Last in den Armen gar nicht müde. Zuletzt lief ich, so daß wir bald in dem Mesnerhause wieder anlangten, wo ich meine Mutter weich und warm betten konnte.

Aber sie erwachte nicht mehr.


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