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§ 7.

Der also stets auf den Menschen weisende Lebensgehalt kommt im Schönen zu ungetrübtem Ausdruck. Das Schöne ist nicht nur ausdrucksvoll, sondern mangellos ausdrucksvoll, die Individualität des Gegenstandes miteingeschlossen. Der Gegenstand erscheint im Schönen als vollkommen. Was er nach Innen ist, ist er ganz nach Außen und umgekehrt. Untrennbare Einheit von Fülle des Inhalts und Vollendung der Form.

 

Die viel bestrittene Frage: darf man das Schöne erklären mit dem Begriff der Vollkommenheit, spielt in der Geschichte der Aesthetik eine große Rolle. Zuerst wollen wir uns verständigen über den Begriff Lebensgehalt. Darunter verstehen wir eben, was der Gegenstand seinem inneren Wesen nach ist, z. B. ein Baum, ein Tier. – Man kann dies auch Idee nennen, aber dieser Begriff hat unendliche Schwierigkeiten. – Also, was das Ding sein soll, ist Lebensgehalt; und dieser kommt in der Form zum Ausdruck. Das Schöne ist ausdrucksvoll und zwar immer von außen nach innen gesehen. Seine Form ist keine leere Form, sondern eine Form, welche mimisch immer auch die innere Beschaffenheit des in ihr enthaltenen Gegenstandes darstellt. Es erscheint in der Gestalt des Schönen nicht nur die Seele, es kommt alles heraus, was im Innern liegt, alles und ganz. Die Form im Schönen ist also nicht bloß ausdrucksvoll, sondern mangellos ausdrucksvoll. Dies wird Ihnen ganz ohne Zweifel die eigene Erinnerung sagen. Vor allem wahrhaft Schönen in der Natur oder in der Kunst haben wir ein Gefühl, daß wir sagen möchten: da ist doch nun einmal etwas recht! Denn in der Wirklichkeit ist fast alles irgendwie getrübt, dem störenden Zufall preisgegeben; im Leben ist so äußerst selten etwas recht oder völlig das, was es sein und was es vorstellen soll. Es gibt kein Wesen, das in einem bestimmten Moment seiner Erscheinung ganz ausdrückt, was es ist. Ueberall ist ein Rest, ein Fehler, ein Bruch, ein Abgang. Das verhält sich nun im Schönen anders. Hier scheint es uns: ausnahmsweise ist in der Natur etwas ohne Tadel. Das ist einmal ein Baum, voll des gesündesten Säftelebens der vegetabilischen Natur und reich ausströmend ihren labenden Duft. Das ist einmal ein Roß, ein Hund, da ist alles richtig entwickelt. Das ist einmal ein Mann, ein Weib, daß wir sagen müssen: was Mann, was Weib sein soll, ist hier vollkommen da. Ich will einen trivialen Ausdruck gebrauchen, weil ich ihn brauche; er dient mir zu gut. Es ist ein Gefühl, wie wenn man sieht, daß ein Guß gut gelungen, oder daß der Teig gut aufgegangen ist. Der Typus der Gattung ist so über die Natur gekommen, daß ihr Formtrieb ganz in den Model hineingedrungen ist, den sie ausfüllen soll. Model bedeutet ja auch Modell.

Nun muß man aber diesen Ausdruck unendlich behutsam anwenden, sonst gerät man in Widersprüche; dies ist das Schwierige. Wenn Sie meinen, das Prädikat »vollkommen« passe nur so ohne weiteres auf alles Schöne, so werden Sie sich bald sagen müssen: nein, es paßt nur mit Vorbehalt. Und was versteht sich unter diesem Vorbehalt? Einmal folgendes: Ich habe gesagt: im Schönen ist der Gegenstand, der jetzt und hier auszudrücken ist, ganz herausgekommen, er ist mangellos ausdrucksvoll. Aber der ästhetische Gegenstand kann auch nach der Forderung des gegebenen Zusammenhangs gering, häßlich, gebrechlich, versehrt, krank, formlos, verbildet, einseitig sein. Nehmen Sie z. B. folgendes. Ein Landschaftsmaler kann einen ganz verkrüppelten, von Sturm und Blitz zerfetzten Baum, armes, elendes Gestrüpp, ausgetrockneten, verbrannten Grasboden darstellen, irgend eine ärmliche, melancholische Gegend. Da ist also einzelnes ganz unvollkommen, aber was er vollkommen zu geben hat, ist der melancholische Ausdruck des Ganzen. Dieses und dieses zusammen ist, so vereint, ästhetisch wohlgefällig. Wenn ein Künstler Kämpfe schildert, Schlachtgewühl, Schwerverwundete, Ambulanzen (wie z. B. Adam), Mühe, Schmerzen, Kranke, die Not einer Familie, das Mitleid mit einem Sterbenden, Teufel, Pharisäer, so handelt es sich um den Zweck der furchtbaren Schönheit und seine volle Erfüllung. Wo eine Trauerscene mit leidenden Gestalten der Gegenstand ist, da wäre es Unsinn, zu verlangen, daß diese leidenden Gestalten vollkommen sein sollen, also nicht leidend. Zur Beleuchtung muß ich hinzusetzen: in der gemeinen, nicht veredelten Wirklichkeit spricht sich auch das Leiden nicht ungestört aus. Die Erfahrung des Lebens zeigt uns, daß ein Gesicht im Zustand der Qual ganz unförmliche Züge haben kann, die diesen Zustand teilweise ausdrücken, teilweise nicht, so daß es uns sogar – recht zur Unzeit – komisch stimmen kann. Dagegen ergreift uns ein Ecce-homo von der Hand eines Meisters aufs tiefste, nicht bloß physisch, sondern moralisch; er fühlt in seinem Leiden die ganze Schuld der Menschheit; und wir fühlen sie mit ihm.

