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§ 3.

Wirkliche Ausführung: Die Technik. Schule. Meisterschaft: Schein der Mühelosigkeit im Werke. Es gleicht an Objektivität einem Naturwerk. Virtuosität. Manier (im Unterschied vom rein technischen Gebrauche des Worts): künstlerische Gewöhnung, worin mehr eine stehende subjektive Auffassung als das Wesen der Sache sich ausspricht. Stil: Großheit der Auffassung des Gegenstandes in seinen grundwesentlichen Zügen und mit strengem sich Fügen in die Gesetze einer Kunst, wie sie sich habituell in die Technik niederlegt, oder: die idealbildende Thätigkeit als technische Gewöhnung. In unpersönlicher Anwendung bezeichnet Stil eben jene Gesetze oder die Art der Formengebung einer Kunst, wie sie sich aus den technisch-geistigen Bedingungen derselben ergibt. Innerhalb des Stils in diesem intensivsten Sinne ist doch eine doppelte Richtung möglich: die idealistische und die realistische, besser: die direkt und die indirekt idealisierende, weitere Bedeutung des Wortes Stil. Der Kunstcharakter einer Schule, Provinz, Nation, dann einer Epoche.

 

Es gibt eine Kunst mit dem denkbar geringsten Maße von Technik, eine Kunst vor der Kunst, die dann freilich auch neben der Kunst fortdauert, aber nur im Gebiete des Zusammentritts von Poesie und Musik. Ihr Werk ist das Volkslied. Wir wissen nicht, wo es herkommt. Es stammt nicht aus der Sphäre, wo einer hinsitzt, ein Gedicht macht und seinen Namen dazu schreibt. Es ist im Volk entstanden und sehr oft durch mehrere. »Das haben drei Husaren gemacht«; oder: »Das haben drei Jungfräulein gemacht«. Unbekannte haben es gedichtet und gesungen, mit dem Texte zugleich die Tonfolge erfunden oder dazu die Weise eines älteren Lieds verwendet. Es ist wesentlich an eine Melodie geknüpft, also ein Lied, und wird zunächst nicht ausgeschrieben, sondern nur singend fortgepflanzt. In dieser naiven, kunstlosen Kunst bekundet sich die Phantasie als allgemeine Menschen- und Völkergabe im Unterschied von der ausnehmend begabten Phantasie, der wir die eigentliche Kunst verdanken.

Diese aber, die wahre Kunst, fordert, wie schon gesagt, gründliche und dauernde Uebung und Bildung, um den Kampf mit dem Material zu bestehen. Da heißt es hübsch arbeiten und hübsch lernen.

Es hat sich für jede Kunst eine Summe von Regeln festgesetzt, wie die Technik geübt werden muß. Aber nur sehr allmählich. Zum Beispiel die ältesten Denkmäler der griechischen Kunst sind noch lange nicht die frühesten; denen ist noch eine lange, lange Uebung vorangegangen. Das denkbar Früheste wird so gewesen sein, wie es heutzutage noch ein Kind macht, wenn es sich Thon formt, oder mit der Feder zeichnet. Schon vor Jahrtausenden hat der Schmucktrieb an bloß notwendigen und nützlichen Dingen gewaltet. Bei den wildesten Völkern gibt es geflochtenes, gesticktes Zierwerk. Aus solchen Textilmustern der Vorzeit hat dann die Architektur Motive genommen, wie z. B. den Mäander. An dem Schaffen der Urkunst ist natürlich immer auch schon das höhere Talent beteiligt; es greift fördernd hinein und bringt die Technik vorwärts. Da hat z. B. einer die Gabe, Tiere zu zeichnen, und wird darin nachgeahmt. Sein Einfluß wächst und breitet sich über das ganze Land aus. So kam es, daß die etruskischen Maler, während sie sonst noch recht Unvollkommenes leisteten, die Tiere schon mit einem ziemlich reifen Verständnis zeichnen konnten. So bildet sich ein Schatz formaler Kenntnisse und technischer Regeln, so bildet sich eine Schule, die ihn überliefert.

Im Altertum und Mittelalter ging der Künstler ganz wie ein Handwerker in die Lehre, und so war es noch im 16. Jahrhundert. Er wußte sich eigentlich nur als Handwerker und nannte sich auch so. Er wuchs eben auf in einer Werkstätte. Den Lehrling, den Gesellen und den Meister verband ein patriarchalisches Verhältnis. Das alles hat sich sehr verändert. Es ist erkannt worden, daß der Künstler die Mittel, welche er braucht, um das Nötige zu lernen, in einer Werkstätte nicht ausreichend erwerben kann, und so ist man dazu gelangt, hiefür ganze Anstalten zu errichten. Es haben sich die Akademien gebildet, nachdem in Bologna und Rom hiemit der Anfang gemacht worden war. Unsere Architekten werden in Polytechniken, unsere Kunsthandwerker in Gewerbeschulen erzogen. Solche Lehrstätten sind ohne Frage nötig geworden, die Wissenschaft hat ihren Anteil an der Kunst. Der angehende Maler, Bildhauer, Architekt muß in Perspektive, Anatomie, Baukonstruktion, Mechanik u. a. unterrichtet, muß mit der Schatten- und Farbenlehre bekannt gemacht werden. Und alle miteinander brauchen Modelle und gute Muster zur Anleitung. Dafür kann der einzelne nicht immer sorgen, das muß eine Staatsanstalt leisten. Da soll der Zögling die Natur studieren, aber ebenso sehr die Antike. Und warum? Weil sie ein bleibendes Vorbild ist, eine zweite Natur. Die Griechen haben die normal schöne Entwickelung der Menschengestalt mit hellerem Auge gesehen als jemals ein anderes Volk, unterstützt davon, daß ihr Menschenschlag schöner war als je einer. Rumohr hat einmal gesagt: »mir scheint, man muß die Antike studieren, um die Natur sehen zu lernen.« Dürer und seine Vorläufer, namentlich in Franken, haben sich an die Natur, an die Menschen ihrer Heimat gehalten und sie so furchtbar eckig, so herb, so hager, so knöchern wiedergegeben, daß man staunen muß; und der Grund liegt darin, daß sie keine Antiken gesehen, oder nicht genug Antiken gesehen haben. Freilich ist es auch gefährlich, sich nur daran zu halten, und es gab Zeiten, wo man stark gegen sie reagierte, weil man damit in ein konventionelles Fahrgeleise geraten war. Bis zur Stumpfheit zeichnete man nach der Antike und nach dem Akte, den man ganz antikisierend stellte und sah. Wie anatomisch totenhaft wurde da das Zeichen! So wurde das Wort »akademisch« ein Tadel. Besonders Carstens und Schick machten gegen alles Akademiewesen Opposition. Aber sie haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wir können die Akademien nicht entbehren; nur wird es gut sein, das alte patriarchalische Verhältnis damit zu verknüpfen. Also wissenschaftliche Bildung in einer solchen Anstalt, jedoch daneben oder später praktische Führung im Atelier eines Aelteren.

Die Kunst verlangt einen ganzen Menschen und seine ganze Kraft. Hierin macht nur die Poesie eine Ausnahme, weil ihr Darstellungsmittel, die Sprache, das biegsamste, lebendigste, relativ am meisten schon vorbereitete ist. Jedoch gar zu leicht darf man es auch in der Poesie nicht nehmen. Wir haben ja schon gesehen: auch die Poesie hat Handwerk an sich und sehr vieles, und wir wollen das Wort Handwerk nicht verächtlich verstehen Vgl. oben S. 231.. Man ahnt nicht, was es Arbeit kostet, allein die Vorstudien zu einem Drama zu sammeln und dann es zu komponieren, wie schwer es oft ist, den Vers zu handhaben.

Wer der Kunst nicht sein ganzes Leben widmet und sie doch treibt, wer sich also nur spielend mit ihr beschäftigt und sie deshalb niemals gründlich lernt, den nennen wir einen Dilettanten. Nun wäre es sehr ungerecht, den Dilettantismus schlechtweg zu verachten und zu schmähen. Er dient als Bildungs- und Unterhaltungsmittel für die Gesellschaft. Es soll schon so sein, daß Kunst auch getrieben wird für den Hausbedarf. Es mag mancher malen lernen ohne eigentliches Talent; man kann Familienkreise erfreuen mit dem Grade von Können, wozu man es dann bringt. In der Musik ist der Dilettantismus natürlich am meisten zu Hause, und die Musik ist ja auch nicht nur da, um Kompositionen zu erfinden und ins Werk zu setzen, sondern auch, um geselligen Kreisen das gähnende Ungeheuer, die Zeit, zu töten und mit anziehenden, reizvollen Formen, dem Ohre vernehmbar, auszufüllen. So auch die Poesie. Es ist jetzt, nachdem unsere großen Dichter die Sprache so geknetet haben, nicht mehr schwer, Verse zu machen. Und wer hat nicht, wenigstens wenn er verguckt war, sich auch einmal darin versucht? Das Reimschmieden von solchen liebenswürdigen Menschen, die es eigentlich nicht weit bringen, soll ganz wohl gelten als Hauspoesie, um Freunde, Verwandte, Genossen bei Hochzeiten, Kindstaufen, Zweckessen zu erfreuen. Auch drucken lassen kann man dergleichen, aber ich möchte bitten: in nicht zu vielen Exemplaren und nicht gleich unglücklichen Professoren zuschicken!

Ganz anders liegt aber die Sache bei dem Dilettantismus, der meint, er sei Kunst, eigentliche Kunst. Lesen Sie darüber die Schrift von Goethe! Auch Schiller hat indirekt an ihr mit gearbeitet. Sie finden da alles beisammen, was Sie hierüber belehren kann. Ich will nur eines herausnehmen. In der Malerei erkennt man den Dilettanten daran, daß es in der Zeichnung hapert, denn das verlangt am meisten Schule; er hat unsicheres Formengefühl. Wenn Sie von großen Meistern, einem Leonardo, Raphael, Michelangelo auch nur einen Arm hingeworfen sehen auf einem Schnipsel Papier: was das Bestimmtheit in den Formen, Kraft, Energie hat!

