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§ 3.

Aber auch das geistige Interesse ist im bestimmten Sinne, d. h. als ein im Sinne des Zwecks auf den Gegenstand gespanntes, ausgeschlossen, sei es praktisch oder theoretisch. Es herrscht ruhiges Belassen und Betrachten, d. h. reine Anschauung. Nur so erklärt es sich, daß das Schöne allgemein wohlgefällt.

 

Diese Sätze sind für die gewöhnliche Vorstellung etwas paradox, weil man unter geistigem Interesse höheres Interesse zu verstehen pflegt. Wir unterscheiden aber zweierlei geistiges Interesse: praktisches und theoretisches; im praktischen das auf den äußeren Nutzen gerichtete, das politische, das moralische, das religiöse Interesse. Das theoretische geht rein auf die Wahrheit, sucht Belehrung.

Das Schöne aber will nicht nützen, ist zwecklos, rein um seiner selbst willen da. Es soll nur erfreuen, erheben. Wer z. B. in Wald und Feld nur fragt, ob der Boden fruchtbar ist, wie die Saaten stehen u. dergl., achtet nicht auf die Schönheit der Landschaft. Deshalb können Bauern eigentlich nicht spazieren gehen. Sie inspizieren den Ackerstand, sehen nach dem Wetter, überzeugen sich von den Fortschritten eines Neubaues, aber zwecklos betrachten können sie nicht gut. Dabei braucht nicht einmal ein egoistischer Standpunkt eingenommen zu werden. Denken Sie sich einen Mann, der gar nicht auf Eigennutz bedacht ist, sondern auf das Gemeinwohl. Wenn er eine Landschaft nur darauf ansieht, ob man da säen und ernten kann, zu welcher Art der Bebauung sich der Boden eignet, so ist sein Verhalten in diesem Moment nicht ästhetisch. Warum ist ein Regenschirm etwas absolut Prosaisches? Weil er nur Möbel zu einem Zweck ist. Denken Sie sich eine plastische Idealgestalt mit einem Regenschirm! Oder eine Tragödie, worin der Held mit einem Regenschirm auftritt! Der Schild an einer Kappe ist prosaisch, weil man ihm den Zweck sofort ansieht.

Das Schöne kann sich aber allerdings mit dem Zweckmäßigen verbinden. Das Kunsthandwerk z. B. gibt dem Gegenstand, der nur dienen soll, den edlen Anflug der Freiheit. Was nur dem Zweck dient, ist nicht außerhalb alles Schönen, sofern ihn die Kunst adelt. Sie knüpft an die Nutzdinge ihre Formen. Diese aber sind überflüssig, nur um der Schönheit willen da. So wird das Prosaische veredelt durch die Idealität des Zwecklosen. Erinnern Sie sich z. B. des Hahnen am alten Feuerschloßgewehr. Man gab ihm die Form eines Drachen, weil er Feuer speit, oder, weil er schnappt, die Form eines Fisches. Die Griechen gaben Tischen, die bei festlichen Gelagen dienten, Pantherfüße. Das ideale Leben ist um seiner selbst willen da. Die im Geschäftsleben berechtigte Frage: wozu? hört auf im höheren Gebiete. Wer fragt, was man mit den Dingen anfangen soll, steht nicht auf ästhetischem Standpunkt.

Wie verhält es sich nun aber mit den höheren Zwecken, den bedeutenderen Interessen? Sollen auch sie vom Schönen ausgeschlossen sein?