Ein anderes Mal wird das Häßliche absichtlich bis in die Karikatur hinein gewendet. Shakespeare wollte ja in seinem Falstaff keinen vollkommenen Mann geben, sondern einen vollkommenen Typus des witzigen Kneiplumpen. Also je nach dem Zusammenhange ist das Gegebene vollkommen, oder nur Teil eines vollkommenen Gegenstandes. Das eigentlich Schöne liegt letzteren Falls im Ganzen. In Shakespeares Heinrich IV. ist nicht Falstaff das Schöne, sondern die bewegte Handlung als Ganzes; aber an dieser Stelle braucht er einen genußsüchtigen, gewissenlosen, derben Menschen; Falstaff ist dicker Trunkenbold, und dieses muß Shakespeare vollkommen geben. Also der Begriff des Mangellosen wird modifiziert, nüanciert, delogiert dadurch, daß das Schöne auch den Standpunkt des Furchtbaren und des Komischen einnimmt. Das muß später entwickelt werden; aber jetzt schon haben wir überall Rücksicht darauf zu nehmen.

Zu dem Satze: »das Schöne ist mangellos ausdrucksvoll«, habe ich den Zusatz gemacht: » die Individualität des Gegenstandes mit eingeschlossen« Vgl. S. 30.. Wir wollen nichts von flachen Idealen. Akademische Kunst bringt Gestalten hervor, daran ist alles recht hübsch normal, richtig, aber leer, leblos, flau; sie lassen unser Gefühl kalt. Mir machen immer Spaß die Kostümfiguren in Modejournalen, wie sie an Schneiderläden ausgehängt zu sehen sind, diese süßen Normalpuppen mit ihren blühenden Monatrettichgesichtern. Also flach Allgemeines ist Null. Was wollen wir aber? Wir wollen Individualität. Das Schöne ist in dem Sinne mangellos, daß es nicht bloß das Allgemeine gibt, sondern Individualitäten, daß die Gattung Baum, Tier, Mensch, Mann, Weib, Alter, Stand nicht nur allemal das Generelle sagt (uns also zeigt, das ist ein Nadelbaum, Vogel, Greis, Jüngling, Kind) sondern zudem die Eigentümlichkeiten, wodurch sich jede Existenz von allen übrigen unterscheidet. In jedem Einzelwesen mischt die Natur die Eigenschaften, welche das Ganze dieser Gattung hat, und demgemäß die Stoffatome wie in keinem anderen Wesen. Es sieht kein Mensch dem anderen gleich. Das ist ein Wunder aller Wunder. Die Millionen von Menschen, die gelebt haben, sind nicht zu zählen. Sie könnten alles darauf wetten: niemals hat es zwei Menschen gegeben, die einander ganz gleich sahen, nie eine Stimme, die der anderen ganz gleich tönte. Und dies geht hinunter durch alle Reiche der Natur. Ziemlich niedere Tiere scheinen sich gleich zu sein, aber sie sind dennoch sehr unterschieden. Der Schweinehirt kennt die Individuen seiner Herde recht wohl. Wenn der Gänsehändler Gänse dahertreibt, so kommen sie uns komisch vor, weil wir keinen Unterschied zwischen Gans und Gans sehen; aber der Händler kennt jede. Also nicht einmal eine Gans ist der anderen gleich. Das Individuum ist immer eigenartig und unberechenbar eigenartig.