In einem mühevollen Stufengang gelangt der Schüler, wenn es gut geht und wenn er das Zeug mit sich bringt, allmählich zur Meisterschaft. Aber das ist etwas Relatives. Ganz Meister wird niemand. Wir sind ja alle Studenten unser Leben lang; und wohl dem, der sich dessen bewußt bleibt! Der beste kommt niemals am höchsten Punkt an, wo die Meisterschaft mangellos da ist; irgend eine Unvollkommenheit bleibt immer zurück. Aber relativ muß es ja wahr sein: es gibt eine Meisterschaft, wir haben Männer, die wir Meister nennen dürfen: Phidias, Polyklet, Goethe, Schiller, Shakespeare. Ein Meister ist eben, wer die ganze Formengebung so machtvoll beherrscht, daß sie ihm keinen Widerstand mehr leisten kann, sein inneres Bild darin niederzulegen. Die Folge davon ist, daß man seinem Werke die Mühe nicht mehr ansieht. Da steht es nun wie ein Naturgebilde und doch ohne die Mängel des Naturschönen Vgl. oben S. 223.. Das ist das Kennzeichen der höchsten Werke aller Kunst. Darüber hat Kant mit seiner feinen, geistvollen Trockenheit (in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«) einen tief wahren Satz aufgestellt, der lautet: »Vor einem Kunstwerk muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei und nicht Natur, aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwang willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur wäre.« Als Dannecker zum erstenmal die Reste sah aus der besten Zeit griechischer Bildhauerei, die Skulpturen vom Parthenon, jenen sogenannten Theseus, jene zwei Göttinnen, deren eine im Schoße der anderen gelagert ist, jenen Ilissos, da rief er: »das sind ja Formen, wie über die Natur gegossen, und doch schafft die Natur nie solche Formen«.

Ein echtes Kunstgebilde hat den Charakter der Notwendigkeit, als könnte es nicht anderes sein. Die Natur hat keine Willkür, und willkürlos erscheint das wahre Meisterwerk. Losgelöst von dem, der es erschaffen, scheint es sein eigenes Herz zu haben, sein eigenes Leben zu führen Vgl. oben S. 132.. Der Künstler ist ein Schöpfer. Menschen zeugen, die nie gelebt haben und nun Leben gewinnen und wie atmende Geister fortbestehen, was ist das Großes, Wunderbares! Es hat solch einen Agamemnon, Oedipus, Wallenstein, Faust nie gegeben, und diese Gestalten leben nun in einer eigenen Welt, in unserer Geisterwelt, aber in festen Formen, wie wirkliche Menschen, die auf dem Boden wandeln. Sie stehen frei auf sich. Die Nabelschnur zwischen der Gestalt und ihrem Schöpfer ist abgeschnitten. Man braucht zu ihrem Verständnis keine Kommentare aus seinem Leben. Was haben wir viel davon, wenn wir wissen, daß Goethe bei der Eleonore an Charlotte v. Stein gedacht hat? Ein Kunstwerk erklärt sich selbst. Historische Notizen sind oft nötig und von Wert, aber sie sollen nicht nötig sein Vgl. oben S. 44.. In der Kunst nur ja keine Wegzeiger! Dunkle Allegorien, die eines Kommentars bedürfen, sind deswegen keine echten, wahren Kunstwerke.

Die Forderung, daß das Kunstwerk aussehen soll wie ein Naturwerk, will aber also nicht sagen, daß es täuschen soll wie ein solches. Das thut die Wachsfigur, wenigstens auf einen Augenblick Vgl. oben S. 249.. Die Kunst will und soll das durchaus nicht versuchen; sie will und soll ein verklärtes Bild der Welt geben, ein Bild, das keine gemeine Wahrheit hat, das wesentlich Schein ist. Der Schein ist ihre Losung; das muß uns immer bewußt bleiben und bedarf daher der Wiederholung Vgl. oben S. 50 ff., 158.. Nur durch den Schein kann sie dieses verklärte Bild der Dinge geben.

Nun hätten wir noch die Frage, ob eine wesentliche Eigenschaft des Meisters Korrektheit ist. Es wäre interessant, dabei zu verweilen, aber ich muß vorwärts gelangen und kann mich nur auf wenige Bemerkungen hierüber einlassen. Ein Werk, das bloß korrekt ist, bedeutet wenig oder nichts. Auf das äußerste korrekt sind auch die Meister nicht; sie opfern manchmal eine Richtigkeit einem höheren ästhetischen Motive; sie zeichnen, malen mitunter einen Fehler, etwas, das nach Naturgesetzen, Raumgesetzen so nicht sein kann, weil sie jetzt dieser Wirkung bedürfen. Man setzt z. B. an der sixtinischen Madonna aus, daß man nicht absehen könne, wohin der gebogene Arm des Kindes eigentlich kommt. Das hat aber Raphael ganz gut gewußt, er hat es eben so gebraucht. Das ist Künstlerfreiheit.

Und der Dichter? Seine Kunst verlangt zwar, wie schon zugegeben ist, am wenigsten eigentliche Schule, aber auch er bedarf der Technik, auch er ist an Regeln gebunden, die sich festgestellt haben. Seine Verse sollen recht sein. Und doch haben sich die größten Dichter manchmal starke Lizenzen erlaubt. In Goethes und Schillers Gedichten finden sich viele fehlerhafte Verse und falsche Reime. Wir dürfen heute nicht mehr so kühn vorgehen, uns nicht mehr so manche Freiheiten und Nachlässigkeiten im Reime und in der Füßezahl der Verse gestatten. In Schillers Dramen kann man eine ziemliche Aehrenlese von Sechsfüßlerjamben halten. Allein warum ist man darin nicht pedantisch, warum soll man es darin nicht sein? Deswegen, weil dieselben Dichter jedesmal in denselben Gedichten eben im Versmaß gezeigt haben, daß sie es ganz als Virtuosen los haben. Man darf nicht sagen: »es kommt auf einen Fuß nicht an,« aber demjenigen, der Meister ist, verzeihen wir es, wenn er ein anderes Mal Fehler begeht und Nachlässigkeiten. Nebenher pflegen diese großen Meister etwas flüchtig zu sein. Ein großer Philologe hielt einmal Goethe einen Heptameter vor, und Goethe antwortete: »laß die Bestie sitzen.« Das ist der Leichtsinn, den wir ihm gerne nachsehen.

Wer es durch Hebung dahin bringt, daß ihm die Bezwingung des Stoffes relativ sehr leicht wird, der gelangt zur Virtuosität. Das heißt eigentlich Tugendhaftigkeit. Aber virtus bedeutete anfangs nicht dasselbe wie jetzt unser Wort Tugend; und dieses hat den gleichen Ursinn wie virtus, es kommt von taugen. Virtuos heißt also eigentlich: schicklich, etwas zu machen. Wir sagen vom Meister, er habe Virtuosität, weil er mit vollendeter Sicherheit die Form, das Notensystem, die Sprache beherrscht. Schiller hat sich Virtuosität errungen und hat leicht gedichtet, so daß er gegen das Ende seines Lebens jedes Jahr ein Drama zu stande bringen konnte. Ohne Virtuosität wäre ihm das nicht möglich gewesen. Aber wir werden uns hüten, von ihm und irgend einem wahren Meister im persönlichen Sinne zu sagen: er ist ein Virtuos. Das Wort hat eine zweite Bedeutung gewonnen, es hat sich damit im Lauf der Geschichte ein gewisser Begriff verbunden, der auch etwas Bedenkliches hat. Da hört man gleich heraus ein »Nur«. Es ist ein Beigeschmack, der nicht leicht zu beschreiben ist. Wir brauchen das Wort in diesem Sinne, wo wir äußerste Fertigkeit in der Behandlung des Technischen rühmen wollen. Aber wie steht es dann mit dem tieferen Gehalte der Kunst? Der »Virtuos« ist nicht produktiv. Denken Sie an die vielgenannten Klavierspieler, Violinisten u. s. w. Besonders in der Musik hat sich das Virtuosentum ausgebildet. Aber ist denn der Virtuos bloß technischer Exekutor? Wie kann er alle Kunstmittel beherrschen, da die Technik in der Kunst doch seelenvolle Technik ist und nicht bloße Handwerkstechnik, wie kann er das, ohne selbst die produktive Seele zu haben? Ganz seelenlos, ganz unproduktiv kann auch der bloße Exekutor nicht sein, sonst wäre er ein schlechter Exekutor. Er muß sich in den Meister einfühlen, muß also reproduktive Seele haben. Es ist ein Anempfinden. Allerdings: mancher Virtuos pflegt auch selber zu komponieren, aber am liebsten so, daß es ihm Wasser auf die Mühle seiner Kunstfertigkeit bringt. Seine Stücke sind eigens dazu gemacht, das Fingergeschick zu bewähren, sind recht kühn, keck, recht nach dem Schweren, Verwickelten hingezielt, also ganz dienlich, zu zeigen: das kann man. Es gibt ja wohl auch wahrhaft bedeutende Virtuosen, die ihre Kunst im edlen Sinne ausüben, aber schon von langer Zeit her hat sich eine Masse von Figuren gebildet, welche die Technik auf diese Weise ins Aeußerste, Schwierigste, Extravaganteste hineindrängen, eine Art von Kunstreitern oder Akrobaten auf der Geige, auf dem Klavier. Man muß dabei an Rudolph Knie, den großen Seiltänzer, denken. Das gibt jene Kunst, die sich drückend an alle Nerven legt und ganz galvanische Wirkungen hat, daß man meint, man höre jetzt die Teufel heulen und dann wieder die Engel singen. Paganini vermochte seinem Instrumente wahrhaft infernalische Sprünge abzuzwingen, die Leistungen seines Fidelbogens schien der Wahnsinn zu führen, ohne daß dieser andere Akrobat oder Seiltänzer den Stand verlor.