Interesse heißt: auf einen Zweck gespannte Stimmung. Aber in der ästhetischen Stimmung lassen wir die Welt stehen, wie sie ist. Da wollen wir sie nicht verändern; da wollen wir keinen Einfluß auf sie nehmen. Mit allen ihren Mängeln erregt sie unser Wohlgefallen. Also ist auch das politische Interesse ausgeschlossen und, so paradox es klingt, auch das moralische. Der spezifisch moralisch Gestimmte steht auf dem Standpunkt des Sollens und der Bedenklichkeit gegenüber den freien Regungen der Natur; er verwechselt deshalb vor dem Kunstwerk leicht objektiv und subjektiv. Der ästhetisch Anschauende läßt den Künstler ganz ruhig machen. Zu den Worten des Holkischen Jägers in Wallensteins Lager sagt das moralische Interesse: »das sollte aber nicht sein«. Ja freilich nicht, aber das Wilde hat seinen ästhetischen Reiz.

Wenn ein Dichter von einer, nach seiner Ueberzeugung, ganz edlen Leidenschaft ergriffen ist und sie poetisch gestalten will, so muß er seinem Werk einen allgemein ansprechenden Charakter geben. Ist es aus ganz befangener Parteitendenz erwachsen, so wird es gewiß nicht in die freie Schönheit emporreichen. Ganz wohl darf ein feuriges Gemüt, das charaktervoll auf einem bestimmten Standpunkt steht, von diesem aus künstlerische Gebilde schaffen. Jedoch dann verlangen wir, daß es die nötige Freiheit finde, um den Gegenstand ins rein Menschliche zu erheben und so auch einen zu rühren, der zu den Gegnern gehört, aber seinen Sinn nicht parteiisch verengt hat. Das führt uns auf den Satz von Freiligrath:

»Der Dichter steht auf einer höheren Warte
Als auf der Zinne der Partei.«

Freiligrath hat ihn durch seine weitere Poesie wieder zurückgenommen; und es ist wohl auch wahr, daß der Dichter zum feurigen Herold derjenigen Idee werden darf, die seine Partei vertritt, aber unter der genannten Voraussetzung.

Ich weiß nicht, ob Sie die vorzüglichen Kompositionen von Rethel kennen, dem leider so früh verstorbenen großen Talente. Es sind Zeichnungen im markigen Stil der Holzschnitte Albrecht Dürers. Darin sind geschildert die Zustände im Frühling 1848, als die demokratische Partei das Volk aufwühlte und zu jenen Putschen aufhetzte, wodurch die Freiheitsidee wesentlich verderbt und ihre Sache geschädigt wurde.

Wir sehen das Totengerippe in Heckeruniform der friedlichen Stadt zureiten, Volksscenen, den Barrikadenkampf, die furchtbare Arbeit der Kartätschen und endlich den Triumph des Verführers. Sein gespenstisches Roß trägt ihn über die Barrikade weg und leckt das Blut der Erschlagenen. Das alles ist ganz außerordentlich genial behandelt.

Wenn nun ein Demokrat vom reinsten Wasser sagte: »das sind reaktionäre Bilder, die mag ich nicht allsehen«, so würden wir das eben borniert nennen. In diesem Cyklus Rethels ist jedenfalls eine Wahrheit, die auch der Parteimann zugeben muß (und ein vernünftiger Demokrat sieht ein, daß man es damals dumm gemacht hat).

Mit einem Wort: auf beiden Seiten, auf der des Zuschauers wie auch der des Künstlers, muß eine freie Stelle für die Kunst sein.

Und nun müssen wir uns das moralische Interesse noch etwas näher betrachten. Das Leben schränkt die Sinnlichkeit ein und erlaubt ihre Entfaltung nur in bestimmten Grenzen. Hieraus folgt zwar noch nicht, daß die Sinnlichkeit an und für sich schlecht sei, denn sie liegt in der Natur; und die Natur ist unschuldig. Allein der sittliche Standpunkt als solcher muß notwendig gegen die Sinnlichkeit etwas besorgt machen. Im Schönen dagegen waltet solche Aengstlichkeit nicht. Es mag einer sagen: das Schöne möchte Begierden wecken, die in das Gebiet des Guten störend einbrechen. Aber warum soll man auch voraussetzen, der Zuschauer sei unrein? Wir werden einem solchen einfachen Moralbiedermann seine Meinung nicht verargen, doch wir werden sagen: du bist nicht dazu da, um das Schöne zu beurteilen.

