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§ 9.

Es erhellt, daß die Aesthetik ihre Stelle in der höchsten Sphäre der wissenschaftlichen Gebiete hat, deren Gegenstand der Geist ist, wie er sich der Wahrheit versichert, daß alle Gegensätze und Widersprüche sich in Einheit auflösen. Diese Sphäre umfaßt mit dem Schönen oder der Kunst die Religion und Philosophie. Das Schöne steht nach seinem Rang über dem ethischen Gebiet, denn dieses liegt in der Sphäre des kämpfenden Geistes. Dennoch darf und kann es sich nicht vom Guten trennen, sondern muß es, allerdings auf seine Weise, enthalten. Ebenso ist das Schöne zwar nicht bestimmt, Wahrheit zu lehren, aber es soll in seinem Kerne wahr sein.

 

Die Wissenschaft sucht ihre Sphären zu gruppieren. Wir pflegen die Welt geistigen Schaffens einzuteilen in das theoretische und das praktische Gebiet. Im theoretischen handelt es sich um Verständnis, da suchen wir das Wesen der Gegenstände uns denkend anzueignen, durch Erkennen in uns herüberzunehmen. Hierher gehören die Naturwissenschaften, Mathematik, Seelenkunde, Logik, Geschichte. Im praktischen Gebiet kommt es darauf an, wie wir auf die Welt wirken, da machen wir einen Begriff zum Zweck, zur That. So in Angelegenheiten des Rechts, der Moral, des Staates und der Technik.

Aber mit dieser Einteilung kommt man nicht zurecht; man weiß nicht, wohin die Kunst gestellt werden soll. Diese beschäftigt sich nicht mit der Wahrheit, macht keinen Versuch, zu erkennen. In ihrem Gebiet theoretisieren wir nicht; hier kommt alles darauf an, wie etwas als Bild unmittelbar einleuchtet, wie etwas aussieht. Und nicht minder falsch ist es, sie einfach in das praktische Gebiet zu stellen. Schönes hervorbringen ist nicht ein Handeln wie das andere Handeln. Die Kunst will nur darstellen, will nichts in der Welt verändern, läßt die Welt stehen, wie sie ist. Oder will sie etwa auf gute Gesinnung wirken? Auch dies ist nicht ihr Zweck. Auf der einen Seite besteht ihr Verhalten also in einer Kontemplation, die kein wissenschaftliches Untersuchen, auf der andern Seite in einem Darstellen, das kein Handeln ist.

Wir kommen überhaupt in Verlegenheit, wenn wir nicht das ganze Feld geistigen Schaffens in drei Gebiete teilen, neben dem theoretischen und praktischen ein ideales annehmen, das Gebiet der Religion, der Kunst und der Philosophie. In den drei Bezirken dieses Idealgebiets sucht sich der Geist auf verschiedene Weise die Ueberzeugung zu geben, daß die Welt ein von einer Einheit durchdrungenes, in einer Einheit begründetes, harmonisch bewegtes Ganzes ist.

Blicken Sie hinüber in das theoretische und in das praktische Gebiet! Dort haben wir vor uns eine Welt, wo nie volle Befriedigung eintritt. Wir erkennen niemals das Objekt ganz und nie alle Objekte, und wir vermögen auch nie alle unsere Zwecke zu verwirklichen. Aber nun muß es ja doch Gebiete geben, wo unser Geist sich dessen versichert, daß die Welt trotz dem übrig bleibenden Rest, trotz allen Schranken und Uebeln (auch den moralischen) gut sein müsse und in Ordnung, ewig und vollkommen, daß ihr ein Eines zu Grunde liege.

Die Religion nennt dieses Eine Gott. Sie ist die Philosophie für alle Welt, die naive Urform jenes idealen Strebens, das die höchste Einheit des Universums sucht. Sie hat, wie am tiefsten Schleiermacher gezeigt hat, ihren Sitz im Gefühl, nicht, wie Hegel sagt, in der Vorstellung. Philosophie ist Sache des reinen, strengen Denkens, und Religion Sache des Gefühls.

Was enthält nun das Gefühl als Religion? Dieses tiefste Grundgefühl, dies Existenzialgefühl unserer Seele sagt uns, daß wir nur ein unendlich kleiner, verschwindender, vergänglicher Teil im ungeheuren Weltall sind. Die Religion durchdringt und durchschüttert uns mit diesem Grundgefühl unserer ohnmächtigen Kleinheit und ist in diesem Sinn das Gefühl der Tragödie des Lebens. Sie sagt: du bist ein Zwerg und mir ganz fremd, wenn du glaubst, du seiest dem Weltall irgendwie unentbehrlich und es komme ihm alles darauf an, dich zu retten. Davon durchbohrt sein ist das Erste der Religion, und es ist ein Grundgefühl, weil es einfach aussagt, was wir sind. – Aber dasselbe Grundgefühl wird uns auch weiter sagen: Diene diesem ungeheuren Ganzen! Dann bist du ein Teil, ein brauchbares Glied in ihm, und dies gibt dir deinen Wert; dann wirst du nicht mehr Schauer haben vor dem Gefühl deines Nichts, sondern dann bist du ein Etwas. – Es mag manchem hart erscheinen, aber das Unglück dieser Dienstpflicht ist in Wahrheit nur inneres Glück, das unser Gefühl befreit und versöhnt. Darin liegt die wahre Heiligung. Du mußt dein Leben durch Arbeit abverdienen. Dienen wird das Rechte sein. Dienen wird auch das rechte Moralprinzip sein; ich kenne ein besseres nicht. Wer dient, und wäre es dem kleinsten Ganzen, der hinterläßt Früchte, die ihn überleben; und das ist nach meiner Ueberzeugung der einzige Weg, unsterblich zu werden. Dienen heißt sich ins Zeitlose erheben und es in jedem Momente treuen Dienstes genießen.

