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Neunzehntes Kapitel

Amazan kommt in der Hauptstadt der Gallier an. Beschreibung dessen, was er dort sieht. Seine Treue erleidet Schiffbruch durch ein Opernmädchen, in dessen Armen er von Formosante überrascht wird

So kam Amazan, dieses Vorbild der Beständigkeit, von Provinz zu Provinz wandernd, in der neuen Hauptstadt der Gallier an. Lockungen jeder Art hatte er widerstanden, war seiner Prinzessin immer treu geblieben und nie aus dem Zorn über den König von Ägypten herausgekommen. Die Hauptstadt der Gallier war, wie so viele andere, durch alle Grade der Barbarei, Unwissenheit, Dummheit und Not gegangen. Ihr erster Name Lutetia, von lutum: Schmutz. war Schmutz und Kot; dann hatte sie den der Isis angenommen, vom Kult der Isis, der bis zu ihr gedrungen war. Ihr erster Senat bestand aus einer Versammlung von Schiffern. Lange war sie Sklavin der räuberischen Helden von den sieben Hügeln gewesen; nach mehreren Jahrhunderten hatten sich dann andere Räuberhelden, die von jenseits des Rheines kamen, ihres kleinen Gebietes bemächtigt.

Die Zeit, die alles verändert, hatte eine Stadt aus ihr gemacht, die teils sehr vornehm und lockend, teils etwas roh und lächerlich war: das Symbol ihrer Einwohner. Es lebten in ihrem Weichbild ungefähr hunderttausend Menschen, die nichts zu tun hatten als zu spielen und sich zu zerstreuen. Dieses Volk der Müßiggänger urteilte über die Künste, die die anderen pflegten. Sie wußten nichts von dem, was am Hof vorging; obgleich er nur eine kleine Meile von ihnen entfernt war, schien es, als ob er mindestens sechshundert Meilen entfernt wäre. Die Weichlichkeit des geselligen Lebens, seine Ausgelassenheit und Leichtfertigkeit waren ihr wichtigstes und einziges Ziel; man regierte sie wie Kinder, an die man Spielzeuge verschwendet, um sie am Schreien zu hindern. Wenn man mit ihnen von den Schrecken sprach, die zwei Jahrhunderte vorher ihr Vaterland verwüstet hatten, und von den furchtbaren Zeiten, da die eine Hälfte der Nation die andere wegen einiger Sophismen abgeschlachtet hatte, sagten sie, das sei wirklich sehr schlecht, und fingen gleich darauf an, weiterzulachen und Gassenhauer zu singen.

Je gepflegter, lustiger und liebenswürdiger die Müßiggänger waren, desto trauriger erschien der Kontrast zwischen ihnen und der Gesellschaft der Arbeitenden.

Es gab unter diesen Arbeitenden oder jenen, die zu arbeiten behaupteten, eine Gruppe finsterer Fanatiker, die teils absonderlich, teils schurkisch waren, und deren bloßer Anblick die Erde trübe machte. Sie hätten sie von oben nach unten gekehrt, wenn sie gekonnt hätten, nur um sich selber Einfluß zu verschaffen. Aber das Heer der Müßiggänger stieß sie durch ihr Tanzen und Singen in ihre Höhlen zurück, wie Vögel Nachteulen nötigen, in ihre Mauerlöcher zurückzukriechen.

Andere Arbeitende, deren Zahl geringer war, widmeten sich der Erhaltung alter barbarischer Gebräuche, gegen die die erschreckte Natur sich laut empörte; sie richteten sich nur nach ihren von Würmern angefressenen Tabellen. Entdeckten sie darin einen sinnlosen und furchtbaren Brauch, so betrachteten sie ihn als heiliges Gesetz. Durch diese kraftlose Gewohnheit, keine eigenen Gedanken zu haben, sondern alle Ideen aus den Überbleibseln jener Zeiten zu nehmen, da man überhaupt nicht dachte, gab es in der Stadt des Vergnügens noch die grausamsten Sitten. Aus diesem Grunde herrschte kein Verhältnis zwischen Vergehen und Strafen. Man ließ manchmal einen Unschuldigen tausendfachen Tod erleiden, um ihn zum Geständnis eines Verbrechens zu bringen, das er nicht begangen hatte.

