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Dreizehntes Kapitel

Ankunft der schönen Babylonierin im Reiche der Kimmerier. Empfang, den man ihr bereitet. Loblied der Kaiserin der Kimmerier. Neuer Treuebeweis Amazans

Bald darauf kamen die Prinzessin von Babylon und der Phönix in das Reich der Kimmerier Rußland., das nicht so bevölkert, aber zweimal so ausgedehnt wie China war. Ehemals konnte man es mit Skythien vergleichen, seit einiger Zeit war es jedoch ebenso blühend wie die Königreiche, die sich rühmten, die Lehrmeister anderer Staaten zu sein.

Nach einigen Tagereisen kam man in einer sehr großen Stadt Moskau. an, welche die regierende Kaiserin Katharina II. regierte von 1762–1796. verschönern ließ. Aber sie war abwesend: sie reiste damals von den Grenzen Europas zu jenen von Asien, um ihre Staaten mit ihren eigenen Augen kennenzulernen, um Mißständen abzuhelfen, Hilfsmittel zu bringen, den Wohlstand zu steigern und Bildung zu verbreiten.

Einer der ersten Beamten dieser alten Hauptstadt, der von der Ankunft der Babylonierin und des Phönix unterrichtet war, beeilte sich, der Prinzessin seine Huldigungen darzubringen und das Land würdig bei ihr zu vertreten. Er war überzeugt, daß seine Herrin, die höflichste und prachtliebendste aller Königinnen, ihm Dank wisse, eine so große Dame mit der nämlichen Aufmerksamkeit empfangen zu haben, die sie ihr selbst erwiesen haben würde.

Man räumte Formosante den Palast zur Wohnung ein, von dem eine zudringliche Volksmenge entfernt werden mußte; man gab ihr herrliche Feste. Der kimmerische Herr, der ein großer Naturforscher war, unterhielt sich oft mit dem Phönix in der Zeit, da die Prinzessin sich in ihre Gemächer zurückgezogen hatte. Der Phönix gestand ihm, daß er früher schon zu den Kimmeriern gereist sei, und daß er das Land nicht mehr erkenne. »Wie können«, sagte er, »so wunderbare Veränderungen in so kurzer Zeit vor sich gehen? Es sind noch nicht dreihundert Jahre, daß ich hier die wilde Natur mit all ihren Schrecken gesehen habe. Heute finde ich hier Künste, Glanz, Ruhm und Kultur.«

»Ein einziger Mann Peter der Große. hat dieses große Werk begonnen,« antwortete der Kimmerier; »eine Frau hat es vollendet. Eine Frau war eine bessere Gesetzgeberin als die Isis der Ägypter und die Ceres der Griechen. Die meisten Gesetzgeber hatten einen engen, despotischen Geist, der ihren Blick auf das Land beschränkte, das sie regierten; jeder betrachtete sein Volk, als ob es allein auf der Erde sei oder der Feind aller anderen Völker sein müsse. Sie haben einzig für dieses Volk Einrichtungen getroffen, Gebräuche eingeführt, eine Religion gestiftet. Auf diese Art sind die Ägypter, die durch ihre Steinhaufen berühmt wurden, verdummt und haben sich selbst entehrt durch ihren barbarischen Aberglauben. Sie halten andere Völker für unheilig und verkehren nicht mit ihnen; außer dem Hof, der sich manchmal über die vulgären Vorurteile erhebt, gibt es keinen Ägypter, der von einem Teller essen würde, aus dem ein Fremder etwas genossen hat. Ihre Priester sind grausam und absonderlich. Es wäre besser, keine Gesetze zu haben und nur auf die Natur zu hören, die in unsere Herzen das Gefühl für Recht und Unrecht eingegraben hat, anstatt die Gesellschaft solch unsozialen Gesetzen zu unterwerfen.

Unsere Kaiserin hegt völlig entgegengesetzte Pläne; sie betrachtet ihr unermeßliches Reich, in welchem alle Meridiane zusammentreffen, als Einigungspunkt aller Völker, die unter diesen verschiedenen Meridianen wohnen. Das erste ihrer Gesetze war die Duldung aller Religionen und das Mitgefühl für alle Irrtümer. Ihr mächtiges Genie hat erkannt, daß, wenn auch die Kulte verschieden sind, die Moral überall dieselbe bleibt. Durch diesen Grundsatz hat sie ihre Nation mit allen Nationen der Erde verbunden, und die Kimmerier betrachten die Skandinavier und die Chinesen als ihre Brüder. Sie hat mehr getan: sie wollte, daß diese kostbare Duldsamkeit, das erste Band zwischen den Menschen, auch bei ihren Nachbarn Den Polen. herrsche; so hat sie den Titel ›Mutter des Landes‹ verdient, und sie wird den einer Wohltäterin der Menschheit bekommen, wenn sie auf diesem Wege fortfährt.

Vor ihr sandten Männer, die unglücklicherweise die Macht dazu hatten, Truppen von Mördern aus, um unbekannten Völkern das Erbteil ihrer Väter zu rauben und es mit Blut zu düngen: man nannte diese Mörder Helden, ihren Raub Ruhm. Unsere Herrscherin will anderen Ruhm: sie hat Heere ausgesandt, um Frieden zu bringen, um die Menschen zu verhindern, sich gegenseitig zu schaden, um sie zu zwingen, einander zu ertragen; und ihre Fahnen sind die der öffentlichen Eintracht.«

Der Phönix war entzückt über das, was er hörte; er sagte: »Herr, seit siebenundzwanzigtausendneunhundert Jahren und sieben Monaten bin ich auf der Erde, aber ich habe noch nichts gesehen, das dem, was Ihr mir sagt, vergleichbar wäre.« Er fragte ihn nach seinem Freunde Amazan; der Kimmerier erzählte ihm dasselbe, was man der Prinzessin bei den Chinesen und den Skythen gesagt hatte. Amazan floh von allen Höfen, die er besuchte, sowie eine Dame ihm ein Stelldichein gegeben hatte, dem er zu unterliegen fürchtete. Der Phönix unterrichtete Formosante bald von diesem neuen Beweis der Treue, den Amazan ihr gab: einer Treue, die um so erstaunlicher war, als er nicht vermuten konnte, daß seine Prinzessin je davon erfahren werde.


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