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Erstes Kapitel

Der Palast des Königs von Babylon, des Vaters der schönen Babylonierin. Beschreibung dieser unvergleichlichen Schönheit. Ein Orakel befiehlt ihr Vermählung unter besonderen Bedingungen. Drei Könige stellen sich vor, um den Preis zu erringen. Ankunft eines vierten Bewerbers

Der alte Belus, König von Babylon, hielt sich für den größten Mann der Erde; denn alle seine Höflinge redeten es ihm ein, und seine Geschichtschreiber bewiesen es ihm. Diese Lächerlichkeit ward einigermaßen entschuldbar durch den Umstand, daß Babylon in der Tat dreißigtausend Jahre vor ihm von seinen Vorfahren erbaut worden war und er es verschönert hatte. Man weiß, daß sein Palast und sein Park einige persische Meilen von Babylon entfernt lagen. Sie breiteten sich zwischen Euphrat und Tigris aus, die an diesen zauberhaften Ufern vorbeifluten. Sein weites Haus war dreitausend Fuß lang und erhob sich bis in die Wolken. Um das Dach lief eine fünfzig Fuß hohe Balustrade aus weißem Marmor, welche die Riesenstandbilder aller Könige und aller großen Männer des Reiches trug. Dieses flache Dach bestand, von einem Ende zum anderen, aus zwei Reihen mit dicker Bleischicht überzogener Ziegelsteine. Es war bedeckt von zwölf Fuß hoher Erde. Hier wuchsen Oliven-, Orangen-, Zitronen-, Palmen-, Gewürznelken-, Kokos- und Zimtwälder, die für die Sonnenstrahlen undurchdringliche Alleen bildeten.

In hundert ausgehöhlten Säulen wurden die Wasser des Euphrat durch Pumpen emporgetrieben, um große weiße Marmorbecken in diesen Gärten zu füllen. Dann fielen sie durch andere Kanäle in den Park hinab und wurden zu Wasserfällen von sechstausend Fuß Länge, zu hunderttausend Springbrunnen, deren Spitze kaum gesehen werden konnte. Darauf kehrten sie zum Euphrat zurück, von dem sie ausgegangen waren. Die Gärten der Semiramis, die Asien mehrere Jahrhunderte später in Erstaunen setzten, waren nur eine schwache Nachahmung dieser antiken Wunder; denn zur Zeit der Semiramis begann schon die Entartung der Männer und Frauen.

Das Bewundernswerteste aber in Babylon, das, was alles übrige verdunkelte, war die einzige Tochter des Königs mit Namen Formosante. Nach ihren Bildern und Statuen meißelte einige Jahrhunderte später Praxiteles seine Aphrodite und jenes Standbild, das man die »Venus mit den schönen Hinterbacken« nannte. Welcher Unterschied, o Himmel! zwischen Original und Kopien! Belus war deshalb auch stolzer auf seine Tochter als auf sein Königreich. Sie war achtzehn Jahre alt; ein Gemahl, der ihrer würdig war, sollte gesucht werden; doch wo ihn finden? Ein altes Orakel hatte befohlen, daß Formosante nur dem gehören dürfe, der den Bogen des Nimrod zu spannen vermöchte. Dieser Nimrod, ein starker Jäger vor dem Herrn, hatte einen sieben Fuß hohen Bogen hinterlassen, der härter war als das Eisen vom Kaukasus, welches in den Schmieden von Derbent bearbeitet wird. Seit Nimrod hatte kein Sterblicher vermocht, diesen merkwürdigen Bogen zu spannen.

Ferner verlangte das Orakel, der Arm, der diesen Bogen spanne, solle den furchtbarsten und gefährlichsten Löwen töten, der je in einem Zirkus von Babylon werde losgelassen werden. Das genügte nicht: der Bogenspanner und Löwenbesieger mußte seine Nebenbuhler sämtlich niederwerfen; vor allem jedoch viel Geist haben, der prächtigste und tugendhafteste aller Männer sein und das seltenste Ding auf der ganzen Erde besitzen.

Drei Könige stellten sich vor, die um Formosante zu ringen wagten: der Pharao von Ägypten, der Schah von Indien und der große Khan der Skythen. Belus bestimmte den Tag und bezeichnete den Ort des Kampfes am äußersten Ende seines Parkes, in der weiten Ebene, die die vereinten Wasser des Euphrat und Tigris begrenzten. Rund um den Kampfplatz wurde ein Amphitheater aus Marmor gebaut, das fünfhunderttausend Zuschauer fassen konnte. Dem Amphitheater gegenüber war der Thron errichtet. Der König, Formosante und der ganze Hof sollte erscheinen, Links und rechts zwischen Thron und Amphitheater waren andere Throne und Sitze für die drei Könige und die übrigen Fürsten, die diesem erhabenen Feste beizuwohnen wünschten.

Als erster kam der König von Ägypten. Er saß auf dem Ochsen Apis und hielt die Klapper der Isis in der Hand. Zweitausend Priester in Leinengewändern, die weißer als Schnee waren, folgten ihm, dann zweitausend Eunuchen, zweitausend Magier und zweitausend Krieger.