Religion ist Durchdrungensein von unserer Gliedschaft im Universum. Religion heißt den Egoismus opfern. Dankbar sein heißt dienen. Wenn dies Religion ist, so werden Sie nun sogleich erkennen: für die Menge ist das nie Religion gewesen und wird es auch nie sein. Seit es eine Religion gibt, hat sich das Grundgefühl, auf dem sie beruht, eine Bilderwelt geschaffen und diese für unbedingt wahr gehalten. Alles Gefühl verlangt, sich an eine Vorstellung anzuknüpfen wie eine Ranke an einen Stamm; und so nimmt die Religion die Vorstellung, die Phantasie zu Hilfe; und damit zieht sie die Kunst in ihren Dienst. Die Götter, denen von der mythischen Phantasie schon ein Leib angedichtet war, sind von der Kunst bildlich vor Augen gestellt und zu idealen Gestalten verklärt worden. So hat die Religion mit der Welt ihrer Vorstellungen der Kunst herrliche, nie ganz entbehrliche Motive geboten, und die dankbare Kunst hat diesen an sich noch unklaren Vorstellungen Form gegeben. Den Wert der Kunst für die Religion bezeichnet ein Grieche mit dem einfachen Wort: »Die Dichter haben den Griechen ihre Götter geschenkt.«

Also das religiöse Gefühl des Volkes bedarf der Phantasie, der Kunst. Solange positive Religion besteht, haben die Völker die Naturkräfte personifiziert und den daraus geschaffenen Göttern noch andere Eigenschaften beigelegt, wodurch die Idee ihrer Herrschaft auf die sittlichen und politischen Gebiete ausgedehnt wurde. Sie haben diese Götter immer auf Kosten der Natur für wahr, für existierend gehalten, haben ihnen einen Wohnort angewiesen, also im Olymp, im Himmel u. a. O., haben sie aus diesen Wohnungen heraustreten lassen; und damit war immer das Wunder verbunden. Sie haben geglaubt, daß in der Natur etwas gegen die Natur vor sich gehe, also: daß es hölzernes Eisen gebe. Jede Volksreligion ist darin unfrei. Während ihre Bilderwelt für den Frommen (im respektiven Sinn) eine Stütze ist, hat sie von jeher auch verfinsternd gewirkt; und da die Menschheit diese Bilderwelt niemals entbehren kann, ist ja eine Hölle von Uebeln über sie gekommen. Das ist die schwache, die sterbliche und unheimliche Seite der Religion, die wir positiv nennen im Unterschied von jener reinen, die keinen Kultus gründen kann.

Das Sinnbild, das Symbol, der Schein gilt dem positiv Religiösen für eine Realität, die er sich um keinen Preis nehmen läßt, für Thatsache, Existenz, Geschichte; und er hat von jeher diejenigen grausam verfolgt, gekreuzigt und verbrannt, die sagten: Das ist nur Symbol, das deinem Gefühl als Stecken und Stab dient, es ist keine Wirklichkeit. Sokrates! Wenn wir seine Lehre auf eine kurze Form reduzieren, so heißt sie: »Die Götter mußt du in deinem Innern suchen, sie sind nicht.« Und dafür hat er dürfen den Giftbecher trinken; – wie es von jeher in der Welt gegangen ist.

Die Götter werden sehr menschlich, sinnlich gedacht, und menschliche Eigenschaften sind ihnen von jeher angedichtet worden, anthropomorphische und selbst anthropophagische Züge. Auch das Christentum gibt dem Letzten, Höchsten, was wir suchen, solche Eigenschaften. Wir haben darin noch einen ungemeinen Rest von heidnischer Mythologie. Den Teufel nahm man aus dem Persischen. Und nicht genug damit. Der herrliche Charakter, der bewundernswert edle, reine, gemütsfreie, wohlwollende, liebevolle Mensch Jesus, der freilich Worte gesprochen, die ewig wahr sind: wir ruhten nicht, bis er ein Halbgott wurde, ein Sohn Gottes. Das ist heidnischer Einfluß. –

Unser Geist bildet sich das Ideal eines vollkommenen Menschen; er sammelt in sich die Vollkommenheit, die in allen Menschen irgendwie getrübt erscheint, zu einer reinen Vorstellung. Dieses ideale Bild in unserem Geist kann nicht historisch sein, das ist nicht möglich, sonst bricht Ihnen jeder Begriff eines Naturgesetzes zusammen, und es herrscht Wahnsinn. Die Wunder können nicht historisch sein. Und die Auferstehung? Sie ist ein Sinnbild der Wahrheit, daß der Geist nicht umzubringen ist. Dieses Sinnbild dient dem naiven Bewußtsein, kann aber kein Faktum sein. Aber wie gesagt: Die Volksreligion verwechselt Symbol und Realität und wird diejenigen immer verdammen, die die Symbole nicht für Thatsachen halten und mit der Waffe der Kritik aufzuzeigen suchen, daß sie es nicht sind.