Ganz prächtig hat das Moriz Busch karikiert in einem allbekannten Bilderbogen: »Der Klaviervirtuos und der Enthusiast.« Da muß man sehen, wie der Spieler behandelt ist, wie er sanft mit einem scherzando beginnt und dabei ganz fein die Zunge herausstreckt, wie er dann, in das forte übergehend, vier Hände und vier Beine bekommt und damit auf dem Klavier herumwütet, wie seine Haare wehen gleich einem rasenden Kometenschweif und sein Frack ebenso rasend hinausfliegt, wie im capriccioso seine Beine zu einer Schraube sich zusammendrehen, wie der Zuhörer vor Bewunderung bloß Auge und Ohr wird bei der fuga del diavolo, wo man meint, es krache die Welt aus ihren Fugen.

Auch in der Poesie gibt es etwas von solchem Virtuosentum. Der Improvisator namentlich hat die Reime so los, daß er jedes gegebene Thema sogleich, und oft ganz hübsch, in ein Gedicht zusammenbringt. Dabei darf man sich darauf verlassen: er hat immer eine ganze Masse von Versen fertig, die er so hineinzudrehen versteht, daß sie passen. Eigentlich aber, im Ernst wird man ihn anhören, um zu lachen.

So gab und gibt es ja auch Schnellmaler. Aber für reine Kunst halten wir das nicht.

Nun kommt es ja auch bei wirklichen Künstlern vor, daß ihre vollendete Meisterschaft etwas Bravourartiges, allzuwohl Geöltes annimmt, so daß man am Ende keine Initiative von Innen heraus mehr spürt. Das wird schon ziemlich fühlbar bei dem großen Tintoretto. Ganz voll tritt es dann heraus in den Werken von Luca Giordano und den Manieristen, den Meistern, die mit dem »Blitz des Pinsels« prahlen. Der »Chavirari«, ein jetzt nicht mehr existierendes Pariser Witzblatt, brachte einmal eine hübsche Karikatur von Horace Vernet, dem bekannten Schlachtenmaler, wie er zu Pferd an einer langen Reihe von Staffeleien malend vorbeigaloppiert. Es hieß damals in Paris, er habe fünf oder sechs Bilder nebeneinander vor und eile von einem zum anderen. Makart ist gewiß ein sehr bedeutendes Talent; er hat ohne Frage Ansätze zum höheren, würdigen Künstlertum, z. B. in seiner Katharina Cornaro, aber er ist doch zu mehr als zwei Dritteln nur Farbenvirtuos. Er erfindet und arrangiert alles nur auf seine glänzenden Farbeneffekte und vernachlässigt darüber einen wesentlichen Teil: die Zeichnung. Kein wahrer Künstler wird so haltungslos komponieren wie er. Man will doch auch sehen, wo die Figuren sich befinden. Das wissen Sie aber bei Makart meistens nicht. Was er malt, ist meist ein Fleischragout mit einem Gemengsel von Kleidern, Geräten, Teppichen, Vorhängen. Er ist mehr Dekorateur. Seine Kleopatra gehört allerdings zum Besseren, was er gemacht hat, aber man sieht nicht recht, wo die Leute eigentlich ihre Glieder haben. Die Farbe dieses Bildes ist höchst brillant, und Tausende beneiden einen solchen Virtuosen um sein Können. Aber auch sein Kolorit: halten Sie es für sich selbst neben das eines Giorgione, Tizian, Paolo Veronese, so werden Sie sehen, wie es doch abfällt dagegen, namentlich in der Karnation. Man wird auch sehen, wie schlecht die Farben dauern, die mit so vielen Lasuren zu stande gekommen sind, und wird dereinst meinem Urteil überhaupt recht geben.

Der Begriff Manier bringt Schwierigkeiten. Zunächst hat dieser Ausdruck eine ganz unschuldige, ganz indifferente Bedeutung, die mit Lob oder Tadel nicht zusammenhängt. Maniera heißt eigentlich Handbewegung und könnte füglich in demselben Sinne gebraucht werden wie Handschrift. Wir reden ja auch gern von der Handschrift eines Malers. Das Wort bezeichnet zunächst ganz einfach nur gewisse Arten der Handführung im Zusammenhang mit der jeweiligen Technik. Wir sprechen von Radiermanier, Holzschnittmanier, Freskomanier u. s. w. Das Wort bekommt aber im übrigen Gebrauch eine innere Bedeutung, eine wesentliche Beziehung auf das Innere der künstlerischen Individualität, und so genommen, kann es einen bedenklichen Sinn haben. Wann ist nun von zu viel Manier zu reden? Was meinen wir, wenn wir von einem Künstler sagen: er ist manieriert, Manierist?

Alle diese Begriffe, die wir jetzt besprechen, liegen im Gebiete der Technik, aber durch die Technik realisiert sich ja das innere Produzieren der Phantasie. Der erste Akt dieses Prozesses ist die Auffassung. Jeder Künstler hat seine Auffassung. Auffassen heißt den Gegenstand anpacken. Es ist der Moment, wo der Gegenstand aufhört, bloßer Gegenstand zu sein, wo der Künstler ihn sich aneignet und bildend unterwirft. In einem Kostümbuch mit historischen Uniformen können die Soldaten ohne weiteres Leben, also ohne Auffassung hingestellt sein. Haben sie aber einen gewissen nationalen Ausdruck, dann sagt man: das hat nun schon Auffassung. So wird herkömmlich das Wort Auffassung in der Künstlersprache gebraucht. Jeder Künstler hat seine Auffassung, so gewiß er ein Individuum ist. Ist er aber ein großes Individuum, ist sein Geist ein weit umfassender, so wird seine Auffassung wenig Subjektives haben; sein Subjekt wird verschwinden in der Großheit, die er in den Gegenstand legt, und er wird eine Welt verschiedener Stimmungen und Formen umfassen. Ein so wunderbares Dichterindividuum ist z. B. Shakespeare, daß er alle Stände, Lebensalter, Charaktere schildert, als wäre er sie alle gewesen. Man staunt und fragt sich, wie kann denn ein Mensch sich zur Gattung erweitern? So ungeheuer überspringt Shakespeare die gewöhnlichen Grenzen menschlichen Erkennens und künstlerischer Auffassung. – Nun aber das etwas engere Talent! Es wird mit seiner Auffassungsfähigkeit beschränkt sein auf gewisse Eindrücke und wird sich danach eine gewisse Art der technischen Behandlung, der Griffelführung im Zeichnen, der Sprache im Dichten angewöhnen. Vermöge der Grundstimmung seines Naturells ist z. B. einer disponiert, alles weich oder alles schroff, alles derb zu behandeln. Ein anderer will immer bewitzeln und ironisieren. Auch der Zeitgeschmack kann daran schuld haben. Wenn nun ein solcher Künstler nur Gegenstände vornimmt, zu welchen seine Individualität hinneigt, seine Verfahrungsweise, seine Art von künstlerischer Handschrift stimmt, so wird man nicht tadelnd von seiner Manier sprechen. Fordert der Gegenstand zur Sentimentalität oder zum Lachen heraus, so werden wir ohne Vorwurf sagen können: das ist sentimental, das ist humoristisch. Jean Paul z. B., der ist ja nach der einen Seite seines Wesens ganz der Sentimentale; das ist ja sein Grundzug und demgemäß liebt er gewisse Bilder und Ausdrücke. Er hat eine ganz besondere Gabe, uns weiche, träumerische Abendlandschaften zu zeichnen. »Die Schatten werden länger«, – »der Mond scheint«, – »das Rauschen in den Büschen,« solches bringt er immer wieder, weil es seiner sentimentalen Stimmung entspricht. Andererseits ist er auch Humorist und hat er seine bestimmte humoristische Manier, gleichfalls bis ins einzelne der sprachlichen Form hinein (wie da, wo er sentimental ist). In solcher Laune reißt er den Satz schnell ab, so daß man überrascht zurücksieht und den komischen Abfall auf das unmittelbarste empfindet. – Heines Humor, der freilich sehr negativ ist, hat auch seine Manier und wir wollen diese zunächst nicht ohne weiteres tadeln. Es muß erlaubt sein, das eine oder andere Mal die Stimmung eines Gedichtes plötzlich wie eine Saite abzureißen und nach etwas Großem plötzlich noch einen komischen Stoß aus der groben Wirklichkeit folgen zu lassen. Aber indem wir Jean Paul und Heine daraufhin betrachten, spüren wir bereits, daß wir übergehen zu der tadelnden Bedeutung des Wortes Manier. Ein Künstler, ein Dichter, dessen Fähigkeit sich in einem engeren Kreise bewegt, dessen eigentümliche Auffassungsweise sich bereits gewohnheitsweise in seiner Technik niedergelegt hat, vergißt leicht, daß er mit seiner besonderen Art sich auf die entsprechenden Stoffe beschränken sollte. Er überträgt nun diese angewohnte Art seiner Technik auf Gegenstände, welche ihr fremd sind, und verknöchert mehr und mehr in dieser Technik. Und nun spüren wir überall zu viel von seiner Subjektivität heraus. Statt uns einfach an die Sache halten und sehen zu können: so ist das Leben dieser Dinge, so ist das Wesen in dieser Region der Welt, müssen wir immer seine Persönlichkeit und ihren besonderen Beigeschmack auf uns wirken lassen. Nun sagen wir: er ist ein Manierist; und als Beispiel dienen uns da ganz vorzüglich die angeführten Dichter. Jean Paul und Heine sind ohne Zweifel Manieristen zu nennen. – Goethe, der die bekannte universale Weltweite hat, gewöhnt sich in seinen alten Tagen gewisse Sprachschnörkel an, namentlich unnatürliche Superlative, woran man sogleich spürt: das ist Greisentick; auch er wird leider Gottes manieriert.