Leidenschaft ist ein Hauptthema in allem, was Kunst heißt. Wer sich auf den moralischen Standpunkt stellt und immer denkt, das sollte sein, und, das sollte nicht sein, wird sich nun auch dazu durchaus befangen stellen. Ein Dichter muß eine Leidenschaft sich entfalten lassen, und führte sie zum Bösen; er muß sie sagen lassen, was sie sagen kann; er muß ihr eine dämonische Genialität geben, und wir werden uns an ihr ästhetisch erfreuen. Wenn nun diese Leidenschaft übler, zerstörender Art ist, so wäre er in einem vollständigen Widerspruch mit der Wahrheit, wenn er sie am Schluß als im Recht zeigen würde. Er wird vielmehr zeigen, daß solche Leidenschaft Selbstzerstörung ist. Aber der moralisch Aengstliche wird den Schluß nicht abwarten können und wird schon vorher sagen: das sollte nicht sein.

Wie werden denn gewöhnlich Romane gelesen, wie Dramen aufgefaßt von der Mehrheit des Publikums? Man wendet seine Liebe jugendlich idealen Gestalten zu, die da auftreten, auch braven Ehemännern. Wo aber ein mehr verwickelter, eigentümlich bedingter, seltsam gemischter Charakter mitspielt, da pflegt man zu sagen: »jetzt aber den mag ich nicht!« Man pflückt einen Teil des Inhalts heraus und fragt nicht danach, ob der Dichter das Andere gebraucht hat.

Nehmen Sie ferner die Kontroverse über Goethe und Schiller, wie sie geführt zu werden pflegt von allen denen, die das feinere Kunstgefühl nicht haben, so werden Sie finden, daß der Fürsprecher Schillers kontra Goethe auf lauter moralische Eigenschaften des ersteren sich beruft. Man meint, man habe Schiller als den größeren Dichter beurteilt, wenn man nachgewiesen hat, daß ihn die Begeisterung für die Idealität der Menschheit beseelt, daß er ein sittlich gehobener Charakter gewesen. Angenommen, daß er dies mehr war wie Goethe, so war er deshalb nicht der größere Dichter. Da hätten wir, ich hoffe, viele große Dichter. Will man Goethe und Schiller als Dichter richtig vergleichen, so muß man sie nicht einfach nach ihrem Menschenwert, sondern nach ihrem Dichterwert beurteilen. Die Frage wird doch die sein: Wie hat jeder von beiden seine Art von Weltanschauung vergegenwärtigt? Wie hat er vermocht, sein Ideal in das Bild der Vielfältigkeit des Lebens auseinanderzulegen und so vor die innere Anschauung zu führen, daß wir genötigt sind, zu sehen, wie er sieht. Wie viel Genie ist auf der einen, wie viel auf der anderen Seite?

Wenn ich hier einen Augenblick darauf eintreten darf, so lassen Sie mich sagen: Die zwei Dichter sind deswegen schwer zu vergleichen, weil Schiller seinen spezifischen Dichterwert auf einer anderen Seite hat als Goethe. Im Drama hat Schiller mehr Gewalt. In Charakteristik, Ausdruck von Stimmungen, im Lyrischen steht er weit hinter Goethe zurück; und all sein hohes Denken und Suchen nach dem Idealen macht noch gar nicht den Dichter. Es kommt immer auf das Wie an. Zum Beispiele: Leichtsinnsgedichte hat Goethe so nette, so heitere Trinklieder wie: »Mich ergreift, ich weiß nicht wie, himmlisches Behagen«, und vanitas vanitatum vanitas »Ich hab mein Sach auf nichts gestellt«. Ja, dem Dichter darf es ganz wohl einfallen, einmal die Stimmungen des leichten Sinnes recht lustig für sich zu behandeln. Und dies ist ja übrigens noch nicht der ganze Dichter, dazu gehört noch viel anderes, was er gedichtet hat.

