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Sechstes Kapitel

Fortsetzung der Unterhaltung zwischen dem wunderbaren Vogel und Formosante. Tod dieses Vogels. Das Orakel wird befragt; seine Antwort ist so gefaßt, daß niemand sie versteht

Sie brachte die ganze Nacht damit zu, von Amazan zu reden. Sie nannte ihn nur noch ihren Schäfer. Seit dieser Zeit haben die Namen »Schäfer« und »Liebender« bei einigen Völkern denselben Sinn. Bald fragte sie den Vogel, ob Amazan schon andere Geliebte gehabt habe. Er antwortete »nein«, und sie war voller Glück. Bald wollte sie wissen, wie er sein Leben zubringe; sie hörte begeistert, daß er es nütze, Gutes zu tun, Künste zu pflegen, die Geheimnisse der Natur zu erforschen, sein eigenes Wesen zu vervollkommnen. Dann wollte sie wieder wissen, ob die Seele ihres Vogels von derselben Art sei wie die ihres Geliebten; warum er mehr als achtundzwanzigtausend Jahre gelebt habe, während ihr Freund nur achtzehn oder neunzehn Jahre alt sei. Sie stellte hundert ähnliche Fragen, auf die der Vogel mit einer Zurückhaltung antwortete, die ihre Neugier immer weiter erregte. Schließlich schloß der Schlummer ihre Augen und überließ Formosante dem süßen Trug von den Göttern gesandter Träume, die manchmal sogar die Wirklichkeit übertreffen, und die die ganze Philosophie der Chaldäer kaum zu deuten vermag.

Formosante erwachte erst spät. Es war noch Dämmerung in ihrem Zimmer, als der König, ihr Vater, eintrat. Der Vogel empfing Seine Majestät mit achtungsvoller Höflichkeit, ging ihm entgegen, schlug mit den Flügeln, streckte seinen Hals und ließ sich wieder auf seinen Orangenbaum nieder.

Der König setzte sich auf das Bett seiner Tochter, deren Schönheit noch gesteigert schien durch ihre Träume. Sein langer Bart näherte sich ihrem schönen Gesicht; er gab ihr zwei Küsse und sprach zu ihr diese Worte: »Meine geliebte Tochter, du hast gestern keinen Gemahl finden können, wie ich hoffte; du mußt dich trotzdem vermählen; das Wohl meines Landes heischt es. Ich habe das Orakel befragt, das, wie du weißt, nie lügt und mich in allem leitet; es hat mir befohlen, dich in die Welt zu schicken. Du mußt also reisen.«

»Oh! ohne Zweifel zu den Gangariden«, sagte die Prinzessin und fühlte bei diesen Worten, die ihr entschlüpften, sofort, daß sie eine Dummheit beging. Der König, der nichts von Geographie wußte, fragte, was sie unter Gangariden verstünde. Sie fand leicht eine Ausrede. Der König eröffnete ihr, sie müsse eine Wallfahrt unternehmen; er habe das Gefolge schon gewählt: den Ältesten der Staatsräte, den Oberpriester, eine Ehrendame, einen Arzt, einen Apotheker und ihren Vogel sowie die dazugehörige Dienerschaft.

Formosante war noch nie aus dem Palaste des Königs, ihres Vaters, herausgekommen; bis zu dem Tag der drei Könige und Amazans hatte sie ein sinnloses Leben in Hofetikette und Scheinvergnügungen geführt; sie war entzückt von der Aussicht, eine Wallfahrt unternehmen zu dürfen. »Wer weiß,« sagte sie ganz leise zu ihrem Herzen, »ob die Götter nicht meinem teuren Gangariden denselben Wunsch, nach derselben Kapelle zu gehen, einflößen und ob ich nicht das Glück haben werde, den Pilger dann wiederzusehen?« Sie dankte ihrem Vater zärtlich und sagte, sie habe stets eine geheime Liebe für den Heiligen gehabt, zu dem man sie schicke.

Belus gab seinen Gästen ein ausgezeichnetes Mittagsmahl; es waren nur Männer anwesend; lauter Leute, die schlecht zusammenpaßten: Könige, Prinzen, Minister, Priester. Einer war auf den andern eifersüchtig, jedes Wort wurde auf die Wagschale gelegt, jeder fühlte sich ungemütlich und beengt durch seinen Nachbarn und durch sich selbst. Das Mahl verlief trübselig, obgleich man sehr viel trank. Die Prinzessinnen blieben in ihren Gemächern; jede war mit ihrer Abreise beschäftigt. Sie speisten nur mit kleinem Gefolge. Formosante ging danach in den Gärten spazieren mit ihrem geliebten Vogel, der, um sie zu unterhalten, von Baum zu Baum flog, wobei er seinen herrlichen Schwanz und das göttliche Gefieder entfaltete.

Der König von Ägypten, der heiß vom Wein war, um nicht zu sagen berauscht, bat einen seiner Pagen um Bogen und Pfeile. Dieser Fürst war in der Tat der ungeschickteste Bogenschütze seines ganzen Reiches. Wenn er nach der Scheibe schoß, war die Stelle, nach der er zielte, der sicherste Platz der Welt; aber der schöne Vogel, der ebenso rasch flog wie der Pfeil, setzte sich selber dem Schuß aus und fiel blutend in die Arme Formosantes. Der Ägypter zog sich mit einem blöden Lachen in seine Gemächer zurück. Die Prinzessin weinte laut zum Himmel und schlug sich auf Wangen und Brust. Der sterbende Vogel sagte leise zu ihr: »Verbrennet mich, und unterlasset nicht, meine Asche in das glückliche Arabien zu tragen, östlich der alten Stadt Aden oder Eden, und sie dort auf einem kleinen Scheiterhaufen von Nelken und Zimt in die Sonne zu legen.« Nachdem er diese Worte noch hervorgebracht hatte, starb er. Formosante war lange bewußtlos und kam nur zur Besinnung, um in Schluchzen auszubrechen. Ihr Vater teilte ihren Schmerz und stieß Verwünschungen gegen den König von Ägypten aus; er zweifelte nicht, daß dieses Abenteuer eine düstere Vorbedeutung habe. Unverzüglich begab er sich in die Kapelle und fragte das Orakel. Das Orakel antwortete: »Große Wirrnis; lebendiger Tod; Untreue und Beharrung; Verlust und Gewinn; Leiden und Glück.« Weder er noch sein Rat konnten etwas davon verstehen; aber schließlich war er froh, seine religiösen Pflichten erfüllt zu haben.


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