Ein Maler empfindet sentimental und sieht deshalb die Farben nicht, wie sie sind, sondern wie sie seiner Stimmung entsprechen. Er liebt z. B. Blau oder Grün, Grau und bringt es hinein, wo es nicht hineingehört. Die Hand bewegt sich auf der Woge der Stimmung, am Steuer der Auffassung und wird allmählich stumpf, wenn die Stimmung, die Auffassung zur Gewohnheit wird und immer dieselben Bahnen fährt. Die Technik verhärtet sich in diesem stets wiederholten Dienst. Da sitzt einer und malt immer Linden und Kastanien, Weiden mit einem Blattwerk, dem man ansieht, daß es längst auswendig gelernt ist. Unter seiner Hand entsteht eigentlich jedesmal derselbe Baumschlag. Einem anderen hat ein gewisses Gesicht so gefallen, daß er es überall bringt. Kaulbach gerät von einer Größe, die ihm nicht fehlt, doch stark in die Manier hinein; er verfügt über kaum mehr als sechs bis sieben Charakterköpfe, und er bringt fast immer wieder dasselbe Mädchengesicht. Das ist manieriert. Retz hat etwa zwei bis drei Köpfe. Aber wir wollen weiter zurückblicken. Bei Luini erscheint das leise Lächeln der weich gelockten Mädchen- und Jünglingsköpfe Leonardos als ein stehender Zug der Mode, als eine Affektation, als eine Manier. An den Akademien in Bologna und Rom welche Welt von Manieriertheiten schon im 17. Jahrhundert! Damals kam dort auf die maniera forte die maniera dolce. Die von Caravaggio eingeführte maniera forte hat mit den Caracci anfangs auch Guido Reni geteilt. Sie erzielte starke Effekte mit sehr starken, schweren Schatten, scharfen Gegensätzen, herb unterschiedenen Formen, kolbiger und gesetzter Behandlung, und brachte am liebsten runzelige, magere Alte, bußfertige Anachoreten, heulende Eremiten mit wilden Haaren, zerfetztem Gewand in düsterer, zerrissener Landschaft. Man verwandte fürchterlich viel Kienruß. Da bekam man es zu dick und ging über zur maniera dolce. Ihr Eröffner und ihr Hauptmeister war Guido Reni. Als eine Perle ersten Rangs, als ein non plus ultra war um die Wende des vorigen und unseres Jahrhunderts allbewundert seine Himmelfahrt Marias in der Münchener Pinakothek. Diese ganze Zeit war ja noch sentimental. Jetzt aber wird der Kenner nur achselzuckend dabei verweilen, denn das ist süße Malerei mit lauter empfindsamem Aufschlag der Augen; da ist das Fleisch ganz ohne kernhafte Gesundheit, wie Schaum, wie Konditorenarbeit. Die Schatten sind grünlich, und deshalb sagte ein Italiener: Guido Reni malt mit grüner Seife. – In dieser Manier schwelgte auch besonders Carlo Dolce. Sehen Sie, wie sentimental er die Augenlider hinuntersenkt, wie er überall blasses Blau den Schatten gibt und den Lokalton vergißt! Das ist Manier.

Die maniera dolce malt fast lauter Bäume, deren Blätter wie die der Espe an langen Stielen flattern; der Baumschlag der maniera forte hat dagegen fast immer den Charakter der Steineiche.

Parmiggianino, der schlanke, gestreckte Bildung des Halses liebt und sie noch etwas übertreibt, so daß er darin oft ganz verzerrt wird, ist auch ein besonders belehrendes Beispiel für den Begriff Manier und zeigt, wie derselbe vom Statthaften zum Unstatthaften, zur Abweichung von der Natur und Wahrheit übergeht. –

Und nun der Begriff Stil! Er ist ein Proteus, der uns viel zu schaffen machen wird. Er hat verschiedene Bedeutungen, und man muß sie auseinanderhalten, wenn man nicht sehr konfus werden will. Das Wort kann zunächst ohne die Emphase gebraucht werden, womit man eine große Eigenschaft bezeichnet. Dann bedeutet es weiter nichts als Eigentümlichkeit, eigentümliches Gepräge, das auch charakterlos sein kann. Man versteht dann darunter nichts anderes als Manier, die Auffassungsweise eines Künstlers, wie sie sich in der Technik bekundet. So sagt man: das ist der Stil dieses Künstlers, und auch von der prosaischen Schreibweise: » le style c’est l’homme«. Eine Individualität drückt sich in ihrer Schreibweise aus. Aber ganz anders ist es, wenn wir sagen: »er hat Stil«; dann brauchen wir das Wort emphatisch.

Es ist wie im moralischen Gebiet mit dem Ausdruck Charakter. Einen Charakter hat jeder, und wäre es auch die Charakterlosigkeit. Man kann also das Wort Charakter ganz indifferent brauchen. So sagt man: der hat einen festen, der einen leichtfertigen, schlechten Charakter. Aber etwas anderes ist es, wenn man sagt: der hat Charakter. Dann ist das Wort nachdrücklich, als ein hohes Lob gemeint.

So verhält sich's nun mit dem Worte Stil. Der hat diesen, der hat jenen Stil. Aber wenn man von einem rühmt, daß er Stil hat, so meint man damit Großheit, Idealität der Auffassung, wie sie dem hochstehenden Künstler zur anderen Natur wird und unter strenger Befolgung der Kunstgesetze, die der Technik auferlegt sind, am Gegenstand die schlechthin hauptsächlichen Züge herausgreift. – Die Ausdrücke Stil und Manier können zwar auch promiscue gebraucht werden, aber, so gefaßt, stellen sie sich in vollen Gegensatz. Mit dem wuchtig gemeinten Worte Stil verbinden wir immer den Begriff der Mächtigkeit und des Centralen. Ein Künstler, der Stil hat, erfaßt den Gegenstand in seinem Mittelpunkt und legt in ihn die Gewaltigkeit, die in ihm selber lebt; er scheidet das Unwesentliche, Kleine, Zufällige aus und stellt die wesentlichen Züge in großen Bahnen und mit festen, markigen Zügen vor Augen. Seine Auffassung ist weit gespannt und fähig, vielerlei, Dinge von sehr verschiedener Art zu ergreifen. Die von ihm geschaffenen Werke haben nicht den Beigeschmack einer zufällig-individuellen Richtung. Wir vernehmen die Persönlichkeit eines Phidias, Sophokles, Michelangelo, Shakespeare, und sehr gewaltig, aber sie ist so groß, daß nichts in ihren Werken der inneren Natur des Gegenstandes widerspricht.

Also hier – im vollen Unterschied vom Manieristen – Großheit auf Seite des Künstlers und hervorgehoben das Wesentliche des Gegenstands. Nichts kommt ins Bild hinein von jenen kleinen Zügen, wie sie jedem mittelmäßigen Talent vorkommen.

In der Malerei nehmen wir z. B. Rottmann. Der hat vor allem den großen Sinn gehabt für die südliche Natur, für die herrlichen Profile ihrer Erdbildungen. Sehen Sie seinen Monte Pellegrino, mit welcher Linie der zum Meer heruntersteigt! Nun ist aber auch im schönsten Gebirg, in der herrlichsten Natur doch immer noch allerhand Kleines und Verworrenes, was das Auge in der Aufnahme dieser großen Bahnen stört. Und so hat Rottmann auch den unvergleichlichen Formenadel des Monte Pellegrino zu gutem Teile selbst geschaffen. Schon sein bloßer Blick muß so gearbeitet haben, daß das Unwesentliche gleich Hobelspänen wegflog. Es verschwand vor ihm. Er ging einmal mit einem Kollegen, eine Landschaft aufzunehmen, und im Zeichnen sagte dieser: »da kann ich aber fast gar nichts brauchen, wie es dasteht.« Rottmann dagegen erwiderte: »ich kann es so ganz gut brauchen.« Und als sie ihre Blätter verglichen, ergab sich, daß Rottmann weit mehr verändert hatte als der andere. Schon sehend hatte er unbewußt alles Kleinliche ausgeschieden. Und wie sein Schauen war sein Bilden. Sein Griffel hatte einen Zug, wie wenn ein höherer Geist darin wäre und ihm die unbegreifliche Sicherheit verliehe, das wegzulassen, was nicht hergehört. Diese durchschneidende Schärfe liegt im großen Stil.

Dann der Stil im Kunstgewerbe.

Bei einem stilvollen Gefäß wird die Profillinie immer dem entsprechen, was es an dieser Stelle zu leisten hat.

Wenn ich nur einige Modesachen da hätte, um Ihnen zunächst vor Augen zu führen, was das Gegenteil von Stil ist! Wir pflegen z. B. die Standuhr immer noch in dummer Nachahmung französischer Muster zu gestalten. Das Postament ist denn immer ein Gewirr von Verzierungen, für die es gar keinen Namen gibt. Sind es Muscheln, sind es Fasern, Bandfetzen? Am meisten sieht es so aus, als hätte man Kohlblätter, die an einem Wasserabguß herunterhängen, gerollt und vergoldet. Wie kam man auf dieses Chaos? Bei diesem Durcheinandergeschlinge läßt sich am besten anbringen recht wirksamer Unterschied von Mattgold und Glanzgold. Das reizt dann die Augen der Kinder, und so werden diese Uhren massenweise gekauft.

Und unsere Röcke und Hüte? Das richtige Grundmaß für die Tracht ist immer der Körper. Ein Gewand, das wie wahnsinnig von den Körperformen absteht, ist im allerhöchsten Grade stillos.