Man bestrafte einen dummen Jungenstreich wie eine Vergiftung oder einen Vatermord. Die Müßiggänger erhoben ein durchdringendes Geschrei darüber, aber am nächsten Tag dachten sie nicht mehr daran und sprachen nur noch von neuen Moden.

Dieses Volk hatte ein ganzes Jahrhundert vorbeiziehen sehen, in welchem die schönen Künste einen Grad der Vollendung erreichten, den man nie zu erhoffen gewagt hatte. Damals kamen die Fremden, wie nach Babylon, um die großen Denkmäler der Architektur, die Wunder der Gärten, die erhabenen Werke der Skulptur und Malerei anzustaunen. Sie wurden von einer Musik berauscht, welche zu Herzen ging, ohne die Ohren zu beleidigen.

Die wahre Dichtung, das heißt jene, die natürlich und harmonisch ist, die ebenso zum Herzen wie zum Geist spricht, kannte die Nation nur in diesem glücklichen Jahrhundert. Neue Arten der Beredsamkeit entfalteten erhabene Schönheiten. Besonders die Bühne war Echo von Meisterwerken, die kein Volk je erreichen wird. Kurz, der gute Geschmack war auf allen Gebieten verbreitet, so daß es selbst bei den Druiden gute Schriftsteller gab.

Diese vielen Lorbeern, die ihre Spitzen bis zu den Wolken erhoben hatten, vertrockneten bald in einem erschöpften Boden. Es blieb nur eine sehr kleine Anzahl mit fahlgrünen, absterbenden Blättern. Der Verfall trat ein durch die Leichtigkeit zu schaffen und die Faulheit gut zu schaffen, durch die Übersättigung am Schönen und den Geschmack am Geschmacklosen. Die Eitelkeit beschützte Künstler, welche die Zeiten der Barbarei wieder einführten: diese selbe Eitelkeit, welche die wahren Talente verfolgte und sie aus dem Lande trieb. Die Drohnen verjagten die Bienen.

Beinahe keine wirkliche Kunst mehr, beinahe kein Genie. Das Verdienst bestand darin, über das Verdienst des vergangenen Jahrhunderts hin und her zu reden: Beschmierer von Wirtshauswänden kritisierten in gelehrten Worten die Gemälde der großen Maler; Schmierer auf Papier entstellten die Werke der großen Schriftsteller. Unwissenheit und schlechter Geschmack hatten wieder andere Schmierer in ihrem Sold. Man wiederholte dieselben Dinge in hundert Bänden unter verschiedenen Titeln. Alles war Wörterbuch oder Wochenschrift. Ein druidischer Zeitungsschreiber schrieb zweimal wöchentlich die dunkeln Berichte über einige vom Teufel Besessene, von denen die Nation nichts wußte, und über himmlische Wunder, die an kleinen Bettlern und Bettlerinnen in ihren Dachstuben geschehen sein sollten. Andere schwarzröckige Ex-Druiden waren nahe daran, vor Wut und Hunger zu sterben, und klagten in ihren hundert Schriften, daß man ihnen nicht mehr erlaube, die Menschen zu betrügen, und daß man dieses Recht Böcken in grauem Kleide überlasse. Einige Erz-Druiden druckten sogar Schmähschriften.

Amazan wußte nichts von alledem; und wenn er es gewußt hätte, würde er sich auch nicht darum bekümmert haben, da er für nichts Sinn hatte als für die Prinzessin von Babylon, den König von Ägypten und seinen unverletzlichen Schwur, allen Verlockungen von Damen zu widerstehen, in welches Land ihn sein Kummer auch führen mochte.