Weiter! Die positive Religion ist bemüht, den Trost über die Uebel der Welt sich bildlich vorzustellen, indem sie sagt: hier nicht, aber anderswo kommt dann Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen. »Anderswo?« Wo denn? Die Naturwissenschaft zeigt, daß das Weltall, unendlich im Raum und in der Zeit, anderen Wesen keine Stelle gibt, als solchen, die, wenn sie leben, auch leiden müssen. Existieren heißt eben: in die Welt der Schranken hineingesetzt sein und gegen Uebel kämpfen. Ein anderes Einzelwesen gibt es nicht, wenn irgend ein Wort der Naturwissenschaft wahr sein soll. – Ein anderes Mal und anderswo, heißt es da. Das Schöne hingegen sagt: nein: hier und jetzt. –

Es gibt weder Himmel noch Hölle, oben und unten; damit dränge die ganze Mythologie herein. Das Christentum hat sich nicht genügen lassen mit einem Gott. Wie es seinen Begründer als zweiten Gott neben den ersten stellte, so erhob es Maria, nach uralten, vielleicht ägyptischen Vorstellungen zu einer Göttin. Aber dazu wurde noch der heilige Geist verkörpert; und so sind wir im Olymp. Die christliche Theologie hat drei Götter festgestellt und leugnet es wieder, indem sie diese drei Einen nennt; sie sagt: es sind drei, aber doch nicht drei. Also ein hölzernes Eisen. Das heißt: ja, es ist ein Eisen, aber dieses Eisen ist doch nur hölzern. Das läßt sich die positive Religion nicht nehmen; und so ist sie unfrei. So lange die Welt steht, werden sich nur blutwenige Menschen finden, die sich nicht dazu bekennen; und die Geschichte erzählt, wie es ihnen dafür geht. Aber allein nur die wahre, die freie Religion bricht den Egoismus, allein das Grundgefühl meiner absoluten Winzigkeit hilft mir das trotzige Ich durchbrechen. Die Positiven sind in ihrer Vorstellungsart unfrei, blind und daher verfolgungssüchtig. Tolerant ist allein, wer sich über die konfessionellen Gebiete hinaus in den Aether der reinen Religion erhebt. –

Um das in ihr enthaltene Grundgefühl zum Leben zu bringen, schuf also die positive Religion eine Bilderwelt, der sie gebunden gegenüber steht, als ob sie Wirklichkeit wäre. Und dabei bediente sie sich der Kunst. Aber sie mußte erfahren, daß sie an der Kunst eine Verräterin in ihrem Hause aufgezogen hatte. Die Götterbilder wurden schöner und schöner; und man mußte sich überzeugen, daß sie in ihrer vollendeten Schönheit nicht die Erbauung förderten. Das heißt: wenn jemand von einem Gottesdienst sich erbaut glaubt, der den reichsten Schmuck der Künste sich anlegt und alle Fülle ihrer Wirkungen aufbietet, so möge er sicher sein: es ist zum größten Teil Kunstfreude. Diese aber stimmt nicht religiös. Dem strengen Ernst der Religion gegenüber ist die Kunst zerstreuend. Wer an harmonischen Formen sich erfreut, ist nicht gestimmt, sich prüfend zu fragen: bist du ein Mensch, der wert ist zu leben? Das offenbart mir die Kunst nicht, sie ist zu heiter. Und deswegen ist es eine schwache Seele, die sich durch ein Gemisch von ästhetischen Reizen und Religionsvorstellungen hinüberziehen läßt aus einer ernsteren in eine durch Kunstfreude erheiterte Konfession. Pausanias berichtet in seiner Geschichte Griechenlands von uralten Bildern, die roh in der Form waren und recht gestreng aussahen, recht bös, und sagt: »diese sind heiliger als die neuen, schönen.« So werden die ganz alten düsteren Marienbilder als gnadenreich verehrt; sie erscheinen besser geeignet, den Menschen in sein Inneres zu werfen, als diejenigen mit freier, gefälliger, brillanter Form.

Und die Bilderstürme des 16. Jahrhunderts? Kein Freund der Kunst wird sie je entschuldigen, aber ein Körnchen Wahrheit ist dabei. Sie wurden freilich ausgeführt von rohen Menschen, die gar kein Kunstgefühl hatten, aber diese gingen aus von dem Gedanken: es sind Götzenbilder, die angebetet werden, Gegenstände des Götzendienstes; und da hatten sie recht. Als gebildete Menschen hätten sie gesagt: schaffen wir sie in ein Museum! aber sie waren eben roh. Heute ist es in der ganzen katholischen Welt so, daß die Kirchenbilder im Sinne des Götzendienstes verehrt werden. Da glaubt man: diese Maria thut Wunder, thut es mehr als eine andere u. dergl. Madonnenbilder erscheinen und verschwinden. Man gibt der heiligen Gestalt frisches Zeug; just wie im Altertum, wo die Götterbilder gewaschen wurden, neue Röcke bekamen, wie z. B. die Statue der Athene auf dem Parthenon. –

