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Zweites Kapitel

Alle Bewerber versuchen, den Spruch des Orakels zu erfüllen. Einem Einzigen, der bescheiden bleibt, gelingt es. Der seltsame Vogel wird mit einem herrlichen Geschenk zu Formosante geschickt. Welcher Art dieser Sieger ist. Seine Abreise und ihre Ursache

Die Proben begannen. Nimrods Bogen ward dem goldenen. Behälter entnommen. Der Oberzeremonienmeister, dem fünfzig Pagen folgten und zwanzig Trompeter vorangingen, brachte ihn zum König von Ägypten, der ihn von seinen Priestern segnen ließ. Nachdem er ihn dann noch auf den Kopf des Ochsen Apis gelegt, zweifelte er nicht, daß er diesen ersten Sieg davontragen werde.

Er steigt in die Mitte der Arena hinab, probiert den Bogen, erschöpft seine Kräfte, dreht und wendet sich in Verrenkungen, die das Amphitheater zum Lachen bringen und selbst Formosanten ein Lächeln entlocken. Sein Oberpriester näherte sich ihm und sagte: »Möge Eure Majestät auf diese eitle Ehre verzichten, die nichts ist als ein Spiel der Muskeln und Nerven. In allem übrigen werdet Ihr triumphieren. Ihr werdet den Löwen besiegen, da Ihr das Schwert des Osiris besitzet. Die Prinzessin von Babylon soll dem gehören, der am meisten Geist besitzt: Ihr seid ein guter Rätsellöser. Sie soll den Tugendhaftesten wählen: wer ist das mehr als Ihr, die Ihr von ägyptischen Priestern erzogen wurdet? Der Freigebigste soll sie besitzen: Ihr schenktet die zwei schönsten Krokodile und die zwei schönsten Ratten des Delta; Euch gehört der Ochse Apis und die Bücher des Hermes, diese größte Seltenheit des Weltalls. Niemand kann Euch Formosante streitig machen.«

»Ihr habt recht«, sagte der König von Ägypten; und setzte sich wieder auf seinen Thron.

Nun überreichte man den Bogen dem König von Indien. Er holte sich auf vierzehn Tage Blasen an den Händen und tröstete sich nur mit der Hoffnung, daß der König der Skythen nicht glücklicher sein werde.

Jetzt war der Skythe daran, den Bogen zu handhaben. Er vereinigte Geschick mit Kraft: der Bogen schien unter seinen Händen Geschmeidigkeit anzunehmen; auch brachte er ihn etwas zum Biegen, doch gelang es ihm nicht, ihn völlig zu spannen. Die Zuschauer, die das tapfere Wesen dieses Fürsten zu seinen Gunsten stimmte, seufzten über seinen Mißerfolg und meinten, die schöne Prinzessin werde niemals vermählt werden.

Da sprang der junge Unbekannte mit einem Satz in die Arena und sagte zum König der Skythen: »Eure Majestät wundere sich nicht, das Ziel nicht völlig erreicht zu haben. Diese Ebenholzbogen werden in meiner Heimat geschnitzt. Es kommt nur auf einen bestimmten Handgriff an. Euer Verdienst, ihn zum Biegen gebracht zu haben, ist größer als das meine, ihn wirklich zu spannen.« Damit nahm er einen Pfeil, setzte ihn auf die Sehne, spannte Nimrods Bogen und ließ den Pfeil weit über die Schranken sausen. Eine Million Hände applaudierte diesem Wunder. Babylon erschallte von begeisterten Rufen, und alle Frauen sagten: »Welches Glück, daß solch schöner Jüngling zugleich solche Kraft besitzt!«

Darauf zog er aus seiner Tasche ein Elfenbeinplättchen, schrieb etwas darauf mit einer goldenen Nadel, befestigte die Platte am Bogen und bot das Ganze der Prinzessin mit einer Anmut dar, die alle Umstehenden entzückte. Dann setzte er sich bescheiden auf seinen Platz zwischen dem Vogel und dem Diener. Ganz Babylon war überrascht; die drei Könige waren bestürzt, und nur der Unbekannte schien nichts von alledem zu merken. Am meisten erstaunte Formosante, als sie auf der am Bogen befestigten Elfenbeinplatte diese Verse in schöner chaldäischer Sprache las:

Der Bogen Nimrods wird gespannt im Kriege;
Der Liebe Bogen schenkt das Glück als Preis.
Ihn spannst du, gibst im größten aller Siege
Den Liebesgott zum Herrn dem Erdenkreis.