Bei dem Worte Stil denkt man aber namentlich gern an die Architektur, denn sie ist eine Kunst, die im strengsten Sinne Stil haben muß, die am wenigsten verschwommene, willkürliche Formen bilden darf. Sie muß die Hauptmassen voneinander abheben. Ein Bauwerk ist stillos, wenn die Proportionen dem Auge keinen Wohlklang bringen, sondern es verletzen, weil seine Flächen und Glieder sich nicht so weit dehnen wollen, als das Auge sie gedehnt sehen will, oder sich weiter dehnen, als das Auge erwartet. Wo Stil waltet, da ist Kraft in der Profilierung, Einfassung, Gliederung. Wo die Formen hierin schwach, matt, wirr, falsch, überreich sind, da fehlt eben der Stil. Stilvolle Architektur hat feste Knochen.

Und das können Sie von jeder wahren Kunst sagen. Das gilt auch von einem stilvollen Bild. Es ragt in sicherem Halt empor; die in ihm waltende Macht hat das Wesentliche in großen, entschiedenen Zügen für das Auge herausgehoben. Der Stil erhöht die Formen; er streckt sie, auch wenn dies nicht in buchstäblichem Sinne geschieht.

Friedrich Ludwig Schröder, der berühmte Schauspieler, war nicht groß. Ein Fremder, der ihn noch nie vor Augen bekommen, begibt sich, von seinem Ruf angelockt, nach Leipzig, sieht ihn in der Emilia Galotti als Odoardo, und bittet ihn nach dem Stücke sprechen zu dürfen. Die Garderobe öffnet sich. Voll Enthusiasmus will er auf ihn zufliegen, – doch, ihn erblickend, stutzt er und sagt: »Sie sind der Odoardo? Nein, der war ja ein Riese!« Diesen Eindruck, der bis zur Augentäuschung ging, hatte also sein mächtiges Spiel bewirkt. So kann, was innere Großheit hat, leicht auch dem sinnlichen Auge größer erscheinen. Die alte Antoinette Sophie Schröder, die auch klein war, schien sich als Medea ins Mächtige zu strecken.

Dies gilt namentlich von der Skulptur. Denken Sie an die Hauptwerke der größten Meister! Vor allem an Phidias! Was Dannecker gesprochen hat, als er Abgüsse nach den Götterfiguren in den Giebelfeldern des Parthenon sah, habe ich schon citiert Siehe oben S. 258.. Betrachten Sie sich einmal diese Gestalten! Diese Formen und diesen Faltenwurf! Alles Kleinliche ausgeschieden, daß das Große in seiner Mächtigkeit wirke, und dadurch die wahre Menschennatur (die, gemein genommen, keine wahre wäre), das herrliche Gebilde des menschlichen Körpers in seinen grundwesentlichen Zügen herausgestellt.

Wir wissen, daß es von Lysippos einen Tafelaufsatz gab, einen Herkules, der höchstens zwei Fuß hoch war. Wer ihn ansah und mit dem Auge darauf verweilte, der meinte, er steige und steige und wachse zu einem Riesen über die Decke hinaus. Das war der Zug in der Formengebung, die Leistung des hohen Stils.

Und welche Signatur eines gewaltigen Geistes in der Mosesstatue von Michelangelo!

Dann Stilgroßheit in der Poesie! Goethe schreibt das Idyll – Sie können auch sagen: Genrebild – »Hermann und Dorothea«. Der Schauplatz ist ein deutsches Städtchen; wir befinden uns bei einem Löwenwirt, Apotheker, Pfarrer. Und nun ist dieser bescheidene Stoff in eine Höhe gehoben, daß wir meinen, wir lesen ein großes homerisches Heldengedicht. Das hat Goethe zum Teil dadurch erreicht, daß er dem schlichten, kleinbürgerlichen Vordergrund einen großen historischen Hintergrund gab. Er machte aus vertriebenen Salzburgern eine durch die französische Revolution vertriebene Gemeinde. Das zieht nun wie ein ungeheueres Schicksal vorüber, und dadurch wird das Ganze auf einen höheren Sockel gehoben. Aber nicht nur dadurch, sondern auch dadurch, daß die denkbar einfachsten Mittel verwendet sind. Denn Einfachheit ist immer ein Zug dessen, was wir emphatisch Stil nennen. Hermann erzählt, wie er hinausging zu den wandernden Flüchtlingen, um ihnen Gaben zu bringen:

»Als ich nun meines Weges die neue Straße hinauffuhr,
Fiel mir ein Wagen ins Auge, von tüchtigen Bäumen gefüget,
Von zwei Ochsen gezogen, den größten und stärksten des Auslands;
Neben her aber ging, mit starken Schritten, ein Mädchen,
Lenkte mit langem Stabe die beiden gewaltigen Tiere,
Trieb sie an und hielt sie zurück, sie leitete klüglich.«

Sie haben ein antikes Relief vor sich. Bemerken Sie auch, wie die Zugtiere gezeichnet sind; man muß dabei an die großen Stiere Griechenlands und Italiens denken. Und das Mädchen weiter gar nicht beschrieben als durch den Zusatz: »mit starken Schritten«. Doch wir dürfen uns keinerlei unweiblich Starkes vorstellen, denn »sie leitete klüglich«. Sie wird wie eine Gestalt der antiken Kunst, sie wächst ins Große. Das ist alles so einfach. Diese sechs Verse wird dem Goethe keiner nachahmen. Vor allem würde jeder meinen, das sei nicht genug, da müssen noch allerlei Prädikate beigegeben werden.

Der Geistliche unterhält sich mit dem Schultheiß der wandernden Gemeinde:

»Sagt mir, Vater, Ihr seid gewiß der Richter von diesen
Flüchtigen Männern, der Ihr sogleich die Gemüter beruhigt?
Ja, Ihr erscheint mir heut als einer der ältesten Führer,
Die durch Wüsten und Irren vertriebene Völker geleitet,
Denk ich doch eben, ich rede mit Josua oder mit Moses.«

Ganz ungesucht wird so der schlichte Dorfschultheiß mit jenen uralt ehrwürdigen Gestalten verglichen und damit ins Monumentale emporgerückt. Dies ist Stil.

Eine andere Stelle habe ich früher zum Teil schon zitiert:

»Also gingen die zwei entgegen der sinkenden Sonne,
Die in Wolken sich tief, gewitterdrohend, verhüllte,
Aus dem Schleier, bald hier bald dort, mit glühenden Blicken
Strahlend über das Feld die ahnungsvolle Beleuchtung.
Möge das drohende Wetter, so sagte Hermann, nicht etwa
Schloßen uns bringen und heftigen Guß; denn schön ist die Ernte,
Und sie freuten sich beide des hohen wankenden Kornes,
Das die Durchschreitenden fast, die hohen Gestalten, erreichte.«

Zuerst, mehr malerisch, das herrliche Bild der Abendsonne. Nun das denkbar schlichteste Gespräch. Hermann ist um seine Aecker besorgt. Das stattliche Getreide hat schier das Maß der »hohen Gestalten«, und mit dem einfachen Prädikat »hohen« ist bewirkt, daß wir den Eindruck von durchaus großartigen Erscheinungen haben. Da waltet Stil.

Und so auch in jener Scene, wo das Mädchen ausgleitet und Hermann sie festhält, aber sich bändigt, daß er ja keine Liebkosung versucht. Es ist eine Scene, als wäre sie von einem Bildhauer so hingestellt.

Dann Wallensteins Lager. Das ist ein Lustspiel, ein Soldatengenrebild und doch mehr als das, weil es historische Größe hat. Da geht Wallenstein selbst wie ein Geist mitten durch die Soldaten hindurch. Und doch ist keine Figur irgendwie unwahr idealisiert. Alle sind grundnaiv in ihrer Roheit; und die Naivität macht sie oft komisch, so daß wir das Kriegerische dabei auch wieder vergessen. Aber eine Figur hat sich Schiller vorbehalten, sie aus dem Kreis der übrigen, die mehr dem Genre angehören, ins Heldenhafte aufzurichten. Es ist der erste Kürassier mit seinem eisernen Wams. Nur ein schlichter Reitersmann, aber Schiller leiht ihm ein höheres Gefühl mit den schönsten Worten, die er je gedichtet hat, so daß er hinaufwächst in die Sphäre der Tragödie. Ihn beseelt nicht nur das hebende Pathos der Ehre und der kriegerischen Freiheit, er wird tragisch, er fühlt das Los des Soldaten als ein düsteres Verhängnis. Auf Bürgerglück muß er verzichten; ihm bleibt nur die Ehre. Der ganze Mann hat etwas Getragenes, Großes im Sinne des hohen Stils, der, wo er wirkt, die Form, als Form, ins Erhabene führt.

Nun aber kommt ein anderer Zusammenhang noch besonders in Betracht. Denn Stil ist ideale Großheit der Auffassung in technischer Gewöhnung. Der ganze, echte, stilgroße Künstler bleibt als solcher frei von der Willkür, die Bestimmungen seiner Kunst zu überspringen. Wie er den Gegenstand in seinen Grundzügen erfaßt, so bearbeitet er ihn nach dem Wesen seiner Kunst. Jede Kunst hat ihre bestimmten Gesetze, die sich schon aus ihrem Material ergeben; sie kann diesem nichts abzwingen, was nicht in ihm liegt; und wer sich daran nicht hält, der wird stillos.

Am meisten Bestimmtheit, habe ich gesagt, verlangt die Architektur. Stilwidrig nun verfährt der Baukünstler, auch insofern, als er mit dem Stein glaubt spielen zu können wie mit einer weichen Materie. Er soll ein ruhiges, statisches Bild geben, Last und Stützkraft in ihrem Ausdruck wie in ihrer thatsächlichen Wirkung vollständig ausgleichen, so daß man darüber den Druck der Last vergißt.

Die Plastik hat noch etwas Verwandtes mit der Architektur und verlangt vor allem klare Form; sie kann nichts Dünnes, nichts Zerflossenes, nichts klein Zerschnittenes, nichts ordnungslos Gehäuftes leiden. Das ergibt sich schon aus dem festen Material, worauf diese Kunst ruht. Ein guter Meister wird dem Stein oder Erz nichts abnötigen, was ihm nicht entspricht.