Aber jetzt betrachten Sie die Kunst für sich! Sie hat zwar ihre Bilder zu großem Teil gemein mit der Religion, aber als Kunst steht sie ihnen ganz anders gegenüber. Das Schöne ist ja freier Schein, bloßes Bild Siehe oben S. 50 ff.. Nehmen Sie irgend eine griechische Götterstatue, z. B. den Apollo. Wir betrachten ihn mit hoher Freude. Aber wir glauben ja nicht mehr an die Götter der Alten; es fällt uns nicht ein, zu meinen, es gebe wirklich einen Apollo. Und doch hat er für uns eine innere Wahrheit; wir sehen in ihm personifiziert die Herrlichkeit des Lichtes, das ein Symbol des Geistes ist, die Herrlichkeit der Klarheit des Geistes. Oder wir stehen mit einem der Andacht ähnlichen Gefühl vor der sixtinischen Madonna, aber es ist nicht identisch mit der Andacht kirchlicher Verehrung Siehe oben S. 83.. Wer sie anbetet, sieht ihre Schönheit nicht. Schönheit sehen ist etwas ganz anderes als im tiefen, dunklen Versöhnungsdrang eine Bildgestalt verwechseln mit einer Person, die es gibt, die da ist, an die man hinbeten kann. In dieser Art von Andacht betrachten wir die sixtinische Madonna nicht.

Es ist ein Gewinn für dieses Bild, daß es von seiner ursprünglichen Stelle, einer Klosterkirche in Piacenza, weggekommen ist. Dort würde es wie ehedem als Götzenbild angebetet. An seiner Statt befindet sich jetzt dort eine sehr mittelmäßige Kopie, und sie dient ihrem Zweck vielleicht besser. Es ist zwar eine unsaubere Geschichte, wie das Bild herausgebracht wurde (die Einleitung zum Dresdener Katalog gibt davon Bericht). Aber auf der anderen Seite wird es wohl recht sein und ein Glück, daß dieses Wunderwerk Raphaels in eine Kunsthalle versetzt ist, wo gebildete Menschen in der Stimmung der Kunstandacht vor ihm sitzen. Auch der Protestant und der ärgste Ketzer betrachtet es mit höchster Erhebung der Seele. Das kann man ganz wohl, ohne irgend zu glauben an die Dogmen von der Göttlichkeit der Mutterschaft Marias, ohne irgend zu glauben, daß Christus entsprungen sei gegen das Naturgesetz und daß sie dann in den Himmel aufgenommen worden sei. Man hat ihr ja dann alle Eigenschaften der alten Göttermutter beigelegt; sie ist Isis, Astarot, Cybele; sie ist die Himmelskönigin, die allgemeine weibliche Weltgottheit. Wir kümmern uns nicht im geringsten darum, und die sixtinische Madonna freut uns doch, sie ist uns, wie gesagt, ein Symbol der reinen Weiblichkeit, die im Mutterstande noch jungfräulich bleibt, und der Seligkeiten, die ein solches Weib empfindet. Sie hat so eine innere Wahrheit, ganz abgesehen davon, ob es eine solche Existenz gebe; das sind absolut zweierlei Sachen.

Hier sehen Sie also den Unterschied der Kunst von der positiven Religion. In der Kunst und überhaupt in der ästhetischen Stimmung befinden wir uns in freier Illusion. Im Hintergrund unseres Bewußtseins ist es ganz klar, daß wir den Gegenstand nicht wie eine Wirklichkeit zu nehmen haben; unser Gemüt bleibt hell und unabhängig von jenem Glauben, das Bild müsse eine Existenz sein. Daher ist es auch so gering, Kunstwerke, Dichtungen, Gemälde darauf hin anzusehen, wie viel davon wahr und wirklich geschehen ist, was wohl zu Grunde liegt aus dem Leben des Künstlers. Das sind lauter Fragen, welche stumpfe und kleinliche Menschen erheben. Die Kunst ist eine edle Lügnerin. Sie dichtet, und auch der Architekt dichtet. Diese Ornamente, diese stilisierten Pflanzen, Akanthusblätter, Voluten sind ja keine Wirklichkeit; das macht er uns eben vor, weil es wohlgefällig ausdrucksvolle Formen sind. Was wollen Sie mit dem ganzen Gebiet der berechtigten Phantastik anfangen, wenn Sie die Kunst auf Wahrheit examinieren.

Also freier Schein, täuschungslose Täuschung, wenn Sie die paradoxe Form erlauben!

Dann hat das ästhetische und künstlerische Vermögen vor dem religiösen noch einen anderen Vorzug. Die Religion auf ihrem strengen Standpunkt ist immer geneigt, die Sinnlichkeit zu verdammen; sie muß es, und ist es ihr nicht übelzunehmen. Ihr ist das Fleisch zu nichts nütze. Sie faßt und schüttelt den Menschen im sittlichen Sinn; es liegt ihr fern, seine Sinnlichkeit ins Schöne zu adeln. Sie hat immer Argwohn gegen diese Seite des Menschen, gibt keine Anleitung, unsere Sinnlichkeit auf ihrem eigenen Boden zu erziehen, zu läutern, zu vergeistigen, zu humanisieren, so daß sie ein Organ wird für den reinsten Inhalt der Seele. Aus ihr läßt sich schwer eine Pflicht folgern, unsere eigene körperliche Erscheinung so durchzubilden, daß wir in unserer Person einen menschenwürdigen Menschen darstellen; nur auf großen Umwegen wird es eingeräumt.