Nun aber kommt folgende Schwierigkeit. Im Schönen, habe ich gesagt, wollen wir die Gattung ganz und mangellos ausgedrückt sehen. Aber wenn es zugleich wahr ist, daß die Erscheinung ebenso entschieden die Bedeutung eines Individuums hat, wie bringen wir dann beides zusammen? Das Schöne soll die Gattung und zugleich ganz individuelles Leben ausdrücken. Schließen diese Sätze einander nicht aus? Antwort: Das eigenartige Individuum vertritt durch die Kraft der Einseitigkeit seine Gattung gerade voller und reicher als das ordinäre Individuum, das keine Eigenheit hat. Denn die Energie der Bestimmtheit ist immer Einseitigkeit; es müssen die Kräfte sich irgendwie konzentrieren. Diese Energie gibt der Fülle von Eigenschaften, die im Gattungswesen liegt, den Anhaltspunkt, um sich zu gruppieren. Das bedeutende Individuum, worin gewisse Gaben hervorstechen, der gewaltige Mann, der immer in einer bestimmten Richtung thätig ist, vertritt gerade durch seine Einseitigkeit die Gattung reicher als das gewöhnliche, unbestimmte Individuum. Dieses ist, um mit Schopenhauer zu reden, Fabrikware der Natur, es läuft wohl so mit, bietet aber den Kräften der Gattung keine Axe, um die sie sich versammeln können. Der flache Mensch ist Gattungsrepräsentant nur im animalischen Sinn. Es fehlt nichts, aber es ist auch nichts da, weil nichts durch einen Mittelpunkt gehoben, nichts Relief wird. Solche Menschen geben die Gattung nur in Masse, der Flügelmann gibt sie allein. »Mein König, wir sind Männer,« sagte der erste Mörder zu Macbeth; und dieser antwortet:

Ja, im Verzeichnis lauft ihr mit als Männer;
Wie Dachs und Windspiel, Hühnerhund und Bracke,
Wie Pudel, Wasserhund und Halbwolf alle
Der Name Hund benennt.

Ich kann also, wenn ich das Wesen einer Existenz sehr individuell darstelle, hiedurch gerade recht seine Gattung und die in ihr liegende Macht ausdrücken. Wird sich ein vernünftiger Mensch gefallen lassen, daß der Bildnismaler ihn flach verschönert, daß er ihm die Ecken, Härten, Kanten seiner Eigenart abglättet, daß er ihm ein fades Konfirmandengesicht hinmacht? Nein, er wird in seiner bestimmten Eigenart dargestellt sein wollen.

Wo irgend ein Menschenbild vor Sie hintritt, das einen genialen Meister zum Urheber hat, da werden Sie fühlen: der hat von außen hineingesehen in die Seele, hat die Formen aus der Seele herausgesehen. Nur unser ganzes Leben gibt eigentlich den Ausdruck unserer Persönlichkeit. Und der Bildnismaler soll das alles fassen. Er muß aus einer ganzen Reihe von Erscheinungen, die er zudem nur sehr unvollständig kennen gelernt hat, die Quintessenz der Persönlichkeit herausdestillieren. Sein Werk muß den Eindruck machen, der uns überzeugt, daß das wahr ist, daß so einer einmal leben konnte. Das Wahre der Gattung erscheine konzentriert in ein Individuum, so daß dieses in der äußeren Erscheinung ganz heraustritt.

Ein Deutscher, auf den wir stolz sein dürfen, Holbein, sehen Sie zu, wie der den Fonds der Persönlichkeit hebt ohne alle und jede Chikanerie! Der von ihm gemalte Mensch ist ganz einfach da, er ist in keinen Moment gesetzt, wo er geistreich sein soll, er ist in keine Pose gebracht. »Wollen Sie jetzt Ihr Auge heben und ihm ein gewisses Etwas geben,« dies Diktum habe ich einmal von einem Photographen gehört. So etwas hat Holbein gewiß nie gesagt, wenn ihm einer saß. Nichts da, sondern grundeinfach, ganz schlicht sind seine Bildnisse! Man meint, man lebe in den Menschen drin und spüre das unnennbare Geheimnis ihrer innersten Seele. Wie kann Holbein die Lippen geben! Ich habe es bei keinem Künstler so gesehen, und wäre es Tizian, Veronese, Rubens, Rembrandt, van Dyk. Mit einer ganz undefinierbaren Leichtigkeit, mit einem Zug des Pinsels zeichnet er den Mund, daß man meint, der Mann wolle jetzt anfangen zu reden. Diese Lippen sind zum Sprechen wahr. Man fühlt: ein so gegebenes Porträt ist wie der natürliche Baustein für das historische Gemälde. Diese schlichte Einfachheit und ruhige Gegenständlichkeit dürfen wir auch schon bewundern in der Malerei des 15. Jahrhunderts. Ihre grundeinfachen, schlichten Charaktere stehen da, wie wenn sie in Erz verewigt wären.