Und so hat auch die Malerei in ihrer Technik und Darstellungsform ihre vorgeschriebenen Grundsätze und Grenzen. Sie gerät leicht in die Meinung, sie könne darstellen, was dem Dichter zukommt, und soll sich davor hüten.

Der Musiker ist gebunden an die Regeln der Harmonie, sowie an die typischen Charaktere der menschlichen Stimme und der Instrumentation.

Und der Dichter? Er soll nicht malen und nicht musizieren. Er soll aber auch die bestimmten Stilgesetze der großen drei Zweige seiner Kunst nicht willkürlich vermischen. –

Damit sind wir nun aber weiter gelangt. Wir gebrauchen das Wort Stil auch im unpersönlichen Sinne, wobei wir darunter die genannten Gesetze selbst, oder die aus den Bedingungen der gegebenen Kunst vorgeschriebene Art ihrer Behandlung verstehen. Diese Bedingungen sind nicht einfach materieller und äußerlich praktischer Art, ich bezeichne sie daher mit dem kombinierten Prädikate technisch-geistig; denn die Beschränkung, die dem Künstler das Material aufzwingt, wird bei ihm auch zu einer frei geistigen Auffassungsart. Doch dies erklärt sich ganz nur im Zusammenhang der einzelnen Künste.

Hier ist vorderhand nur festzustellen, daß wir im unpersönlichen Sinne reden von architektonischem, malerischem, plastischem, poetischem Stil. Das teilt sich dann wieder. Wir unterscheiden: lyrischen, epischen, dramatischen Stil, Opernstil, Kirchenstil, in der Malerei Genrestil, historischen, landschaftlichen Stil.

Wie interessant das ist, werden Sie jetzt sehen, wenn Sie in diesem Zusammenhang das Verbum Stilisieren erwägen. Was heißt das? Die Formen einer Kunst, die durch ihre ganzen Grundlagen und Bedingungen zu strengeren Formen angehalten ist, übertragen auf eine Kunst, die sich eigentlich eine losere Behandlung erlauben könnte. Es ist leicht, das klar zu machen. Zum Beispiel Blumen stilisieren heißt: auf Blumen in einer Malerei, Stickerei oder anderem die Gesetze der Architektur übertragen. Darüber ist man jetzt einig; seit man über das Kunstgewerbe gründlicher nachgedacht hat, werden unstilisierte Blumen auf Tapeten, Teppichen, Möbeln u. dergl. von allen Kennern verworfen. Natürliche Blumen erscheinen in frei spielenden Formen; ihre Stengel sind nicht streng symmetrisch gebildet; ihre Gruppen lassen sich nicht ohne Zwang unter ein streng geometrisches Gesetz bringen. Nun aber, wenn wir architektonische Flächen mit Blumen schmücken, Wände, Tapeten, Bodenteppiche, so hat dies die Folge, daß hier, auf diesen geometrisch bestimmten Flächen, der Charakter der Natürlichkeit zu vermeiden ist; die Gestalt der Blume erfährt hier eine Reduktion, sie muß sich geometrischen Symmetrien einfügen; sie wird mathematisiert. Das können Sie sich auch an stilisierten Tieren klar machen, z. B. am Wappen des Doppeladlers, dessen Flügel in geometrische Parallelen gebracht werden, oder an heraldischen Löwen, Hirschen. Solche Wappentiere unterscheiden sich beträchtlich von den natürlichen. Ihre Formen sind ganz anders; ihr Haar wird z. B. strenger gruppiert, als wir es haben wollten, wenn es gälte, Tiere für sich darzustellen. Der Schwanz des Löwen wird vollkommen regelrecht der S-form geschwungen; das ist an seinem Ort ganz recht; dazu hat die Kunst ihre Erlaubnis und ihren Boden.

Man kann aber auch am falschen Ort stilisieren. Ein Maler z. B. kann durch die Auffassungsweise der Zeit, in der er lebt, oder durch seine sonderliche Stilrichtung dahin gelangen, daß er die Faltengebung ins klassisch Edle hineinführt, auch wo er Gewänder zu geben hat, die nicht in so schönen Bahnen fallen und sich legen, wie das ungenähte antike Kostüm. Bei unseren genähten Kleidern machen sich die Falten nicht so frei, accompagnieren nicht so schwungvoll die Körperformen; da entstehen brüchigere Falten. Kommt nun ein Maler und stilisiert sie im Sinne der antiken Plastik, so mag sich das durch den Gegenstand und den Stilcharakter des übrigen rechtfertigen, aber meistens dünkt uns dabei, es sei hier zu formal schön gegen die Wahrheit vorgegangen, und hätten wir es lieber, wenn die Falten zwangloser, natürlicher dargestellt wären.

So verhält sich's auch in der Poesie. Ein Dichter kann die Art von Adel, wie er den Alten eigen war, in sein Werk hineinzulegen suchen. Das kann gut sein, ein andermal jedoch bedenklich. Schiller z. B. hat seine Jungfrau von Orleans mit so viel Schönheit ausgestattet, als er nur beibringen konnte; sie erscheint etwas überschmückt. Unter anderem kommt ihm der Gedanke: wie wär's, wenn ich ein Motiv aus Homer einführte, etwas in der Art jener furchtbaren Scene, wo Achill schonungslos den Jüngling Lykaon niederstößt? Und er hat sie nachgedichtet in der 7. Scene des zweiten Aktes. Hier ist die Jungfrau ins Antike hineinstilisiert. Prächtig, schön und edel. Aber das geht nicht in solchem Zusammenhang. Dieser ist mittelalterlich, mystisch, ein Heiligenbild und verlangt eine andere Art von Stil; der antike will da nicht hinein.

Unsere moderne Malerei. Seitdem wir das Eckige, Harte, Trockene unserer Alten überwunden und die Antike, sowie die italienische Renaissance studiert haben, wissen wir, wie eine schöne, edel bewegte Menschengestalt darzustellen ist. Nun zeichnet z. B. ein Maler einen gepanzerten Ritter zu Pferde mit einem Bein, wie es etwa ein eleganter Ballettänzer hat; seinen Ringelpanzer behandelt er wie ein Tricot. Jetzt nehmen Sie dagegen Albrecht Dürers Kupferstich: Ritter, Tod und Teufel. Sehen Sie einmal hin! Wie fürchterlich steif und eckig der Ritter zu Pferde sitzt! Aber er ist mir tausendmal lieber als der glatte, schöne Schuppenpanzerheld unserer klassizistischen Romantik. Die Muskeln bildeten sich nicht zu so schönen Wellen, und man bewegte sich nicht so griechisch, als man »den Eisen« trug. Da lobe ich mir die Naturtreue vor einer Schönmalerei, welche die Wahrheit verletzt und ganz trügerisch stilisiert.

Dies führt nun auf die zwei großen Gegensätze, die, immer von neuem sich spaltend und relativ wieder versöhnend, die ganze Geschichte der Kunst durchziehen. Ich meine den fundamentalen Hauptunterschied der idealistischen und der realistischen Stilrichtung Vgl. oben S. 27, 105 ff., 216, 217..

Ich habe dieses wichtige Thema seinerzeit nicht ausführlich genug behandeln können. Es gehört eigentlich in die Lehre von der Phantasie, denn der letzte Grund, warum dieser Gegensatz in der Kunstgeschichte immer wieder auftritt, der liegt im Unterschied der Begabungsqualität, das heißt der Auffassungsart. Dann kommen freilich historische Bedingungen dazu und bewirken, daß die eine Auffassung bei diesem, die andere bei jenem Volk zur Herrschaft gelangt. Die Begriffe Realismus und Naturalismus werden häufig verwechselt. Ueber diese Konfusion sollte man endlich hinauskommen. Naturalistisch heißen wir eine ins einzelne gehende Naturnachahmung an einer Stelle, wo sie nicht gefordert, nicht gut ist. Ein Porträtmaler kann z. B. den Pelz am Kleide der abzubildenden Person mit so peinlicher Genauigkeit vornehmen, daß er dadurch das Interesse des Betrachtens vom Antlitz abzieht. Und eben dies ist naturalistisch: hier jetzt so nah auf die Natur einzugehen, während man es hier jetzt nicht will und nicht braucht. Sehen Sie einen interessanten Menschenkopf, so haben Sie in diesem Augenblick nicht Zeit, auch eigens auf das Beiwerk zu merken. Der Pelz ist mir eingefallen über einem Wort des Malers M. Schwind. Der hat ja überhaupt so manchen guten Witz gemacht. Es war einst in München ein solches Bildnis ausgestellt. Der Kopf erschien nicht eben ausgezeichnet, aber der Pelz. Und Schwind sagte dazu: »ja, wenn ich ein Schab wär, würd' ich's mir schon gefallen lassen!«

Das Wort realistisch brauchen wir in einem Sinn, daß sein Gegensatz keineswegs ausgeschlossen ist. Realistisch verfahren heißt kühn, voll und stark hineingreifen in die Bestimmtheiten, welche jedes individuelle Gebilde hat, auch die Sitten und Kostüme der Menschen schildern, so wie sie nun einmal sind, und dabei ohne Scheu Mißformen, Dissonanzen aufnehmen, dennoch aber dafür sorgen, daß ein harmonischer Gesamtausdruck entsteht. Der Realist gibt also Schönes auf einem Umweg, aber er gibt es, und Shakespeare ist so gut ideal wie Sophokles, nur eben indirekt ideal.

Indirekt ideal nenne ich ein Kunstwerk, das uns durch Unschönheiten zuerst einen Stoß gibt, worauf wir dann aber, näher verweilend, finden, daß die Harmonie an anderen Stellen bis zum vollen Wohlgefallen hergestellt wird und uns hier vielleicht noch mehr befriedigt, als wo sie unbedingt erscheint.