In diese Lücke tritt nun die Kunst. In ihrem Gebiet wird ja die Sinnlichkeit in ihrem eigenen Element erfaßt und zu einem Gefäß des seelischen Lebens geformt. Schiller hat diesen Gedanken in seiner Schrift »die ästhetische Erziehung des Menschen« durchgeführt. Eine Art Losungswort von ihm und Goethe war der Grundsatz: das ästhetische Ideal besteht darin, die menschliche Persönlichkeit so durchzubilden, daß der ganze Umfang ihrer Sinnlichkeit mit allen ihren Trieben und Empfindungen harmonisch zusammenstimmt mit ihrem höheren geistigen Leben, mit ihrer ethischen Gesinnung, daß das Gute Neigung wird und mit Grazie geschieht.

Aber noch etwas. Schiller hat in der genannten Schrift auch etwas zu viel Wert darauf gelegt, daß der Mensch ästhetisch erzogen werde, als ob ihn das so ohne weiteres auch zum Guten heranbilden würde. Er hat dann dieses Zuviel erkannt und »über die notwendigen Grenzen im Gebrauch schöner Formen« geschrieben. Ich möchte Ihnen raten, das nachzulesen, denn dort zeigt Schiller, wie eine nur ästhetische Erziehung den Menschen leicht verbildet, und zwar dahin, daß er die schönen Formen auf Kosten des Guten sucht, indem er z. B. statt mit der herben Wahrheit herauszurücken, angenehm höflich ist, indem er, um hier edel zu erscheinen, dort eine Pflicht verletzt. Dabei führt Schiller auch die verkehrten, falsch populären Erzeugnisse der Litteratur an. Sei nur ja kein Schöngeist, nur ja keiner von denen, die z. B. fähig sind, wenn das Vaterland in Gefahr steht, tändelnde Sonette zu dichten. Das ist ekelhafte Menschheitserscheinung! –

Denken Sie dabei auch an die einseitig ästhetische und humanitäre Richtung der italienischen Renaissance. Im Gegensatze dazu drang die deutsche Reformation auf eine einseitig ethische Konzentration; sie verwies den Menschen auf sein eigenes Inneres. Bist du, sagte sie, vom Gefühl der Schuld bewegt, so hast du das allein mit dir selbst abzumachen; es kann dir kein anderer helfen. –

So bleibt die Bedeutung der religiösen Sphäre bestehen, wenn auch die der Kunst dadurch, daß sie frei ist von jener dumpfen Bindung, die in der positiven Religion überall stattfindet, als eine relativ höhere Stufe erscheint. Das Schöne, die Kunst packt uns nicht so in den Tiefen wie die Religion, die uns den Blitz ins Innere wirft; das ist etwas anderes als die freie Heiterkeit der Kunst. Es braucht diese innerste Durchschüttelung des Menschen. Und so groß die Uebel sind, die sich an die blinde Intensität des Bilderglaubens und an die götzendienerische Stellung des Denkens gegenüber dem Bild knüpfen, das reine Grundwesen der Religion muß erhalten bleiben. Es ist ein gewisser Zug in unserer Zeit gegen die Religion, und dieser Zug ist verworren, denn da wird nicht unterschieden. Versteht man unter Religion die unfrei geglaubte Bilderwelt, so wird jeder denkende Mann bei dem Feldzug gegen sie mitthun, und wahr ist es, daß wir mit dieser Bilderwelt die Menschen, da sie doch durch die Naturwissenschaften so geweckt sind, nicht mehr erziehen können; dagegen sind sie gerüstet. Versteht man aber unter Religion das tragisch große Grundgefühl, das uns erhebt, indem es uns zermalmt: das darf den Menschen nicht genommen werden; nein, nein, die Religion müssen wir retten und die ihr zu Grunde liegende Ehrfurcht, die unserem Geschlechte verloren gehen will!

Jetzt fassen Sie wieder die Philosophie ins Auge, die Wissenschaft der Wissenschaften, die sich selbst über ihre Methode, ihren Umfang im Können und über die Gründe dieses Könnens Rechenschaft gibt. Sie ist die höchste unter den Sphären des Idealgebietes.

Religion, d. h. positive, volksphilosophische Religion, und Kunst brauchen Bild. Die reine Wissenschaft hat es dagegen zur Aufgabe, sich von allem Bildlichen frei zu halten, ganz scheinlos zu denken, ganz abstrakt, den Gedanken bloß als Gedanken zu fassen, also ganz abgekehrt vom Bild. Unter »abstrakt« stellt man sich häufig vor, was so zu belächeln sei, etwas Armes: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie« u. s. w. Man vergißt aber, daß Mephistopheles dieses gesagt hat. Rein abstrakt denken zu können, ist das Größte und Schwerste, was der menschliche Geist vermag, denn nur, wenn er alles Bildliche und Sinnliche entfernt, vermag er es. Da ist er als reiner Geist und in seinem reinen Elemente thätig; da ist er im Allgemeinen. Da sucht er das Wesen der Dinge; er sucht, »was die Welt im Innersten zusammenhält«.