Aber stets werden wir finden, daß in wahrer Kunst das Individuelle mit dem Gattungsmäßigen recht wohl übereinstimmt. Es führt dies nun zu einem Punkt, den wir im weiteren Verlauf werden nochmals aufnehmen müssen. Hier nur so viel: Es unterscheiden sich zweierlei Stile: der sogenannte idealistische und der sogenannte realistische oder charakteristische Stil. Der idealistische Stil gibt mehr nur Typen, er hat, wenn ich so sagen darf, weniger Salz der Eigenheit. Der realistische Stil greift tiefer hinein in das wirkliche Leben und gibt mehr Individualitäten. Die Skulptur ist ihrem ganzen Wesen nach auf den Idealstil gewiesen, die Malerei dagegen auf den Realstil. Die antike Kunst und Poesie hat mehr Typen gegeben, die moderne individualisiert mehr. Doch der Gegensatz ist kein absoluter. Die mehr gattungsmäßig normalen Typen dürfen ja nicht leblose, nicht allgemeine, flache Schemata von sogenannter Schönheit sein. Die Götter der antiken Skulptur haben auf ihre Weise auch Individualität. Zum Beispiel sehen Sie den Hermes an, den man jetzt in Olympia gefunden! Dieser herrliche Griechenkopf von Praxiteles ist eigenartig und ganz anders geformt als z. B. der Kopf des Apollo oder des Jupiter, oder des Herkules. Die griechischen Götter sind auch Individualitäten, nur sind die Linien der Individualität an ihnen leiser gezogen. Andererseits würde der realistische oder charakteristische Stil sehr übel thun, falls er in solchem Grade individualisieren würde, daß man den Eindruck hätte: dies ist mehr Grille als allgemein menschliche Wahrheit. Wenn diese zwei Stilrichtungen, die idealistische und die realistische, zu weit auseinander gehen, so verfallen sie beide in die schlimmsten Ausartungen; deswegen soll die eine die andere immer mahnen, daß sie sich nicht in der Form verliere.

Bei allem echt gelungenen Schönen werden Sie sich sagen: »ja, so ist es!« Denken Sie an den eingebildeten Kranken von Molière, oder an die Demagogenrede, die Antonius in Shakespeares Julius Cäsar spricht. Da spüren wir im Augenblick: das Wesen dieser Menschheitsform ist getroffen. Aber ganz gleichzeitig sagen wir uns: so kann es nur einmal da sein, das gab es nie vorher und wird es nie wieder geben, diese Erscheinung ist so wahr und doch so eigentümlich. Auch beim Anhören von Musik haben wir diesen doppelten Eindruck. Sie legt das innerste Wesen einer uns allen vertrauten Stimmung bloß; und doch haben wir das in solcher Art noch niemals gehört. Es ist immer beides beisammen; und seine Trennung in den zwei Stilrichtungen ist nur eine relative.

Man hat diese Begriffsbestimmungen scharf abgegrenzt. Hier begegnet uns wieder der Philosoph Wolff, ein nicht eben sehr tief dringender Geist, der aber die Gebiete der Philosophie geordnet und, ohne der Würde der Wissenschaft etwas zu vergeben, doch die Philosophie gemeinverständlich gemacht hat. Er sagt: »das Schöne ist Anschein von Vollkommenheit.« Nun ist gegen ihn Kant aufgetreten in seiner »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« und hat gesagt: nein, das Schöne läßt sich nicht bestimmen oder erläutern durch den Begriff »vollkommen«, denn um zu erkennen, ob etwas vollkommen ist, muß ich einen Begriff haben von ihm; und das Schöne soll doch ohne begriffsmäßiges Denken gefallen. Da hat aber der große Kant doch offenbar nicht recht, denn was wir hier unter »vollkommen« verstehen, ist etwas anderes als das, was wir in der Wissenschaft darunter verstehen. – Nehmen Sie einmal das Wort »vollkommen« und sehen Sie es an! Etymologisch bedeutet es das, was wir ästhetisch wünschen und brauchen: voll Herausgekommenes, etwas, dessen innere Lebenskraft ohne Abzug in die Erscheinung herausgequollen ist, so daß sie ganz da ist, ganz in die Sinne fällt. Wo nun der Lebensgehalt ganz heraustritt, da brauchen wir ja nicht mehr darüber nachzudenken, ob es vollkommen sei, weil es die Form sagt. So sind wir zu dem Punkt gelangt, wo wir den Ausdruck vollkommen zur Erläuterung des Begriffes schön doch annehmen müssen. Im Schönen, sagte ich, waltet ein Denken in Formen, nicht in abstraktem, logisch unterscheidendem Begreifen; und hier ist hinzuzusetzen: mit diesem Denken in Formen denken wir das, was wir in dem Dinge vollkommen, ganz und vollständig auffassen.