Moral und Aesthetik ist also gründlich zweierlei. Hieraus folgt freilich nicht, daß das Schöne unsittlich sein darf. Wo dies der Fall ist, straft es sich immer auch dadurch, daß die Form darunter leidet. Doch dies wird uns erst später beschäftigen. –

Noch einen Blick auf das Komische. Falstaff ist ja sehr unsittlich. Wenn ich ihn moralisch beurteile, so ist er ein abscheulicher Mensch. Wie kann er, so beschaffen, ein ästhetisches Bild sein? Und dieses soll er ja doch sein als Figur in einem Drama. Aber was hat Shakespeare alles gethan, uns vom moralischen Standpunkt ab und auf eine andere Seite hinzulenken: auf die Naivität und auf die Komik der Widersprüche! Falstaff ist schön im Sinne des Komischen; und für das Komische wird der ausschließlich moralische Mensch keinen Sinn haben.

Wenn man den moralischen Standpunkt vertritt und ihn mit seiner ganzen Einseitigkeit in das ästhetische Urteil einführt, so gehört das zu den rasenden Verwechselungen von objektiv und subjektiv, Gegenstand und Bild desselben. Zum Exempel: Die Italiener spielen im Theater gern mit, ganz im Anstande, denn sie sind ja das Volk des Anstandes. Ich war einmal dabei, als ein Stück gegeben wurde, worin eine Witwe das Opfer eines Intriganten werden sollte. Aber da ist ein edler Mann, der sich ihrer annimmt. Der Schauspieler nun, der diesen gab, spielte sehr schlecht, der Bösewicht dagegen gut. Je besser der letztere seine Sache machte, um so mehr wurde er ausgepfiffen, je schlechter der Edle, um so mehr belobt. Das ist also einseitig moralisches Interesse und führt zur Verwechselung von objektiv und subjektiv. Dargestelltem und Darsteller. Der brave Mann im Schauspiele wurde am Ende dreimal gerufen und stolperte über seinen Säbel; – jetzt lachten sie ihn aber doch aus.

In der Dresdner Galerie ist ein außerordentlich geistvoll gemalter Studienkopf von Brouwer, ein fürchterlich roher Kerl; der schreit im Rausch mit weit aufgerissenem Maul, ein Exemplar von Menschen, die sich, wie man sagt, »sauwohl« fühlen. »Uns ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen«, muß man da aus Auerbachs Keller in Goethes Faust citieren. Jeder Kenner betrachtet dieses genial hingeworfene Gemälde mit Entzücken. Aber erst neulich erzählte mir einer, der dort mit einer befreundeten Familie zusammentraf und der Tochter, die ihn um Orientierung gebeten hatte, mit diesem berühmten Bilde etwas ganz Besonderes zu zeigen hoffte, wie sehr er niedergeschmettert war, indem sie sagte: »aber das ist ja häßlich, das ist ja ein ganz gemeiner Lump«. Die Dame zeigte hierbei eben keinen Sinn für die komische Kraft in der beseelten Darstellung des Künstlers. Dieser Rüpel ist ein ganzer Kerl und in seiner Art auch urbildlich. Das Komische ist auf seine Weise auch ideal, Falstaff ein Schweinpelz und ein Ideal zugleich. Da haben wir also ein Paradoxon; und es mag zunächst als solches hingestellt bleiben, wir kommen schon noch an die Stelle, wo das Ethische seine Rettung findet.