Philosophie ist die Wissenschaft des Uebersinnlichen. Wenn man sagt »übersinnlich«, da denken die meisten Leute an etwas oberhalb der Sinnenwelt, das sie erst noch recht mit hübschen Figuren bevölkern. Aber das Uebersinnliche ist bildlos, und mit dem bildlos Uebersinnlichen hat es die Philosophie zu thun. Sie sucht auf dem Weg des strengen Begriffs sich klar zu machen, daß eine Einheit das Weltall beherrsche und daß dieses daher ein Geordnetes und Harmonisches sein müsse, sucht in der Form des Begriffs die Frage zu beantworten: was ist das Grundwesen aller Dinge? Da es nur ein Grundwesen aller Dinge geben kann, so sagt man dasselbe, wenn man sagt: die Philosophie sucht die Einheit aller Dinge. Sie sucht sie, wird aber das letzte Wort des Rätsels nie finden, und doch ist sie die höchste Thätigkeit des menschlichen Geistes, und selbst Mephistopheles muß sagen: »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft« etc.

Was ist das Grundwesen und die Einheit der Dinge? Es liegt nicht in unserem Wege, hierauf näher einzugehen. Ich will nur andeutend einiges hierüber bemerken. Im gegenwärtigen Stande der Wissenschaft sagen die einen: das absolute Grundwesen der Dinge ist die Materie. Aber da muß der Philosoph sich fragen: was ist Materie? Gibt es wirklich Materie? Sie löst sich vor seinem Denken in Formen und Kräfte auf. – Das heißt: über das Sinnliche übersinnlich denken. – Dann kommen die Physiker mit der Lehre von den Uratomen, und der Philosoph fragt wieder: ja was ist denn Atom? Und er findet, das Atom ist ein Unsinn, der sich nicht denken läßt. Damit meine ich nicht die Moleküle, ohne welche die Physik nicht schaffen kann. Transmikroskopisch kleine Teile der Materie annehmen heißt noch nicht das Ganze der Natur aus Atomen erklären, denn das Atom befindet sich noch hinter dem Molekül. Atom ist, was ich nicht teilen kann, und doch will es Materie sein. Das ist ein absoluter Widerspruch. Also gibt es keine Atome, also ist die Materie ein Schein.

Die anderen sagen nun: Das absolute, ewige Grundwesen aller Dinge ist der Geist. Da kommt aber die unendlich schwere Frage: wenn das Eine in Allem der Geist ist, wie kommt es dann, daß es eine Materie gibt, so dick und grob, daß man sich Beulen daran stößt? Allein dieses Geistige kann ja in der Materie selbst enthalten sein. Wenn die Materie ein Gehirn bauen kann, so muß hinter der Materie noch etwas anderes stecken. Jedoch, was ist nun Seele, Geist? Wie verhält sich die Seele zum Körper? Ist Seele eine eigene Substanz? Wie ist denkbar, daß sie mit dem Körper so fein vereinigt ist? Ist der menschliche Wille frei oder nicht? Da stehen wir vor den allerdunkelsten Rätseln.

Wir teilen die Erscheinungen der Materie ein nach Raum und Zeit. Aber was ist Raum und Zeit? Sind sie gegenständliche Sachen oder bloß in unserem Kopfe? Weiter. Wir verarbeiten alle Eindrücke nach gewissen Gesetzen, Kategorien, z. B. nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Alles ist Wirkung einer Ursache und wird wieder Ursache; es ist eine Kette. Ist dieses eine Wahrheit? Ist es in den Dingen, oder nur in unserem Kopfe? Wir sehen: es regnet, dann wird der Boden naß. Also Ursache und Wirkung. Das sehen wir aber nicht, absolut nicht; das denken wir hinzu. Der Kausalzusammenhang ist nicht als solcher sichtbar. Was wir sehen, ist bloß Regen, Nässe. Das innere Band sehen wir nicht. Also der Begriff Ursache und Wirkung ist in unserem Kopfe. Aber er ist auch Naturgesetz. Denkgesetze müssen doch auch Naturgesetze sein, sonst könnten die Astronomen unmöglich eine künftige Sonnenfinsternis voraussehen.

Läßt sich die Natur als ein Ding denken, als ein Ganzes, das von zwei Grundkräften durchdrungen ist? Kann ich den Begriff Zweck auf das Weltall anwenden oder nicht? Spinoza leugnet es. – –

Wer sich diese höchsten Fragen mit den gegebenen Vorstellungen der Volksreligion zu lösen gewohnt ist, wird sagen: Gott hat diese Dinge geschaffen, geordnet und leitet sie. Gott wird so als eine Person gedacht. Aber was ist Persönlichkeit? Ist sie nicht immer eine Einheit von Seele und Leib, ein mit Schranken behaftetes Ich? Kennen wir eine andere Persönlichkeit? Läßt sich eine andere denken? Eine Person ist beschränkt anderen gegenüber, die auch Personen sind. Wird also das Wesen Gottes nicht beschränkt, wenn wir es als ein persönliches fassen? – Dann das »Schaffen« selbst? Ein Ding verfertigen! Kann man diese aus der empirischen Welt hergenommene Vorstellung auf das ewige Wesen Gottes übertragen? – Die Antwort bitte ich Sie selbst zu suchen. –

Wir sind im idealen Gebiete, wo man Trost sucht, Erhebung über die Welt der unendlichen Schranken, über den ungelöst bleibenden Rest, über das Uebel. Wie hilft man sich?