Das können Sie am menschlichen Körper sich klar machen. Sein Organismus ist ein Werk der inneren Zweckmäßigkeit. Daran haben Sie die Art, wie die Natur zu ihrem Zwecke verfährt. Zweck ist ein Begriff, den ich mir bilde an etwas, das werden soll, also ein Gedanke, verbunden mit dem Begriff, daß er wirklich werden soll. Der Mensch, in seinem Handeln, sucht nach den Mitteln, um einen Zweck auszuführen. Diese werden herbeigeschafft, bearbeitet, und der Zweck ist erreicht. So schafft die Natur nicht. Da ist Begriff oder Bild dessen, was werden soll, Material und Thätigkeit am Material untrennbar beisammen; alles ist eines.

Eduard v. Hartmann, dem ich durchaus nicht alles einräume, sagt ganz trefflich: »Die Natur schafft so, daß sie Bildhauer, Marmor und Meißel zugleich ist.« Im organischen Körper ist alles, eines fürs andere, Mittel und Zweck. Ein Wunderwerk dieses in der Natur waltenden Geistes, der nicht erst trennen und auseinanderlegen muß, sondern geradezu so schafft, daß sein Denken zugleich ein Werden des Dinges ist.

Nehmen Sie z. B. den Antinous. Das ist einmal eine vollkommene Jünglingsgestalt. Davon sind wir überzeugt, dessen sind wir gewiß, ohne daß wir deshalb in einem Examen den Beweis dafür erbringen könnten, ohne daß wir uns fragten, was sind die Funktionen dieser Gestalt, der Brust, der Arme, was enthalten diese Glieder? Und nun ist doch gewiß wahr: Hier sind alle Organe so gebildet, wie sie gattungsgemäß gebildet sein sollen, obwohl wir nicht wissenschaftlich angeben können, wozu sie dienen. Wir sehen es, ohne es zu denken. An dieser und jeder schönen Gestalt sind alle Zwecke erreicht, deshalb habe ich, indem ich sie bloß anschaue, ohne etwas zu denken, den Vollbegriff eines zweckmäßigen Wesens. Und dies meint man, wenn man das Schöne auch mit dem Begriff vollkommen zu decken sucht. Die menschliche Gestalt ist die Interpretation ihrer selbst. Es gibt eine Welt, wo das Sehen und das Hören für das Denken eintritt, wo das Denken als ausdrückliches, eigentliches Denken nicht hervortritt, sondern im Sehen und Hören selbst mitten drin ist. So gibt es eine Ueberzeugung von Vollkommenheit durch die Form selbst, ohne Begriff, ohne wissenschaftliche Rechenschaft. Von einer Maschine muß man wissen, wozu ihre Teile dienen, aber die organische Gestalt ist keine Maschine.

Wir können also das Wort »vollkommen« doch zulassen. Es paßt doch auf das Schöne, wenn man nur den Begriff behutsam anwendet; und ich wiederhole: Die Vollkommenheit spricht sich ohne wissenschaftliches Denken in der Form selbst aus. Es gibt ein anschauendes Wissen. Dabei bleibt es.

Man hat nun ohne weiteres gesagt, schön sei, was seine Gattung adäquat ausdrückt, d. h. also ganz und gar deckend, ohne Rest, ohne Bruch, ohne Störung und Mangel; und auch meine frühere Definition könnte so aufgefaßt werden. Das ist aber in solcher Einfachheit jedenfalls nichts; und man hat dagegen mit Recht das Allereinfachste eingewandt. So, hieß es etwa: dann wäre also eine ihrer Gattung gemäß recht gelungene Kröte, ein Krokodil, ein Hammerfisch, eine Tarantel, ein Molch, ein Warzenschwein schön. Wie steht es nun damit? Welches Labyrinth ist doch die Untersuchung des Schönen! Wohin da nun gehn?