Drei starke Könige sind hier Rivalen,
Sie wagen kühn, nach deiner Huld zu streben,
Nicht weiß ich, wem dein Jawort wird erstrahlen;
Doch wird das Weltall dann vor Neid erbeben.

Dieses kleine Madrigal kränkte die Prinzessin keineswegs. Einige Herren des alten Gefolges kritisierten es zwar: sie sagten, früher, in der guten alten Zeit, würde man Belus mit der Sonne, Formosante mit dem Mond, ihren Hals mit einem Turm und ihren Busen mit einem Scheffel Weizen verglichen haben. Sie meinten, der Fremde habe keine Phantasie, er entferne sich zu sehr von den Regeln der wahren Dichtkunst. Aber alle Damen fanden die Verse sehr ritterlich. Sie staunten, daß ein Mann, der einen Bogen so gut spannte, zugleich so viel Geist besitzen könne. Die Ehrendame der Prinzessin sagte zu ihr: »Prinzessin, welche Talente gehen hier verloren! Was nützen diesem jungen Mann sein Geist und der Bogen des Belus?«

»Man wird ihn bewundern«, erwiderte Formosante.

»Ah,« sagte die Ehrendame zwischen den Zähnen, »noch ein Madrigal, und er wird geliebt werden.«

Indessen erklärte Belus, der seine Magier befragt hatte, er müsse seine Tochter vermählen, wenn auch keiner der drei Könige den Nimrodbogen gespannt habe. Sie solle dem gehören, dem es gelänge, den großen Löwen niederzuringen, den man eigens zu diesem Zweck in seiner Menagerie hielt.

Der König von Ägypten, der in der ganzen Weisheit seines Landes erzogen war, fand es sehr lächerlich, daß man, um einen König zu vermählen, ihn den wilden Bestien aussetze. Er gab zu, daß der Besitz Formosantes ein hoher Preis sei. Aber er behauptete, wenn der Löwe ihn erwürge, könne er die schöne Babylonierin niemals heiraten. Der König von Indien schloß sich dieser Meinung des Ägypters an. Beide waren sich einig, daß der König von Babylon sich über sie lustig mache; daß Heere anrücken müßten, um ihn zu strafen; daß sie genug Untertanen hätten, die sich außerordentlich geehrt fühlen würden, im Dienste ihrer Herrscher zu sterben, ohne daß ein Haar auf deren geheiligten Häuptern gekrümmt werde. Es würde ihnen eine Leichtigkeit sein, den König von Babylon zu entthronen und die schöne Formosante unter sich zu verlosen. Nach dieser Vereinbarung sandte jeder der beiden Könige ausdrücklichen Befehl in sein Land, ein Heer von dreihunderttausend Mann zusammenzuziehen, um Formosante zu entführen.

Indessen stieg der König der Skythen allein, in der Hand seinen Säbel, in die Arena hinab. Er war nicht sterblich verliebt in Formosantes Reize; der Ruhm war bisher seine einzige Leidenschaft gewesen; er hatte ihn auch nach Babylon gelockt. Nun wollte er zeigen, daß er, wenn die Könige von Indien und Ägypten so vorsichtig waren, sich nicht mit dem Löwen einzulassen, doch genug Mut habe, um diesem Kampf nicht auszuweichen und damit die Ehre des Königsdiadems zu retten. Seine seltene Tapferkeit gestattete ihm nicht einmal, sich seines Tigers als Hilfe zu bedienen. Allein, leicht bewaffnet, mit einem goldverzierten Stahlhelm bedeckt, der von drei schneeweißen Roßschweifen beschattet wurde, trat er in die Arena.