Ich glaube, daß die Lösung liegen muß im Begriff der ewigen Bewegung und habe schon davon gesprochen, als wir mit dem Begriffe Vollkommenheit beschäftigt waren. Das unbedingte, ewige Grundwesen der Welt ist kein Stoff, sondern ein ewig lebendig Bewegtes. Der Geist, der absolute Bewegung ist, kann nicht anders wirken als in ewigem Lösen und Setzen von Schranken. Ewiger Sieg und ewiger Kampf. – Dort ungefähr kann die Lösung liegen. Ich kenne den völlig ungenügenden Charakter derselben wohl. Ich bringe das alles nur, um Ihnen klar zu machen, wie die Philosophie ein Gebiet der unerbittlich strengen Begriffe ist.

Die Geschichte wird der Philosoph betrachten auf dem Standpunkt der Frage, ob sich in dieser großen Bewegung der Menschheit ein Entwickelungsgesetz, eine innere Ordnung nachweisen läßt. Das nennen wir Philosophie der Geschichte. – Wäre das nachzuweisen, so könnte man die Geschichte auffassen wie ein großes Drama, worin die Völker ihre Rollen spielen. – Nun ist das zugleich ein Versuch, die moralischen und natürlichen Uebel in der Welt zu erklären; denn wenn sie schließlich eine wahre Macht sind, so ist es aus mit einer inneren Ordnung im Gang der Dinge. Die Philosophie wird immer zu verstehen haben, daß die Weltgeschichte trotz allem Nebel eine Bewegung ist, die nach ewigen, ihr geheimnisvoll innewohnenden Gesetzen erfolgt. Und sie wird immer zu finden und zu zeigen streben, was ich Ihnen im Zusammenhang des Paragraphen 8 sagte: daß das Vollkommene zwar in keiner Zeit und an keinem Ort für sich auftritt, aber daß es durch alle Kämpfe und alle Räume in der Form ewigen Strebens hindurchgeht Vgl. S. 144..

Wenn die Philosophie das glaubhaft machen kann, so kommt sie nun mit dem reinen Begriff dort an, wo die Kunst eintrifft, da ja alles Schöne eine Ahnung von einem harmonischen Weltall gibt.

Die höchste Leistung des Menschen, sage ich, ist das ganz abstrakte Denken, und so stelle ich die Philosophie zu oberst in dem Idealgebiet, dem auch die Religion und die Kunst angehören. Aber wenn sie auch die höchste Stufe bildet, so sind deshalb die anderen nicht als entbehrlich zu betrachten. Sie ist kein Aequivalent für Kunst oder Religion. Wie viele gibt es in der Welt, die so abstrakt zu denken und so ganz wie der strenge Philosoph die Phantasie zurückzuhalten vermögen? Wenn nur dieser sich die Ruhe der Seele erwerben könnte, stünde es übel mit der übrigen Menschheit. – Und sein reines Denken, es ist ja auch ein Opfer. Er erkauft es mit Vernachlässigung seines sinnlichen Menschentums. Schiller schreibt an Goethe: »der Poet ist der ganze Mensch, der Philosoph ist immer nur der halbe.« Ist wahr und nicht wahr. Der Philosoph wird auf der Seite der schönen Formen immer etwas einbüßen und wird sehr verpflichtet sein, durch Kunstbildung nachzuholen, was ihm hierin fehlt. Wie verhalten sich nun Philosophie und Kunst in ihrem Wertmaß? Ein einzelner Gedanke ist wohl nie so bedeutend wie eine einzelne Aeußerung der Kunst; er bildet kein Ganzes wie ein Kunstwerk. Die Philosophie hat es ja zu thun mit Begriffen, die ihren Wert nur in ihrem vollen Zusammenhange haben. Nehmen Sie nun aber die Weltanschauung eines großen Philosophen überhaupt, so bleibt dagegen ein klassisches Kunstgebilde doch zurück. Der geniale Denker überragt den genialen Künstler; und die Philosophie, als Gesamtthätigkeit, steht höher als die Kunstwelt. Den Vorrang hat doch die Kraft, die einer anderen, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade, in ihr Geheimnis blickt.

Daß das Schaffen des Künstlers im tiefsten Grund unbewußt ist, kam schon zur Spracher Vgl. oben S. 8.. Die Philosophie nun kann, als Psychologie der Phantasie, einen Begriff geben, von dieser Art zu schaffen, wenn sie es auch niemals ganz ergründen wird; sie sieht dem Künstler und Dichter in seine Werkstatt hinein; und eben darin bewährt sich ihre Ueberlegenheit.