Ausgeschlossen ist auch das theoretische Interesse, der Trieb unseres Geistes zur Erkenntnis der Wahrheit. Wenn wir uns betrachtend zum Schönen wenden, so wollen wir es nicht erst begreifen müssen. Natürlich ist ein gewisses Denken auch hiemit verbunden. Aber wir wollen nichts Weiteres daraus lernen. Wenn wir ästhetisch genießen, so betrachten wir eine Landschaft, sei sie gemalt oder wirklich, gewiß nicht darauf hin, was sie für ein Gestein enthält, ob es Sand- oder Kalkstein ist, untersuchen nicht wie ein Botaniker ihre Pflanzenwelt, nicht wie ein Physiker ihre Lichtwellen. Und Dramen und Romane sind keine Lehrbücher der Physiologie, sind überhaupt nicht zu diesem Zweck gedichtet. Das wahrhaft Schöne leuchtet unmittelbar ein – wenn auch nicht jedem, so macht dies doch keinen Unterschied; es kostet kein Kopfzerbrechen; und so wenig es die Absicht hat, zu predigen, zu erbauen, so wenig will es unterrichten; es ist nicht didaktisch.

Nun weiß dies jeder, und es scheint eine so abgetretene, Wahrheit, daß man es kaum der Mühe wert finden mag, darauf noch näher einzugehen. Allein hier kommt ein Punkt, der zu beachten ist: Unsere Welt hat aus der Literaturgeschichte gelernt, daß Gottsched meinte, die Poesie sei dazu da, uns einen moralisch wertvollen, so oder so erhebenden, erbauenden, belehrenden Gedanken mit einigen angenehmen Bildern aufzuputzen, in ein buntes Papier zu wickeln. Wir kennen diese Philisteransicht und lachen über den guten Gottsched, meinen weit über ihn hinaus zu sein. Aber sehen Sie sich um, hören Sie zu, wie man spricht, so können Sie aus tausend und tausend Urteilen erkennen, daß die meisten Menschen die Poesie darauf hin examinieren und sich vor allem fragen: wie viel wirft sie ab vom Gedankeninhalt? Und da meint man hinten nach: ja, es muß auch hübsch ausgestattet sein. So liest man Dichter, und so beschaut man Gemälde! Weit über die Hälfte des Publikums steht auf diesem Standpunkt Gottscheds.

Ein Beispiel: Wer theoretisch betrachtet, den interessiert es, ob das, was hier dargestellt ist, wahr sei, oder was dahinter stecke, oder was der Dichter davon selbst erlebt habe. Ueber Goethe hat man so viel Biographisches geschrieben; und sie meinen Wunder was zu thun zur Erklärung der Iphigenie, wenn sie nachweisen: da schwebt ihm die Frau v. Stein vor. Aber habe ich dann das Gedicht objektiv beurteilt, wenn ich sage, daß persönlich Erlebtes dahinter sitzt? Das mag man wohl nachher studieren, aber ein ästhetisches Urteil ist damit nicht vollzogen.

In diesem Zusammenhang ist auch die historische Wahrheit zu besprechen. Es ist gegenüber einem Kunstwerk ganz gleichgültig, ob das Dargestellte wirklich geschehen ist oder nicht. Nebenher kann man wohl diese Frage stellen. Aber der Dichter steht über der historischen Wahrheit. Leute, die danach fragen, zeigen, daß sie nicht wissen, um was es sich im Schönen handelt. Kindliche Gemüter pflegen den Inhalt eines Romans, eines Dramas, wenn sie nach Lesung ihn angeben wollen, im Präteritum zu erzählen; sie sprechen just, als ob es wirklich geschehen wäre. Keiner, der weiß, daß das ja komponiert ist, wird hiervon so berichten, sondern im Präsens.

Der Dichter, sagte ich, steht über der historischen Wahrheit. Er soll nur die innere Wahrheit des Menschenlebens darstellen, wie es immer sein kann; und wenn er diesen oder jenen geschichtlichen Fall behandelt, so thut er es bloß, weil derselbe mit besonderer Kraft ein Bild gibt von Menschenlos. Natürlich darf er dabei nicht in zu starken Widerspruch mit der Geschichte treten. Wenn einer, der den Wallenstein behandelt, ihn keinen Treubruch am Kaiser begehen ließe, so würden wir fragen: warum nennt er das Stück Wallenstein?