Bald darauf nahte der König der Inder. Zwölf Elefanten zogen seinen Wagen. Er hatte ein noch zahlreicheres und noch glänzenderes Gefolge als der Pharao von Ägypten.

Der letzte, der erschien, war der König der Skythen. Er hatte nur erlesene, mit Pfeil und Bogen bewaffnete Krieger um sich. Sein Reittier war ein herrlicher Tiger, den er gezähmt hatte, und der so hoch war wie die schönsten Perserpferde. Die Gestalt dieses Fürsten war majestätisch und verdunkelte die seiner Nebenbuhler. Seine nackten Arme, die ebenso sehnig wie weiß waren, schienen den Bogen des Nimrod schon zu spannen.

Die drei Fürsten warfen sich vor Belus und Formosante zur Erde. Der König von Ägypten schenkte der Prinzessin die zwei schönsten Krokodile des Nils, zwei Flußpferde, zwei Zebras und zwei ägyptische Ratten; außerdem die Bücher des großen Hermes, die er für das seltenste Ding auf der Erde hielt.

Der König von Indien bot ihr hundert Elefanten; jeder trug einen Turm aus vergoldetem Holze. Dann legte er die Veda in Xacas Buddhas.eigener Handschrift ihr zu Füßen.

Der König der Skythen, der weder lesen noch schreiben konnte, brachte hundert Schlachtrosse, die Schabracken aus schwarzen Fuchsfellen trugen.

Die Prinzessin senkte die Augen vor ihren Freiern und verneigte sich mit ebenso edler wie bescheidener Anmut.

Belus ließ die Fürsten zu den für sie bereiteten Thronsitzen führen. »Warum habe ich nicht drei Töchter!« sagte er; »ich würde heute sechs Menschen glücklich machen.« Dann ließ er durch das Los entscheiden, wer Nimrods Bogen zuerst probieren sollte. Man legte die Namen der drei Bewerber in einen goldenen Helm. Zuerst wurde der des Königs von Ägypten gezogen; dann der des Königs von Indien. Der skythische König betrachtete den Bogen und seine Rivalen und war es zufrieden, der letzte zu sein.

Während man diese glänzenden Proben vorbereitete, verteilten zwanzigtausend junge Mädchen und Pagen, ohne daß Unordnung entstand, Erfrischungen an die Zuschauer zwischen den Rängen der Sitze. Alle stimmten überein, daß die Götter Könige nur geschaffen, um alle Tage Feste zu feiern, vorausgesetzt, daß sie Abwechslung böten; daß das Leben zu kurz sei, um es anders anzuwenden; daß Prozesse, Intrigen, Kriege, Streitigkeiten der Priester, die das menschliche Leben verzehren, entsetzliche und alberne Dinge seien; daß der Mensch nur zur Freude geboren sei; daß er Vergnügungen nicht mit solcher Ausdauer und Leidenschaft lieben würde, wenn er nicht für sie geschaffen wäre; kurz, daß die menschliche Natur Genuß verlange und alles andere Narrheit sei. Diese ausgezeichnete Moral ist nie anders als durch Tatsachen widerlegt worden.

Die Proben, die Formosantes Schicksal entscheiden mußten, sollten beginnen. Da erschien ein junger Unbekannter am Eingang. Er saß auf einem Einhorn, war von einem Diener gefolgt, der ebenso beritten war, und trug einen großen Vogel auf der Hand. Die Wachen waren überrascht, in solchem Aufzuge eine Gestalt zu sehen, die einem Gotte ähnelte. Es war, wie man später sagte, das Gesicht des Adonis auf dem Leib des Herkules; Majestät und Anmut in einem. Die schwarzen Augenbrauen, die langen blonden Haare, eine Mischung, die Babylon nicht kannte, entzückten die Versammlung: das ganze Amphitheater erhob sich, um ihn besser zu sehen. Alle Damen des Hofes blickten in tiefer Überraschung auf ihn. Formosante selbst senkte die Augen, erhob sie wieder und errötete. Die drei Könige erbleichten. Alle Zuschauer riefen, indem sie Formosante mit dem Unbekannten verglichen: »Dieser junge Mann ist der einzige auf der Welt, der ebenso schön ist wie die Prinzessin.«

Die von Staunen ergriffenen Wächter fragten ihn, ob er König sei. Der Fremde antwortete, er habe diese Ehre nicht, doch sei er, aus Neugier, weither gekommen, um zu sehen, ob es Könige gäbe, die Formosantes würdig seien. Man führte ihn in die erste Reihe des Amphitheaters, ihn, seinen Diener, seine beiden Einhörner und seinen Vogel. Er verneigte sich tief vor Belus, seiner Tochter, den drei Königen und der ganzen Versammlung. Dann nahm er errötend Platz. Seine beiden Einhörner legten sich ihm zu Füßen, der Vogel setzte sich auf seine Schulter, und der Diener, der einen kleinen Sack trug, nahm den Platz neben ihm ein.


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