Das oberflächliche, unwissende Volk, das die allgemeine menschliche Neugier stets auf die Spitze treibt, konnte sich lange über seine Einhörner nicht beruhigen. Die klügeren Frauen stürmten die Türen seines Gasthofes, um seine Person zu betrachten.

Er äußerte seinem Wirte gegenüber zunächst den Wunsch, zu Hofe zu gehen. Aber Müßiggänger der guten Gesellschaft, die zufällig anwesend waren, sagten ihm, daß dies nicht mehr Mode sei, die Zeiten hätten sich geändert, und es gebe kein Vergnügen mehr außer in der Stadt. Er wurde für denselben Abend eingeladen von einer Dame Mme. Geoffrin., deren Geist und Talent über ihr Vaterland hinaus bekannt waren, und die einige Länder bereist hatte, durch die auch Amazan gekommen war. Diese Dame und die bei ihr versammelte Gesellschaft gefielen ihm sehr. Hier war gezügelte Freiheit, Fröhlichkeit, die nicht lärmte, Wissen, das nicht abstieß, und Geist, der nicht künstlich schien. Er sah, daß das Wort: gute Gesellschaft kein eitler Name ist, wenn es auch oft mißbraucht wird. Am nächsten Tage speiste er in einer nicht weniger liebenswürdigen, aber viel üppigeren Gesellschaft. Je mehr ihm die Gäste gefielen, desto mehr gefiel er ihnen. Er fühlte sein Herz weich werden und sich auflösen, wie die Gewürze seines Landes bei lindem Feuer schmelzen und in köstlichen Gerüchen aufgehen.

Nach der Mahlzeit führte man ihn in ein zauberhaftes Schauspiel, das von den Druiden verdammt war, weil es ihnen die Zuschauer entzog, die ihnen am wichtigsten waren. Dieses Schauspiel war eine Mischung von angenehmen Versen, köstlichen Gesängen, Tänzen, die die Bewegungen der Seele ausdrückten, und Perspektiven, die den Blick entzückten, indem sie ihn täuschten. Diese Art von Vergnügen, die so viele einschloß, war unter einem seltsamen Namen bekannt; sie wurde Opera genannt, was ehemals in der Sprache der sieben Hügel: Arbeit, Sorge, Beschäftigung, Fleiß, Unternehmung, Notwendigkeit, Geschäft bedeutete. Dieses Geschäft entzückte ihn. Ein Mädchen vor allem begeisterte ihn durch ihre melodische Stimme und die Anmut, die von ihr ausging. Mit diesem Opernmädchen wurde er nach der Vorstellung durch seine neuen Freunde bekanntgemacht. Er schenkte ihr eine Handvoll Diamanten. Sie war dafür so dankbar, daß sie nicht vermochte, sich für den Rest des Tages von ihm zu trennen. Er speiste mit ihr. Während des Mahles vergaß er seine Mäßigkeit; und nach dem Mahle vergaß er seinen Schwur, gegen Schönheit unempfindlich und gegen zärtliche Koketterie unerbittlich zu sein. Welches Beispiel menschlicher Schwäche!

Plötzlich kam die Prinzessin von Babylon mit dem Phönix, ihrer Kammerfrau Irla und ihren zweihundert gangaridischen Reitern an, die auf den Einhörnern saßen. Sie mußten ziemlich lange warten, ehe man ihnen die Tore öffnete. Sie fragte sofort, ob der schönste, mutigste, geistreichste und treueste aller Männer noch in dieser Stadt sei. Die Beamten erkannten wohl, daß sie von Amazan sprach. Sie ließ sich nach seinem Gasthaus führen; sie trat mit klopfendem Herzen ein: ihre ganze Seele war durchdrungen von der unaussprechlichen Freude, endlich ihren Geliebten, dieses Muster der Beständigkeit, wiederzusehen. Nichts konnte sie hindern, in sein Zimmer zu gehen. Die Bettvorhänge waren offen: sie sah den schönen Amazan, der in den Armen einer hübschen Brünette schlief. Sie hatten beide großes Ruhebedürfnis.


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