Wir sind gewohnt, das ganze Reich der Natur zusammen mit dem menschlichen Leben als ein System von Stufen anzusehen, und unsere Phantasie bildet sich ein Schema nach den höheren Gebilden, denen die Natur zustrebt; sie beurteilt die niedrigen danach. Wir steigen auf von der unorganischen Natur und finden das erste Individuelle, konzentrisch um einen Einheits- und Lebenspunkt sich Zusammenfassende: die Pflanze. Als ganz neue Kraft tritt in der Tierwelt freie Bewegung auf, Selbstbewegung, überhaupt Seele. Aber auch in dieser Welt sehen wir wieder eine Stufenreihe, so daß sie uns erscheint als ein Suchen der Natur, immer höhere Formen zu erwirken. Es geht aufwärts zu den Wirbeltieren, dann zu den Säugetieren, hinauf, hinauf und endlich zum Menschen, worin die Natur ihr Höchstmögliches erreicht. Der Mensch ist dann wieder in verschiedenen Wertgraden thätig, er hat untergeordnete und höhere Funktionen. Es bildet sich die menschliche Gesellschaft, der Staat, die Religion, die Moral etc. Ueber die Natur stellt sich so ein neues großes Gebiet von geistigen Schöpfungen des Menschen. Auf der Krone dieser Stufenreihe entfaltet sich aus den sittlichen Geisteskräften das ethische Leben. Man könnte nun folgern: Ist alles, was schön ist, in die Erscheinung getreten, so steigt mit dem Wert der Wesen auch das Harmonische ihrer Gestalt. Je höher ein Wesen, desto schöner entwickelt sich an ihm die Einheit in der Vielheit, desto schöner gliedern sich die Organe, desto klarer sind sie in lebendige Einheit zusammengefaßt; am höchsten beim Menschen. Von den peripherisch sich abhebenden Gliedern läuft ein Heer lebendiger Verbindungsfäden zur physiologischen Einheit im Innern. Ueberall fühlt der Mensch an der ganzen Haut. Und nun alles überragend und überleuchtend die seelische Einheit, über allem der Geist, der das Ganze wie ein Licht durchdringt und im Fokus des Auges hervorblitzt. Also eine Stufenleiter; und der Wert eines Schönen wird also wohl auch mit dem Stufenwert des Lebensgehaltes, also mit dem höheren Organismus dieser und dieser Art von Wesen steigen. Ja! Ganz im allgemeinen ist dies zuzugeben, aber auch nur ganz im allgemeinen! Denn wie Sie das näher ansehen, wickelt es sich so ineinander, daß Sie sich vollständig verwirren. In diese Verwirrungen muß man Linien ziehen; und diese Linien sind folgende.

Erstens: Zu dem wahren Satz von der Stufenleiter der Natur gehört notwendig ein anderer. Die Natur nämlich beeilt sich nicht überall, den inneren Organisationswert auch nach außen auszudrücken. Dies aber ist ja im Schönen der Fall. Im Schönen gibt es ja nichts Unsichtbares. Die Natur zieht dagegen den Organisationswert vielfach in der Tiefe zusammen. Es wächst mit der Skala nicht immer auch die Anschaulichkeit der Form. Ein Fruchtbaum hat einen Saft so edel wie keiner der gewöhnlichen Waldbäume, ist aber für das Malerauge viel unscheinbarer als jene.

Das Amphibium steht höher als der Fisch und doch sind die Amphibien die häßlichsten Tiere. Das Krokodil sieht wie ein Block aus, und durch die baumrindenartige Bedeckung sinkt es um so mehr ins Vegetabilische hinunter. Der Mensch steht unendlich höher als die ganze Natur, und doch ist z. B. ein Negerkopf von der niedrigsten Rasse mit seiner vortretenden Schnauze ein abstoßender Anblick, der uns häßlicher vorkommen mag als manches Tier.

Zur Erklärung hiervon ist aber auch nötig, daß wir den Begriff Stufenreihe, Skala berichtigen. Im Allgemeinen, im Ganzen steigt die Natur wohl empor, aber nicht mit jedem Schritt. Sie hat probiert und probiert, bis sie das Höhere und das Höchste gebildet, aber wenn wir ihren Lauf verfolgen, so sehen wir, wie sie doch da und dort bergab sich wendet. Man hat schon gesagt – und es wird wahr sein –, die Natur folgt einer auf und ab gehenden Spirale. Der Affe, das höchste Säugetier, steht zunächst am Menschen und müßte also nach dem Maßstab der Stufenreihe das schönste Tier sein. Die Natur macht aber Uebergangsformen. Gerade durch seine Menschenähnlichkeit ist der Affe eine durchaus widerwärtige, höchstens komische Erscheinung. Herder sagt von ihm: »hart an der Schwelle der Menschheit ist ihm die Thüre der Vernunft zugeschlagen worden«. So geht das auf und ab; und Sie sehen, wie uns der Satz von der Stufenreihe zerworfen wird.

