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Zwölftes Kapitel

Formosante und ihre Kammerfrau kommen in China an: was sie dort merkwürdiges sieht. Schöner Zug der Treue Amazans. Sie reist nach Skythien, wo sie ihre Base Aldea trifft. Gegenseitige Freundschafts-Erklärungen ohne Liebe

In weniger als acht Tagen brachten die Einhörner Formosante, Irla und den Phönix nach Kambalu, der Hauptstadt von China. Das war eine größere Stadt als Babylon und von einer völlig verschiedenartigen Pracht. Diese neuen Dinge, diese neuen Sitten hätten Formosante unterhalten, wenn sie fähig gewesen wäre, sich mit etwas anderem zu befassen als mit Amazan.

Sobald der Kaiser von China erfahren hatte, daß die Prinzessin von Babylon an einem Tore der Stadt sei, entsandte er viertausend Mandarinen in Staatsgewändern; alle warfen sich vor ihr auf die Erde und boten ihr einen Gruß in goldenen Lettern auf einem Blatt von purpurroter Seide. Formosante sagte zu ihnen, wenn sie viertausend Zungen hätte, würde sie nicht ermangeln, jedem Mandarinen auf der Stelle zu antworten; da sie aber nur eine habe, bitte sie, es sich genügen zu lassen, daß sie sich dieser bediene, um allen gemeinsam zu danken. Sie führten sie voll Ehrerbietung zum Kaiser.

Dies war der gerechteste, höflichste und weiseste Herrscher der Erde. Er war es, der als Erster ein kleines Feld höchstselbst mit seinen kaiserlichen Händen bebaute, um den Ackerbau seinem Volke achtungswert zu machen. Er war der Erste, der Tugendpreise ausschrieb. In allen anderen Ländern gab es nur Gesetze, die sich schmählich darauf beschränkten, Verbrechen zu strafen. Dieser Kaiser hatte soeben eine Gesellschaft fremder Bonzen Die Jesuiten. aus seinen Staaten verjagt, die in der unsinnigen Hoffnung, ganz China zu ihren Ideen zu bekehren, aus dem Innern des Abendlandes gekommen waren. Unter dem Vorwande, Wahrheiten zu verkünden, hatten sie schon Vermögen und Würden eingeheimst. Als er sie vertrieb, rief er ihnen diese, in den Annalen des Reiches verzeichneten Worte zu:

»Ihr könntet hier ebenso großes Unheil anrichten, wie ihr an anderen Orten gestiftet habt. Ihr seid gekommen, um bei der tolerantesten Nation der Erde das Dogma der Intoleranz zu predigen. Ich schicke euch fort, um nie gezwungen zu werden, euch zu strafen. Ihr werdet ehrenvoll über meine Grenzen gebracht werden; man wird euch mit allem versehen, damit ihr zu den Grenzen des Erdteils, von dem ihr kamt, zurückkehren könnt. Geht in Frieden, wenn ihr das vermöget, und kommt nie wieder.«

Die Prinzessin von Babylon erfuhr mit Freuden dieses Urteil und diese Rede; sie war dadurch um so sicherer, bei Hof gut aufgenommen zu werden, weil sie selber von allen intoleranten Dogmen weit entfernt war. Der Kaiser von China, der mit ihr allein speiste, war so höflich, den Zwang jeder einengenden Etikette zu verbannen. Sie stellte ihm den Phönix vor, den der Kaiser liebkoste, und der sich auf seinen Sessel setzte. Gegen Ende des Mahles vertraute Formosante ihm das Ziel ihrer Reise ganz offen an; sie bat ihn, den schönen Amazan in Kambalu suchen zu lassen, und erzählte ihm dessen Abenteuer, ohne die schicksalsvolle Neigung ihres entflammten Herzens zu diesem jungen Helden zu verbergen. »Wem sagt Ihr dies?« rief der Kaiser von China; »er hat mir die Freude gemacht, an meinen Hof zu kommen; er hat mich entzückt, dieser liebenswürdige Amazan; es ist wahr, er ist tief unglücklich; aber seine Anmut ist dadurch noch gesteigert; keiner meiner Günstlinge hat mehr Geist als er; kein gelehrter Mandarin hat umfassendere Kenntnisse; kein kriegerischer Mandarin einen kühneren und heldischeren Ausdruck; seine große Jugend gibt all seinen Talenten einen besonderen Wert. Wäre ich unglücklich genug, um von Tilu und Changti so verlassen zu sein, daß ich Eroberer werden wollte, so würde ich Amazan bitten, sich an die Spitze meiner Heere zu stellen, und ich wäre sicher, über das ganze Weltall zu siegen. Es ist nur schade, daß sein Kummer ihm manchmal den Geist verwirrt.«