Dennoch bleibt wahr, was wir gesagt haben: Der Dichter bedient sich eines historischen Motives nicht, weil es historisch ist, sondern weil es ihm poetische Fülle entgegenbringt.

Der Dichter kann auch einmal belehren wollen, wenn er uns nur sonst zeigt, daß er ein ganzer Dichter ist. Goethe und Schiller haben herrliche Lehrgedichte, aber das Lehrhafte ist nicht die Gattung, die im Mittelpunkt der Poesie steht, sondern mit gewissen außerästhetischen Mitteln vermischt; und es ist ein Wahn, wenn einer meint, mit Lehrgedichten wirkliche Poesie geleistet zu haben. Wir haben freilich viel Didaktisches in unserer Litteratur; es war lange Zeit Mode. Opitz hat mehrere lange Lehrgedichte geschrieben, »Ueber das Uebel und den Trost im Uebel«, und ein Holländer eines über gelehrte Krankheiten »Von den Suchten der Gelehrten« – vielleicht nur nicht belehrend.

Also der theoretische Zweck ist vom Schönen ausgeschlossen wie der Nutzzweck, wie der politische und moralische Zweck. Auch die Befangenheit in diesen höheren Interessen nennen wir pathologisch. Wer sich so zum Kunstwerk stellt, daß er ausgeht von moralischen, didaktischen, politischen Grundsätzen und die ihnen entsprechenden Maßstäbe anlegt, verhält sich wie der, welcher sich sinnlich dazu verhält, pathologisch, weil ihn der Stoff packt, der praktische, moralische, didaktische, politische Wert der Sache, und weil er deshalb nicht die Erscheinung als solche erfaßt.

Prinzipiell bleiben diese Sätze in Geltung, wenn auch gewisse Mischgebiete, wie das der Lehrpoesie, nicht absolut ausgeschlossen sind. Es gibt Malerei und Dichtkunst, welche sich strafend zur Gegenwart verhält. Die Karikatur zum Beispiel, was hat sie alles mitgewirkt bei der Reformation, in zahlreichen Flugschriften, bei der Revolution! Was alles hat die Poesie zur Förderung der Völker beigetragen durch belehrende und satirische Dichtungen! Es sind das aber keine reinen selbständigen Formen oder Zweige der Kunst, sondern Uebergangsformen, Nebenzweige, anhängende Gebiete wie das Kunsthandwerk.

Im Schönen heißt es also: nicht einrennen mit diesem oder jenem Zweck, sondern schauen und nichts anderes. Es herrscht ruhiges Belassen und Betrachten. Denn die ästhetische Auffassung verhält sich zu ihrem Gegenstand ganz objektiv, läßt ihn unberührt stehen, greift nicht ein, will nichts daran verändern oder forcieren.

Es ist arg, wie unsere Zeit diese Stimmung seelenruhigen Betrachtens zerzaust. Unser Leben wird in das allgemeine Geläufe und Gedränge immer nervöser hineingerissen. Es ist ja selbstverständlich: ich will durchaus nicht den unendlichen Fortschritt bemäkeln, der in den Eisenbahnen liegt. Aber jetzt, wo wir in so rasender Eile fliegen, daß nur ein paar Minuten Aufenthalt schon zu viel sind, gerät die Seele in ein Jagen und Hetzen, daß wir kaum mehr in die Stimmung kommen, z. B. vor einer Landschaft ganz ruhig betrachtend zu verweilen. Sie werden sagen: mit der Eisenbahn kommt man ja schneller in schöne Gegenden, zu Kunstsammlungen. Allein durch dieses Hasten kommt man auch nachher nicht zum Genießen, wie dies die Mehrzahl des Reisevolkes, das uns jetzt alles Hochgebirg überschwemmt, genügend zeigt, wenn ihm einmal ein Stück schöne Natur vor Augen kommt. Bengalisch beleuchtet will es sie haben, frisiert. Ich bestieg im September den Gotthard, kam zur Teufelsbrücke, wo die Zeugen der Urgeschichte unseres Planeten so fürchterlich aufstarren. Dort waltet eine Einsamkeit tragischer Art, nur unterbrochen von den wahnsinnigen Donnerstürzen der Wasserfälle. Aber alle Freitag bengalische Beleuchtung. Das ist für unser Reisepack. Und table d’hôte, Thee, Champagner, den ganzen Stadtklatsch will es haben mitten in den Bergen, alle Bequemlichkeiten der Kultur. Es fällt ihm nicht ein, sich lebendig in das Landleben zu versetzen, mit seiner Schlichtheit vorlieb zu nehmen und sich der reinen Betrachtung hinzugeben; es thut nur so manchmal.