Wir müssen ferner immer bedenken: in der Aesthetik sind wir niemals bei der bloßen Natur, sondern wir haben immer die Kunst im Auge, denn das Schöne ist wahrhaft nur in der Kunst. Die Kunst oder die künstlerische Phantasie kann zuweilen in das niedrigere Gebiet viel höheren Seelengehalt als in das höhere legen. Die Seele des phantasievoll Betrachtenden sieht in der Gesamterscheinung der unorganischen und vegetabilisch organischen Natur die Stimmung der Menschenseele. Deshalb kann ein Landschaftsbild unendlich mehr ästhetischen Wert haben als das gelungenste Bild eines Tieres, das doch an sich viel höher steht als eine Pflanze. Es ist also eine Verschiebung, die einem förmlichen Sprunge gleichkommt. Die Seele des Künstlers reißt die unorganische Erscheinungswelt heraus aus dem Rang, der ihr zukommt im Folgengang des Natursystems, und gibt ihr einen unendlich höheren Wert. Eine Lache mit ein paar Weidenknorren kann so seelenvoll wirken, daß es ist wie ein tiefgefühltes Adagio.

Dann gibt es ja aber auch verschiedene Künste. Eine Kunst kann sagen, was die andere nicht kann. Es kann einer Kunst, z. B. der Skulptur, nach ihren Stilgesetzen etwas sehr willkommen sein, was relativ niedrig steht im Naturreich, und sehr unwillkommen, was höher steht. Der Vogel ist plastisch günstig, der Kopf der Taube, Ente, vollends des Adlers wohlgezeichnet und der Plastik lieber als so manche Kopfformen von Tieren, die an sich viel edler sind, aber diese klar ausgesprochene Bildung nicht haben. Es kann etwas malerisch sehr und plastisch gar nicht brauchbar sein. – Und die Poesie? Da kommt es nun ganz anders. Sie hat die Mittel, das dem Auge Verborgene durch die Rede darzustellen, den inneren Wert auszusprechen. Ich habe vorhin vom Fruchtbaum gesprochen. Eine Linde oder Eiche hat gewiß mehr malerischen Reiz. Aber in einer Idylle kann uns die Poesie eines Obstgartens von Grund aus erfreuen. Der Dichter kann uns eine gemütlich um einen Obstbaum sitzende Familie schildern und uns dabei seinen Wert und Segen zum Gefühl bringen, kann uns erzählen vom Duft der Blüten und von der labenden Süßigkeit der Früchte. Mit Fug wird der Stifter unserer Religion nicht heroisch schön dargestellt, sondern leidend, mit zerfurchtem Körper. Der Bildkünstler ergreift uns durch den Ausdruck, den er in die Züge des Antlitzes legt. Aber der Dichter hat die Sprache, er kann den inneren Wert zur vollständigen Hörbarkeit bringen. Ich habe gesagt: die Natur zieht auf manchen Stufen den Organisationswert geheim ins Innere zurück. Da kann der Dichter folgen und nachhelfen.

Endlich erinnern Sie sich noch: zum Schönen gehört ja auch das Furchtbare und das Komische; und manches, was im Gebiete der reinen, unmittelbar harmonischen Schönheit nicht brauchbar wäre, ist am Platz, wo die Kunst Furchtbares oder Komisches schildern will, denn dazu braucht sie Häßliches.

Ich glaube, wir können nun unseren Satz trotz einer Welt von Ausnahmen als begründet ansehen und festhalten. Das einfache Verhältnis zwischen Organisationswert und ästhetischem Wert wird in unzähligen Weisen gedreht und gewendet, stellt sich aber in unzähligen Weisen wieder her.

 

Im Menschen übertrifft die Natur sich selbst. Schelling war es, der das zuerst gesagt hat. Im Menschen, möchte ich sagen, öffnet die Natur ihre Augen und wird ihrer bewußt. Aus dem Schoß der Natur gekommen, baut also nun der Mensch eine geistige Welt. Sie ist von Ideen erfüllt. Diese Ideen sind die großen Hebel und Faktoren des Lebens. Und nun kommt die Kunst und will nicht bloß die Naturreiche in ihrem Spiegel wiedergeben, sondern auch diese geistigen Mächte.