»Ach! Majestät,« sagte Formosante mit entflammtem Ausdruck und einer Stimme voll Schmerz und tiefem Vorwurf, »warum habt Ihr mich nicht mit ihm zusammen speisen lassen? Ihr tötet mich, wenn Ihr ihn nicht sofort kommen lasset.«

»Prinzessin, er ist heute morgen abgereist und hat niemandem gesagt, in welche Gegend er seine Schritte lenke.«

Formosante wandte sich zu dem Phönix. »Nun,« sagte sie, »Phönix, hast du je ein unglücklicheres Mädchen gesehen als mich? Wie aber, mein Herr,« fuhr sie fort, »konnte er diesen prachtvollen Hof, an dem man sein ganzes Leben zubringen möchte, so unvermittelt verlassen?«

»Ihr sollt erfahren, Prinzessin, was geschehen ist. Eine Prinzessin von Geblüt, eine der liebenswürdigsten, hat sich leidenschaftlich in ihn verliebt und ihn zu Mittag für ein Stelldichein erwartet: er ist bei Tagesanbruch abgereist und hinterließ dieses Billett, das meiner Verwandten viele Tränen gekostet hat:

›Schöne Prinzessin aus chinesischem Geblüte, Ihr verdienet ein Herz, das immer nur Euch gehört hat; ich habe den unsterblichen Göttern geschworen, nie eine andere zu lieben als Formosante, Prinzessin von Babylon, und ihr die Lehre zu erteilen, wie man auf Reisen seine Wünsche bezähmt; sie hat das Mißgeschick gehabt, einem unwürdigen Könige von Ägypten zu erliegen; ich bin der unseligste aller Menschen. Ich habe meinen Vater, den Phönix und die Hoffnung verloren, von Formosante geliebt zu werden; ich habe meine trauernde Mutter und mein Vaterland verlassen, da ich nicht einen Augenblick an dem Orte mehr leben konnte, wo ich erfahren hatte, daß Formosante einen andern liebe; ich habe geschworen, die Erde zu durchwandern und ihr treu zu bleiben. Ihr dürft mich verachten, und die Götter mögen mich strafen, wenn ich meinen Schwur breche. Nehmen Sie einen Geliebten, Prinzessin, und seien Sie ebenso treu wie ich.‹«

»Ah! lassen Sie mir diesen herrlichen Brief,« sagte die schöne Formosante, »er wird mir ein Trost sein; ich bin glücklich in meinem Unglück. Amazan liebt mich; Amazan verzichtet um meinetwillen auf den Besitz der Prinzessinnen von China; er allein auf Erden ist fähig, solch einen Sieg davonzutragen; er gibt mir ein großes Beispiel: der Phönix weiß, daß ich es nicht nötig hatte. Es ist grausam, des Geliebten beraubt zu werden, des unschuldigsten Kusses halber, der nur aus reinster Treue gegeben wurde! Ach! Wohin ist er gegangen? Welchen Weg hat er genommen? Geruhet, es mir zu sagen; und ich reise ab.«

Der Kaiser von China antwortete, er glaube nach den Berichten, die man ihm gegeben, daß ihr Geliebter einen Weg, der nach Skythien führe, genommen habe. Sofort wurden die Einhörner angespannt, und nach herzlichen Dankbezeigungen verabschiedete die Prinzessin sich vom Kaiser mitsamt ihrem Phönix, der Kammerfrau Irla und dem ganzen Gefolge.