Ich habe schon an Claude Lorrain und Jakob Ruisdael erinnert S. 27.. Der berühmte Lothringer malt Götterlandschaften, Gefilde einer Natur, wie sie glücklichen, zeitlosen Menschen entsprechen soll. In diese Luft, unter diesen Himmel, auf diesen Boden gehören nur höhere Wesen; da blüht ein seliges Leben. Betrachten Sie dagegen z. B. Jakob Ruisdaels »Judenkirchhof« in Dresden. Da haben Sie zunächst lauter Unerwünschtes und Unförmliches, knorrige, zerfetzte Bäume, aufgewühltes Erdreich, düstere, wildjagende Wolken. Dann aber kommt es, dann ruhen Sie aus in der Beleuchtung, in der Schönheit, die mit ihr aus dem Ganzen atmet. Und Sie erkennen: diese zusammenfassende, ausweichende, lösende Beleuchtung hätte diese Kraft nicht, wenn sie nicht zeigte: ich kann auch so harte, eckige Formen überziehen mit dem Zauber der Harmonie.

In den Niederlanden war die Kunst seit 1530 ganz in der Nachahmung der großen Cinquecentisten Italiens befangen. Dagegen opponiert nun Rubens, obgleich auch in seiner Kunst ein großes Maß von positivem Einfluß der Italiener waltet. Wie ein Gegenstoß stärkster Art erscheint sein bethlehemitischer Kindermord in München, wenn man es mit Raphaels Bild derselben Scene vergleicht. Bei diesem bleibt alles edel und in einem gewissen Sinne nobel maßvoll. Rubens dagegen erschöpft vollauf die furchtbare Wildheit dieses Vorgangs. Mancher mag da mit unmittelbarster Abwendung seines Gefühles sagen: das geht zu weit in das Häßliche hinein. Aber es ist eigentümlich hiemit: das Gefühl des Laien liebt sich die Bequemlichkeit und versagt gar leicht. Der wahre Kenner dagegen rühmt von diesem Gemälde mit Recht, es sei eines der größten Kunstwerke der Welt und zwar vor allem durch den darin entwickelten Gehalt von Kraft und Feuer. Der »Realist« muß namentlich diese Potenz einsetzen und deshalb roher, kräftiger zeichnen als der »Idealist«.

Noch schroffer, noch cynischer ist Rembrandts Opposition gegen die Idealisten, gegen ihr leer schönes, akademisch gewordenes Wesen. Man versteht seinen Ganymed in Dresden erst ganz, wenn man das Polemische darin mit in Anschlag bringt. Er dachte dabei: ich will euch zeigen, wie es da hergeht, wenn ein Hirtenknabe von einem Adler geraubt wird; der lächelt nicht so süß, wie Correggio es euch weismacht; der heult und pißt vor Angst.

Es ist das zauberhafte Halbdunkel, wodurch wir mit den oft sehr rohen Gestalten Rembrandts versöhnt werden. Manchmal macht er es zu dick mit seinen Realformen; er scheint eine subjektive Vorliebe für gewisse Häßlichkeiten, z. B. für fett faltige Weichteile zu haben. Aber wer würde deshalb einen Rembrandt verkennen? Er ist in seiner Art ebenso stilvoll wie Raphael in seiner anderen.

Und wer würde nicht vor seinen Werken erfahren, daß auch der sogenannte Realismus, von dem man es nicht wie vom Idealismus zu erwarten geneigt wäre, Stil im Sinne der Großheit hat, im emphatisch genommenen Sinne des Worts?

Und so verhält es sich auch in der Poesie. Zum Beispiel: Shakespeare und Sophokles sind nach ihrer Stilrichtung total verschieden, aber wer wird bezweifeln, daß Shakespeare stilgroß ist bei all seiner Lebensfülle und trotz gewissen Flecken, die wir nicht loben. Oder hat etwa sein Macbeth keinen Stil? Zum Beispiel in der Komposition? Verfolgen Sie die ganz klaren Tempi, die Stationen seines Aufsteigens zur Höhe und der Fallgeschwindigkeit seines Untergangs! Sehen Sie, wie bedeutend die Glieder dieses Schicksalgebäudes unterschieden und verbunden sind! Sehen Sie, mit welcher Gewalt die innere Natur des Bösen auch in seiner Selbstzerstörung gezeichnet ist, mit welcher Weglassung alles Zufälligen und Kleinlichen! Und so hat auch Hamlet und haben alle großen Tragödien Shakespeares Stil, obgleich er dabei auch dem Geschmacke seiner Zeit mit barocken Vergleichungen und falscher Art von Dialektik den Tribut zahlt.

Denken Sie auch an seinen Richard III. Wie wild und roh geht es da her! Wie schimpft man einander herum selbst in den königlichen Kreisen! Die Witwe Eduards droht Richard III. anzuspucken und spuckt auch wirklich. Nun kommt Grausen und Grausen, Mord und Mord. Und da sagt man: »nein, dies ist zu graß!« Ganz wohl, aber besinne dich, was du erkaufst dafür, daß du dieses Graße erträgst! Dafür erkaufst du ein Bild vom inneren Wesen des Bösen und von der Majestät der Weltordnung, die dieses Böse zermalmt, ein Bild, das wir nicht hätten, wenn du zu weich gewesen wärst, jene Greuel zu ertragen. Die großen Künstler bieten uns keine süßen Liköre. Da heißt es, tüchtige Nerven haben.

Ganz anders erscheinen uns wohl die Griechen. So Graßes geschieht bei Sophokles und Aeschylos nicht, obwohl sie genug des Furchtbaren bringen. Einen Mord z. B. lassen sie nicht auf der Bühne geschehen. Wir hören wohl im Agamemnon und Orestes das schaurige Stöhnen der Ermordeten von weitem, aber im Vordergrund herrscht reine, volle Harmonie.

Ein Realist dagegen wie Shakespeare wagt Dissonanzen und löst sie. Und wer die Lösung nicht findet, der klagt über Dissonanzen. Er erkennt nicht, daß die Idealwirkung auf einem Umwege doch gewonnen wird.

Die Kunstlehre hat diesen Gegensatz noch weiter zu verfolgen. Hier muß das Gesagte genügen. Es handelt sich noch um etwas anderes. Wir gebrauchen ja das Wort Stil auch in historischem Sinn; und es ist sehr nötig, dies zu fixieren. Man muß die verschiedenen Bedeutungen dieses poetischen Begriffs überhaupt wohl auseinander halten, und dann wiederum zusehen, wie sie sich verbinden.

Ein guter Meister wirkt mit dem ihm eigenen Zuge der Auffassung und Behandlung in einer Stadt und beherrscht schließlich ihre gesamte Kunst.

Ein anderer hat andernorts denselben Erfolg, und so bilden sich Lokalschulen: die athenische, argivische, florentinische, venezianische, nürnbergische, augsburgische Schule.

Die Gesellen der Meister wandern aber auch hinaus und tragen ihren Einfluß weiter über ganze Provinzen hin. Und so entstand die dorische und die ionische, die toskanische, venezianische und die fränkische, schwäbische Schule.

Eine Kunstweise verbreitet sich endlich über eine ganze Nation, so daß man sagen kann, den Werken ihrer Maler, Bildhauer, Dichter sei ein besonderer Stempel gemeinsam, der sich bei anderen Völkern nicht findet. Daher spricht man von ägyptischer, griechischer, italienischer, deutscher Kunst oder Schule.

Aber das geht endlich noch weiter. Alle kunstausübenden Kulturvölker haben in bestimmten Zeitaltern ihre bestimmten Stimmungen, die namentlich mit ihrer Religion zusammenhängen, daher auch ihre bestimmten Neigungen zu gewissen Formcharakteren; und so nennen wir Stil auch das einer ganzen Epoche eigene Kunstgepräge. Der Begriff breitet sich aus auf die Gesamtheit einer Periode; daher die Bezeichnungen: orientalischer, klassischer, mittelalterlicher, romantischer, moderner Stil. Die Weltalter der Phantasie sind zugleich Weltalter der Kunst und des Kunststils. Auch die Phantasie hat ja ihre Geschichte, und wir haben schon gesehen: sie schwebt nicht in der Luft, sie wurzelt im umgebenden historischen Boden, in den Zuständen der Gesellschaft, saugt daraus ihren Saft, bekommt dadurch ihre bestimmte Färbung und bewirkt so in der Kunst eine besondere Art des Formgefühls Vgl. oben S. 11, 217, 218..

Aber weil jede dieser Schulen, jede dieser allgemeinen Kunstepochen ihren besonderen Grundzug hat, reden wir von ihrem Stil; und Stil bedeutet hier das Gepräge der Formgebung einer Schule oder einer ganzen Periode. Damit ändert das Wort wieder seine Bedeutung. So eben verstanden wir unter Stil noch etwas Großartiges, Wuchtiges, Charaktervolles, und es scheint, daß wir von diesem emphatischen Sinne des Wortes nun wieder ganz abstrahieren müssen. Allein es ist zu beachten: Was historisch herrscht, hat immer ein gewisses Kaliber. Was die Kraft hat, sich zu verbreiten, liegt immer oberhalb der Willkür des einzelnen. Und selbst eine verkehrte Kunstweise, wenn sie wahrhaft gültig geworden, bekommt etwas Wuchtigeres, eben weil sie historisch begründet ist. Es darf Sie daher nicht verwirren, wenn wir sogar dasjenige Stil nennen, was wir sonst, wo wir von historischen Bedingungen absehen, im Gegenteil bloß Manier und zwar äußerste Manieriertheit nennen. Wir denken dabei: dieses ist historisch so gekommen, man darf es am Ende keinem einzelnen als Schuld aufbürden. Und sofern auch das Falsche eine historische Macht hat, kann man es immerhin Stil nennen.