So kommen wir auf das Wort Idee. Ich habe ursprünglich gesagt: Das Schöne ist die Idee in adäquater Erscheinung. Dabei meint derjenige, welcher an ein philosophisches Denken nicht gewöhnt ist, es sei damit ein Gedanke bezeichnet. Aber die Alten brauchten den Ausdruck ganz anders. Bei Plato heißt Idee zunächst das, was wir Gattung, Art nennen. Er spricht in diesem Sinn von der Idee des Baumes, des Pferdes, des Hundes. Das griechische Wort ἰδέα kommt von dem Verbum ἰδεῖν. Das heißt sehen. Ἰδέα εἶδος heißt ursprünglich nur ein Geschautes, ein Anblick, eine Erscheinung, ein Bild. Aber Plato und die platonische Philosophie gebraucht dies so, als hätte die Natur ein Bild geschaut und auf Grund dieser ihrer Anschauung nun eine Gattung geschaffen, so daß alle Individuen dieser Gattung, diesem Modell entsprechen. Damit gewinnt das Wort die Bedeutung von Muster, Stempel, Gepräge einer Gattung. Aber schon bei Plato steigt es in seiner Bedeutung. Ideen nennt er auch die Gedanken der Menschen, aber nicht als Privateinfälle, sondern die Gedanken, welche allgemeine Wahrheit haben, das, was wir große Motive, große Faktoren des geistigen Lebens nennen. In diesem Sinne sprechen wir z. B. von der Idee des Goetheschen Faust und bezeichnen sie als das Streben ins Unendliche und Maßlose, als die Ueberhebung des Menschengeistes über seine Schranken. Die Idee von Schillers Wallenstein ist zu bestimmen als ὕβρις, als Ueberhebung des Feldherrngenies, das seine Machtvollkommenheit bis zum Verrat ausdehnt, die Idee von Goethes Egmont als die Poesie der schönen, freien Lebensstimmung mit der in ihrem unvorsichtigen Leichtsinn liegenden Gefahr, die Idee von Goethes Tasso als der Konflikt des Phantasiemenschen mit den Forderungen der Konvention und des Maßes.

Wir haben den Satz festgehalten, daß das Schöne, wie die Welt selbst, seine verschiedenen Höhen hat. Wir haben Baukunst, Tierbild, landschaftliche und genrebildliche Kunst, Idylle, Epos, Drama. Die künstlerische Phantasie steigt auf zu Höherem: sie stellt die großen Geistesfaktoren dar. Aber nun kommt einer und sagt: »Geht mir weg mit eurem inneren, geistigen, ethischen Werte in der Kunst! Ins geringste Objekt kann ein Künstler sein Talent legen, und es kann ästhetisch höher stehen als ein Drama mit seinen Tendenzen und großen Leidenschaften.« Wie ist das nun? Zunächst ganz in der Ordnung. Mit Recht eifert man dafür. Denn in allem Schönen kommt es auf das Wie an. Der moralische Wert entscheidet nicht, sonst wäre der bessere Mensch auch der bessere Künstler, Schiller größer als Goethe. Das ist ja Unsinn; wir haben es bereits früher erkannt. Wer besser vergegenwärtigt, ist der höhere Künstler, dies steht über jedem Zweifel. Wer uns eine schlichte Landschaft mit meisterhafter Kunst vor Augen führt, so daß sie ganz stimmungsvoll erscheint, ist ein größerer Künstler als derjenige, welcher ein Drama macht mit reicher Handlung, mit sittlichen Interessen, hohen Gedanken, aber unvollkommen. Jedoch in diesem Vergleiche klappt es nicht ganz, da muß etwas fehlen. Ich komme hier darauf, weil just an diesem Beispiel meine Disputationen mit den Formalisten verlaufen sind. Diese haben gesagt: der höhere Inhaltswert macht nicht den höheren Kunstwerk. Das gebe ich zu. Wenn ein Dichter oder Historienmaler Großartiges so gut darstellt, wie jener Landschaftsmaler in seinem Kleinod Weniges und Schlichtes, dann werden wir sagen:

Erstens: Beide sind ganze Künstler; ja, das Objekt entscheidet es nicht. Aber nehmen Sie ein historisches Bild, worin großartige Handlungen auch mit großartiger Kunst behandelt sind, wie z. B. die Zerstörung Trojas von Cornelius in der Münchener Glyptothek! Steht das nicht über einer meisterlichen Landschaft? Der größere Gegenstand verlangt auch eine tiefere, reichere Künstlerseele.

Zweitens: Unter Ethischem begreifen wir alles mit geistigem Vollwert, denken dabei nicht nur an Moralisches. Wenn nun ein ethisches Kunstgenie seinen ethischen Gehalt in erhabene Formen legt und die Sprache des großen Stiles spricht, so sind das, wie wir gesehen haben, nicht zweierlei Werte, sondern es ist ein Wert. Die von Großem erfüllte Seele, sagte ich, ist dieselbe Seele, welche die Organe ihres Ausdrucks ins Große streckt Vgl. oben S. 60.. Es ist doch nichts in der Kunst, wenn einer kein Kaliber hat. Man macht viel Anmutiges, Reizendes, man kann Novellen schreiben, die im Munde laufen wie ein angenehmer Süßwein, wie Maitrank; und alle Welt wird's loben. Wenn aber einer Kaliber hat, dann reißt er uns in die Höhe; und das ist dann ein Anderes, Größeres; das spürt man doch im Augenblick.


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