Und was sucht man im Haus der Kunst? Die Mehrheit meint, der Wert eines schönen Werkes sei danach zu schätzen, wie viel sich Neues, Interessantes, Aktuelles herausklauben lasse, wie viel es abwerfe von Gedanken, Witzen, Aufregungen, Rührungen. Ihr stumpfer Nerv will möglichst scharfe Reize, stärkste Sensation. Um so mehr ist es angezeigt, in seiner ganzen Wichtigkeit das hervorzuheben, was dagegen wie etwas Blödes scheint: die reine Anschauung. Man kann diesen Ausdruck auch vergleichsweise anwenden auf die Musik, auf das Tonbild und vollends auf die Poesie. Ein Dichter gibt uns innerlich zu schauen. Wir sollen einfach schauen und dabei nichts denken. Freilich, wir können eigentlich niemals nichts denken, aber wir können die Gedanken nur accompagnierend, frei nebenher laufen lassen. Nicht mit Denken, sondern mit Versenken muß das Kunstwerk erfaßt werden. Es handelt sich ja hier nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes um eine Sprache, die sich zunächst immer an unseren Verstand wendet. Durch die Worte will der Dichter uns nur Bilder vorführen, in die wir uns versenken sollen. Man redet oft von der Sprache der Kunst, aber diese Sprache ist eine ganz andere als die gewöhnliche, sie spricht in und durch Formen. Wir wollen in ihrem Gebiete nichts anderes fühlen als Formen, im übrigen soll unsere Seele ganz und gar still sein. Wo dieses reine Betrachten, dieses Versenken der Seele in Bild und Einklang nicht stattfindet, da kommt nun das Gemüt mit seinen übrigen festen Neigungen, falschen und halbwahren Prinzipien, mit den Einseitigkeiten, woran jeder Mensch leidet, da mischt sich die unberechenbare Individualität ein, – und mit dem Schönen, mit der Uebereinstimmung über das Schöne ist es aus. Alles Schöne will das Gefühl bewegen, aber nur durch und im reinen Beschauen. Die Allgemeinheit des Wohlgefallens am Schönen wäre nicht möglich, wenn das Interesse positiv mitwirkte, denn hierin sind die Menschen getrennt. Sie weichen voneinander ab im Gebiete des Angenehmen, des Nützlichen, des Ethischen und im begrifflichen Denken. Sowie Sie sagen: berechtigt sind die Ansprüche auf praktische Verwertung, politische, moralische Zwecke, oder das religiöse Interesse (das so furchtbar wird bei allen Menschen, die nicht unterscheiden zwischen dem Wesen der Religion und dem, was die positiven Religionen fälschend hinzufügen), berechtigt ist auch das theoretische Interesse, so gäbe es niemals ein allgemeines Urteil im Gebiete des Schönen und der Kunst, und die Welt würde nicht in der Ansicht zusammentreffen, daß Aeschylos, Sophokles, Shakespeare, Goethe große Dichter sind. Alles liefe auseinander. Es muß im Schönen etwas sein, was auch dem sittlich Unreifen das sittliche Ideal einleuchtend macht, und es gefällt ungleich Denkenden gleich.


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