Sobald sie in Skythien war, sah sie mehr als je, wie verschieden Menschen und Regierungen sind, und wie sie dies so lange bleiben müssen, bis irgendein, mehr als andere, aufgeklärtes Volk das Licht nach tausend Jahrhunderten des Dunkels immer weiter verbreiten wird und sich in barbarischen Gegenden heroische Seelen finden werden mit der Kraft und Ausdauer, Tiere in Menschen zu wandeln. Keine Städte in Skythien, folglich auch keine schönen Künste. Man sah nichts als unermeßliche Wiesen und ganze Völker unter Zelten und auf Wagen. Dieser Anblick erschreckte. Formosante fragte, in welchem Zelte oder auf welchem Wagen der König wohne. Man sagte ihr, seit acht Tagen marschiere, er mit dreihunderttausend Mann Kavallerie gegen den König von Babylon, dessen Nichte, die schöne Prinzessin Aldea, er entführt habe. »Er hat meine Base entführt?« rief Formosante; »auf dieses neue Abenteuer war ich nicht vorbereitet. Wie! meine Base, die schon glücklich war, mir den Hof machen zu dürfen, ist Königin geworden, und ich bin noch nicht verheiratet!« Sie ließ sich unverzüglich nach den Zelten der Königin führen.

Ihr unverhofftes Wiedersehen in dieser fernen Gegend, die seltsamen Dinge, die sie sich gegenseitig zu sagen hatten, gaben ihrem Beisammensein einen Reiz, der sie vergessen ließ, daß sie sich nie geliebt hatten. Sie begrüßten sich mit Überschwang; eine sanfte Täuschung ersetzte die wahre Zärtlichkeit. Sie umarmten sich weinend, und es war zwischen ihnen sogar etwas wie Herzlichkeit und Offenheit, weil die Zusammenkunft nicht in einem Palaste stattfand.

Aldea erkannte den Phönix und die Vertraute Irla wieder; sie schenkte ihrer Base Zobelpelze, und diese gab ihr Diamanten. Sie sprachen vom Kriege zwischen den beiden Königen. Sie beklagten das Schicksal der Männer, die um einiger Streitigkeiten willen, welche zwei ehrliche Menschen in einer Stunde beilegen könnten, von ihren Monarchen nach Belieben zum Abschlachten geschickt werden dürfen. Vor allem aber sprachen sie von dem schönen, fremden Löwenbesieger, dem Spender der größten Diamanten des Weltalls, Dichter von Madrigalen und Eigentümer des Phönix, der nun durch den Bericht einer Amsel der unglücklichste aller Menschen geworden war.

»Er ist mein lieber Bruder,« sagte Aldea.

»Und mein Geliebter,« rief Formosante. »Gewiß saht Ihr ihn; oder ist er vielleicht noch hier? Denn er weiß, Base, daß er Euer Bruder ist. Er wird Euch nicht so unvermittelt verlassen haben wie den Kaiser von China.«

»Ob ich ihn gesehen habe, große Götter!« erwiderte Aldea. »Er hat vier ganze Tage bei mir zugebracht. Ach! meine Base! wie ist mein Bruder zu beklagen! Ein falscher Bericht hat ihn völlig toll gemacht; er läuft in der Welt umher, ohne zu wissen, wohin. Stellt Euch vor, er hat den Wahnsinn so weit getrieben, daß er die Gunst der schönsten Skythin in ganz Skythien ausgeschlagen hat. Er reiste gestern ab, nachdem er ihr einen Brief geschrieben hatte, der sie in Verzweiflung stürzte. Er selbst ist zu den Kimmeriern gegangen.«

»Gott sei gelobt!« rief Formosante; »noch eine Absage zu meinen Gunsten! Mein Glück übertrifft meine Hoffnung, wie mein Unglück all meine Furcht überstiegen hat. Gebt mir diesen entzückenden Brief, damit ich, sein Opfer in der Hand, ihm folge. Lebt wohl, Base; Amazan ist bei den Kimmeriern; ich fliege dorthin.«

Aldea fand ihre Base, die Prinzessin, noch toller als ihren Bruder Amazan. Da sie aber selber die Anfälle dieser Krankheit kannte, da sie die Vergnügungen und die Pracht Babylons um des Skythenkönigs willen verlassen hatte, da sich Frauen immer für Tollheiten, deren Ursache Liebe ist, interessieren, erwärmte sie sich wirklich für Formosante, wünschte ihr glückliche Reise und versprach, ihrer Liebe Beistand zu leisten, wenn sie je so glücklich sein sollte, ihren Bruder wiederzusehen.


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