Zum Beispiel die altdeutschen Meister mit ihrer hageren, eckigen Weise, sie haben doch Stil, denn was unschön daran ist, begreifen wir historisch, und die innere Größe, die in dem tief ernsten, keuschen Ausdruck ihrer Werke liegt, verdient den Namen Stil. Albrecht Dürer können wir so ganz wohl stilvoll nennen.

Dann nehmen Sie die bauschige Wildheit des 17. und das Getändel des 18. Jahrhunderts! Auch die ausschweifendsten Gebilde dieser Periode können wir nicht kurzweg als Verirrungen subjektiver Willkür verwerfen; wir fühlen: sie folgen einem starken historischen Zuge, und sie gewinnen so eine gewisse Wucht für uns. Der Strom der Kulturgeschichte hat immer eine gewisse Kraft der Nötigung. Daher sagen wir, wenn wir es so nehmen, nicht Manier, sondern Stil.

Bernini verhöhnte die Gesetze der Skulptur. Seine unruhigen, zerflatterten Formen, nach dem beurteilt, was der wahre Geist der Bildhauerkunst vorschreibt, erscheinen so stillos als möglich. Denken Sie aber, daß und wie das geschichtlich wurde, so gebrauchen Sie dafür doch das Wort Stil.

Die barocke Baukunst hat angefangen, mit den Steinen zu spielen und sie tanzen zu machen, aber wie gesagt: Genie ist doch dabei, kühner Wurf Vgl. oben S. 124, 218.; und jene Zeit wollte es einmal so. Was historisch gekommen ist, das darf man am Ende keinem einzelnen aufbürden; und sofern auch die Verirrung eine historische Macht hat, kann man ihr Wesen immer Stil nennen. Wenn man aber von den historischen Bedingungen absieht, so ist es nicht Stil, sondern Manier.

Es gibt Entwickelungsstadien in allen Kunstepochen. In der besonders normal sich auslebenden griechischen Kunst hat sie Winckelmann nachgewiesen.

Nirgends hat die Kunst mit der Dichtung eine so klar organische Entwickelung durchgemacht wie im alten Hellas. Bei allen späteren Völkern erscheinen die Wege des Fortschrittes viel verwickelter, weil sie viel mehr in Kontakt miteinander stehen, weil jedes sich abfinden muß mit dem vom Altertum Gelernten und zugleich mit neuen Einflüssen von außen her.

»Die Natur der Antike ist Einfalt, hohe Stille,« dies ist ein Wort Winckelmanns. Er hat tief in ihr Wesen geblickt. Und er hat uns in ihre Geschichte eingeführt, hat uns gezeigt, wie sie vom strengen Stil zum hohen, vom hohen zum anmutigen und rührenden, zum prachtvollen und luxuriösen, zum profan Realistischen weiter gegangen und schließlich versunken ist.

In ihrem ersten Entwickelungsstadium erscheint die griechische Kunst noch schwer, hart, gebunden und, wo sie ein Bild gibt, zugleich streng sachlich. Da erbaut sie die ungeheuer massigen Tempel altdorischer Art. Da haben ihre Gestalten noch etwas regelhaft Formuliertes; die freie Leichtigkeit der Bewegung gelingt ihr noch nicht. An der Grenze dieser Periode stehen die Skulpturen der beiden Giebelfeldern des Tempels auf Aegina. Wohl uns, daß wir diesen Schatz in einer deutschen Stadt, in München haben! Er gehört zum Schönsten, was es aus dem Altertum gibt. Betrachten Sie nun diese Figuren, von denen leider nicht alle erhalten sind, so unterscheiden sich freilich wiederum zwei Stile. Athene, die Griechen schützend, ist noch eine Arbeit des ganz strengen, gebundenen, namentlich religiös gebundenen Stils und wahrscheinlich Nachahmung einer älteren Athenestatue (die vorher an derselben Stelle gestanden haben mag). Ihre Haltung starr. Die Falten ihres Gewandes liegen wie gebügelt nebeneinander. Und dann ihr Gesicht. Es ist ganz typisch und ohne Miene. Aber an den trojanischen und griechischen Helden werden Sie schon die naturwahre Grazie der Glieder bewundern, die Knospe der Blüte, die dann später zur Entfaltung kommt. Man muß sagen: in der Glyptothek zu München, da kann man vor einem einzigen Bein eines solchen Griechen mit einer wahren Kunstandacht stehen; so merkwürdig gefühlt und frei sind schon die Formen behandelt. Die Köpfe dagegen sehen einander durchweg noch gleich, haben noch alle dasselbe allgemeine, maskenhafte Gepräge. Die mittelalterliche Kunst hat viel früher gewußt, wie man von einem Menschenkopf eine lebensvolle Vorstellung gibt, aber die Beine ganz lange sehr dürftig gebildet. Fra Giovanni da Fiesole – wie seelenvoll sind seine Gesichter, und wie dürftig seine Gestalten!

Auf den strengen folgt, wie Winckelmann zeigt, der hohe Stil. Das ist nun der des Phidias. Den kennen wir ja, seit die herrlichen Figuren vom Parthenon gefunden sind. Die Kunst ist frei geworden; sie hat ihre Mittel in der Hand, beherrscht ihr Material und versenkt sich voll in ihren erhabenen Gegenstand: das Götter- und Heldenideal. Sie verherrlicht auch weibliche Anmut, aber »die hohe Grazie, eine Gespielin der Götter« (Winckelmann) steigt nicht herab zum gefälligen Liebreiz. So gesinnt war Phidias und Polyklet, von dessen erhabener Hera in Argos man in einer Marmorbüste des Museums von Neapel ein Nachbild sieht. In der Poesie ist ihr ähnlicher Zeitgenosse Aeschylos, der große, gewaltige, im höchsten Grad majestätisch stilvolle Tragöde. Es ist zugleich die Zeit der zu edlerem Maß gereiften dorischen Architektonik.

Dann folgt, drittens, der anmutige Stil, der sich bei aller Großheit doch schon zu mehr Milde, menschlich faßbarer Lieblichkeit wendet. Die Bildner verlegen sich nun besonders auf das Aphroditenideal. So entsteht die Venus von Knidos, von der uns Nachbildungen eine ungefähre Vorstellung geben. Sie ist als aus dem Bade steigend aufgefaßt. – Zudem geht es tiefer hinein in den Ausdruck des subjektiven Lebens und seiner Erschütterungen; und wie die Skulptur sich nun auf das Dramatische wirst, zeigen die Niobiden. Es ist die Zeit von Skopas und Praxiteles. Auch die schwärmende Lust, die ekstatische Raserei, wird geschildert und selbst das Komische, soweit es der Plastik möglich ist. Man liebt den dionysischen Mythenkreis, die Faunen und Satyre, das wilde, ausgelassene Gefolge des Bacchus. So manche wunderbar schöne Statue, namentlich der kapitolinische Faun, zeugt (wenn auch leider nicht mit originalem Stempel) von diesem Zuge.

In der Architektur herrscht der ionische Stil mit seinen weicheren Formen. Und die Dichter dieser Stilperiode sind Sophokles, Euripides, Aristophanes. Sophokles nicht mehr so steil und rauh wie Aeschylos, schon zu stillerer Schönheit hingewendet, aber doch noch wahrhaft groß. Euripides schon nicht mehr im Mittelpunkt der hohen griechischen Welt, doch genial. Er zweifelt an der Wahrheit der Göttersage – ein höchst bezeichnender Zug für das erwachende subjektive Leben. Dann Aristophanes, dieser wilde, dieser »ungezogene Liebling der Grazien« (wie Goethe ihn nennt), der das sinkende Athen so unbarmherzig verspottet, unter dessen Spott aber die tiefe Sehnsucht nach der einfachen Sitte des alten Griechenlandes, das Heimweh nach der Zeit der Marathonkämpfer durchblickt.

Das wäre, äußerst mangelhaft angedeutet, die dritte Epoche. Und diese geht nun in leisen Uebergängen fort zu einer wachsenden Auflösung des strengen Adels antiker Kunst. Dabei ist aber sehr zu beachten, wie ihre Kunst gegenüber den späteren Wandlungen immer noch großartig erscheint. Sie wirft sich nunmehr auf das Individuelle ein, nimmt mehr Stoff aus der Wirklichkeit auf. Das ist an sich gut und wäre als Uebergang zu einem neuen Stil zu würdigen, aber an diesem neuen stirbt der alte, herrschende. Das echte, antike Griechenland wird dadurch erschüttert und in seinem Wesen aufgelöst, daß es Alexander der Große erobert. Wohl schafft Lysippos noch Herrliches. Aber es tritt nun sacht etwas heraus, was wir fast noch zu stark bezeichnen, wenn wir sagen: etwas wie ein theatralischer Zug, ein Zeigen der Kunst, ein Zeigen des Könnens. Eine leise Spur davon liegt auch im Laokoon, aber man muß es sehr schonend ausdrücken.

Dann geht es hinein in immer üppigere Pracht. Schon in der dritten Periode war zum ionischen das korinthische Kapitäl gekommen, das die prunkliebenden Römer als das reichste vorziehen. Zur Freude an Pomp und Schwulst gesellt sich die Neigung zum Kolossalen. Dabei wird die Naturnachahmung immer mehr zum Gewöhnlichen gelenkt, immer mehr ins Feine und Kleine getrieben. Aber wie lange die griechische Kunst geblüht hat und zwar noch in Perioden, wo es schon abwärts ging, das zeigen die Schulen von Rhodus und Pergamon. Von der pergamenischen haben wir den sterbenden Fechter. Das ist ein Gallier. Und gleichfalls dem Sieg der Gallier, die auch Delphi bedrohten, gilt der Apoll von Belvedere. Er hat nicht den Bogen in der Hand gehalten, sondern die Aegis, in deren Anblick (wie die Sage erzählt) die Feinde versteinerten vor Entsetzen. – –

Es wäre dann alles noch weit mehr zu entwickeln. Namentlich verzichte ich ungern, die Parallelen in der neueren Kunstgeschichte zu zeigen.


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