Der gewaltigste Löwe, der je in den Bergen des Anti-Libanon großgeworden war, wird auf ihn losgelassen. Die furchtbaren Klauen des Tieres schienen fähig, drei Könige auf einmal zu zerreißen, wie sein gähnender Rachen, sie alle zu verschlingen. Sein entsetzliches Gebrüll ließ das Amphitheater erzittern. Die beiden stolzen Kämpfer stürzen in schnellem Lauf aufeinander zu. Der mutige Skythe jagt sein Schwert in den Rachen des Löwen; aber die Spitze stößt auf einen jener starken Zähne, an denen alles abprallt, sie bricht in Stücke. Schon schlug das durch seine Wunden gereizte Ungeheuer der Wälder seine blutenden Pranken in die Seiten des Monarchen.

Da wirft sich der junge Unbekannte, den die Not eines so tapferen Fürsten rührte, schneller als ein Blitz in die Arena. Er haut den Kopf des Löwen mit einer Geschicklichkeit ab, wie man sie in späteren Zeiten nur bei den Ringelspielen unserer jungen Kavaliere sah, wenn sie Maurenköpfe oder Ringe mit Gewandtheit abhieben.

Dann zieht er eine kleine Büchse hervor, gibt sie dem König der Skythen und sagt: »In dieser Büchse werden Eure Majestät die echte Eschenwurzel finden, die in meiner Heimat wächst. Eure ruhmreichen Wunden werden in einem Augenblick geheilt sein. Nur der Zufall hat Euch verhindert, den Löwen zu besiegen; Euer Mut ist darum nicht weniger zu bewundern.«

Der skythische König neigte zur Dankbarkeit mehr als zur Eifersucht; er dankte seinem Befreier, umarmte ihn zärtlich und zog sich in seine Gemächer zurück, um das Heilmittel auf seine Wunden zu legen.

Der Unbekannte gab den Kopf des Löwen seinem Diener; dieser wusch ihn in dem großen Brunnen unter dem Amphitheater, ließ das Blut ablaufen, holte ein Eisen aus seinem kleinen Sack, zog die vierzig Zähne des Löwen aus und setzte an ihre Stelle vierzig Diamanten von gleicher Größe.

Sein Herr ließ sich mit seiner gewohnten Bescheidenheit auf seinem Platze nieder; er gab den Kopf des Löwen seinem Vogel und sagte: »Schöner Vogel, trage dies schwache Zeichen meiner Huldigung zu Formosantes Füßen.« Der Vogel fliegt davon mit dem furchtbaren Siegeszeichen in einer seiner Klauen. Er überreicht es der Prinzessin, senkt den Hals in Demut und läßt sich tief vor ihr nieder. Die vierzig Brillanten blendeten aller Augen. Man kannte diese Pracht noch nicht in Babylon: Smaragd, Topas, Saphir und Rubin galten als kostbarster Schmuck. Belus und der ganze Hof waren von Bewunderung hingerissen. Noch mehr überraschte sie der Vogel, der das Geschenk überreichte. Er hatte die Gestalt eines Adlers, aber seine Augen waren ebenso sanft und zärtlich, wie die des Adlers stolz und drohend sind. Sein Schnabel war rosenfarben und glich in etwas dem schönen Munde Formosantes. Sein Hals schimmerte in allen Farben des Regenbogens, nur lebhafter und glänzender. In tausend Schattierungen brach das Gold aus seinem Gefieder. Seine Füße schienen ein Gemisch von Silber und Purpur; und der Schwanz der schönen Vögel, die man später an den Wagen der Juno spannte, konnte mit dem seinen nicht verglichen werden.

Die Aufmerksamkeit, Neugier, Überraschung und Begeisterung des ganzen Hofes teilten sich zwischen den vierzig Diamanten und dem Vogel. Er hatte sich auf die Balustrade gesetzt, zwischen Belus. und seine Tochter Formosante. Sie schmeichelte ihm, streichelte, küßte ihn. Er schien diese Liebkosungen mit einer ehrfürchtigen Freude anzunehmen. Die Küsse der Prinzessin gab er ihr zurück und betrachtete sie dann mit zärtlichen Augen. Sie gab ihm Biskuits und Pistazien, die er mit seiner purpur und silberfarbenen Klaue nahm und mit unbeschreiblicher Anmut zum Schnabel führte.

Belus, der die Diamanten aufmerksam betrachtet hatte, urteilte, daß er solch reiches Geschenk kaum mit einer seiner Provinzen bezahlen könne. Er befahl, man solle für den Unbekannten noch kostbarere Geschenke in Bereitschaft halten als die für die drei Monarchen bestimmt gewesenen. »Dieser junge Mann«, sagte er, »ist ohne Zweifel der Sohn des Königs von China, oder er stammt aus jenem Weltteil, den man Europa nennt, von dem man mir erzählt hat; oder aus Afrika, das, wie man sagt, dem Königreich Ägypten benachbart ist.«

Er schickte unverzüglich seinen Oberstallmeister zu dem Unbekannten, um ihn zu begrüßen und ihn zu fragen, ob er ein Herrscher oder der Sohn des Herrschers eines jener Reiche sei, und weshalb er, der so erstaunliche Schätze besitze, mit einem einzigen Diener und einem kleinen Sack gekommen sei.

Während der Oberstallmeister auf das Amphitheater zuschritt, um seinen Auftrag zu erfüllen, kam ein anderer Diener auf einem Einhorn an. Dieser Diener richtete das Wort an den jungen Mann und sagte zu ihm: »Ormar, Euer Vater liegt im Sterben. Ich komme, Euch davon zu benachrichtigen.« Der Unbekannte hob die Augen zum Himmel, brach in Tränen aus und antwortete: »Wir reisen.«

Nachdem der Oberstallmeister dem Löwenbezwinger, dem Spender der vierzig Diamanten, dem Herrn des schönen Vogels die Grüße des Belus entboten hatte, fragte er den Diener, in welchem Königreich der Vater dieses jungen Helden Herrscher sei. Der Diener antwortete: »Sein Vater ist ein alter Hirte, der außerordentlich geliebt wird in unserer Gegend.«

Während dieser kurzen Unterhaltung hatte der Unbekannte sein Einhorn bestiegen. Er sagte zum Oberstallmeister: »Herr, habet die Güte, mich Belus und seiner Tochter zu Füßen zu legen. Ich wage die Prinzessin zu bitten, für den Vogel, den ich hier lasse, größte Sorge zu tragen; er ist einzig wie sie.« Nach diesen Worten ritt er davon, schnell wie ein Blitz. Die beiden Diener folgten ihm, und man verlor sie aus den Augen.

Formosante konnte sich nicht enthalten, einen kurzen Schrei auszustoßen. Der Vogel wandte sich nach dem Amphitheater, wo sein Herr gesessen hatte, und schien sehr betrübt, ihn nicht mehr zu erblicken. Darauf sah er die Prinzessin lange an; dann rieb er seinen Schnabel sanft an ihrer Hand; als ob er sich damit ihrem Dienste weihen wolle.

Belus war erstaunter als je in seinem Leben, als er erfuhr, daß dieser außerordentliche junge Mann der Sohn eines Hirten sei; er konnte es nicht glauben. Er schickte Reiter hinter ihm her; aber bald meldete man ihm, daß die Einhörner, auf denen die drei Männer davoneilten, nicht eingeholt werden konnten; und daß sie in dem Galopp, den sie eingeschlagen, hundert Meilen am Tage zurückzulegen vermöchten.


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