Wie verhält sich nun aber das Schöne zum Guten? Oder die Aesthetik zur Ethik? – Ich sage nicht gern: Moral. Der Begriff moralisch hat sich etwas verengt, so daß man dabei nur an das Privatleben denkt. –

Im ethischen Gebiet ist die Losung Kampf. Das Gute ist ja ein Kampf, denn es steht dem Uebel gegenüber. Es ist das Gebiet des ewig ungelösten, des ewig nie ganz geschehenden Sollens. Da nun aber das Schöne im Elemente des Vollkommenen wohnt, so schwebt es über dem Ethischen. Wir haben uns ja schon seiner idealen Wirkung erinnert. In seinem Anblick dünkt uns alles erfüllt, dünkt uns die Welt klar und durchsichtig; wir suchen nicht erst etwas zu erreichen oder zu erkennen; es gibt kein Geschäft, keine Arbeit mehr Vgl. oben S. 4, 19, 20, 143, 148. Vgl. Fr. Vischer, Kritische Gänge, N. F. II, 5, 26, 27. A. d. H.. – Absolut getrennt können aber diese Gebiete nicht sein. Was ist nun das Verhältnis?

Was ethisch gut ist und wertvoll, ist darum nicht schön; Und was schön ist, braucht deshalb nicht durchaus ethisch zu sein. Der Tanz ist nicht ethisch und nicht unethisch, er ist eben ein Vergnügen, das sich in harmonischen, also schönen Formen bewegt. Das Ballett braucht nicht so zu sein, wie es jetzt ist. So, wie es sein soll, gibt es ein herrliches Bild vom Rhythmus. – Wer meint, zur Kunst und zum Schönen mit dem moralischen Ellenmaß in der Hand treten zu können, was sagt der dann zu dem süßen Spiel der Muse Anakreons? Oder zu Schillers heiterem Liebeslied »Erwartung«? Dann zu all den kreuzlustigen Trinkliedern, z. B. zu denen von Scheffel! Wo ist denn da die Moral? Und doch wird das jedem freien Gemüte gefallen An die graziös im Leichtsinn schwebenden Lieder Goethes haben wir uns schon erinnert (S. 41)..

Der Unterschied zwischen dem ethischen und dem ästhetischen Gebiet ist ja ganz einfach der: hier kommt alles darauf an, wie es sich darstellt, und dort kommt alles darauf an, daß etwas geschehe. Eine Lebensrettung z. B. ist eine sittliche That, und der Künstler kann sie gar nicht brauchen, wenn dabei nicht irgend eine ästhetisch wirksame Gruppe von Bewegungen und Stellungen vorkommt.

Wir kommen damit auf ein Thema zurück, das uns, in anderem Zusammenhang, bereits beschäftigt hat; und ich wiederhole: Die Moral wird sehr fehl gehen, wenn sie, in Uebereinstimmung mit asketischer Religion, die Sinnlichkeit für etwas an sich Schlechtes hält und die menschlichen Triebe, die unmittelbaren Naturgefühle, verdammt. Auf diesem Boden hat sich stets nur eine ungesunde Moral aufgebaut. Aber, wie gesagt, nun hat es die Geschichte, die Folge der menschlichen Leidenschaften, der Komplex der Verhältnisse, eine unendliche Summe von Erfahrungen mit sich gebracht, daß die Triebe einer Erziehung zu unterwerfen sind, weil sie sonst, obwohl ursprünglich gut, durch Maßlosigkeit zu unserem Verderben ausschlagen Vgl. oben S. 40.. Es ist der Standpunkt der Pflicht, welche sagt: du sollst deinem Naturtrieb mißtrauen und ihn zügeln. So hat die Menschheit über ihrem Naturleben, oberhalb der Welt ihrer sinnlichen Kräfte, ein höheres Stockwerk aufgerichtet: die Ehe, die Familie, die sittliche und bürgerliche Ordnung, den Organismus des Staates. Mit dieser Obergewalt gerät die Sinnlichkeit, die liebe Natur gar leicht in Widerstreit. Die Geschlechtsliebe ist an sich nichts Schlimmes, sie kann aber mit den sittlichen Gesetzen, mit der bürgerlichen Ordnung in furchtbare Konflikte kommen; und diese Möglichkeit wird auf dem Standpunkte ethischer Strenge stets befürchtet. Der Zweck der Moral ist aber, auf einer Höhe anzukommen, wo die Sinnlichkeit so erzogen ist, daß sie diesen Pflichten von selbst sich fügt, auf einer Höhe, wo das Gute zur Neigung wird, Sittengesetz und natürliche Lust übereinstimmen. Das ist die Tugend.

So viel in aller Kürze. Jetzt wieder zum Schönen! Wir haben schon gesehen: Dieses stellt sich gern und viel ungenierter, als die Moral je es kann, auf den Standpunkt, daß die Natur an sich gut ist. Daher liebt es eine paradiesische Welt, wo sich die Sinnlichkeit ergehen darf, ohne daß Sünde daraus wird. Im Schönen heißt es wie in einem Tiroler Lied: »Auf der Alm, da gibt's kei Polizei.« Alles Schöne hat ein harmloses Gebiet sinnlicher Freude; und hierin hängt es noch zusammen mit der Moral; es bewegt sich gerne und einlässig da, wo die Sinnlichkeit unschuldig ist, und läßt ihr freie Hand. »Wo man singt, da laß dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.« Lesen Sie auch einmal Uhlands Metzelsuppenlied! Da wird es uns urwohl mit den fröhlich Schmausenden, und niemand denkt dabei an Gemeinheit. – Das Schöne löst auch die Fesseln der Scham und mißachtet die Gesetze der im wirklichen Leben nötigen Decenz. Dem Künstler die Darstellung des Nackten und heitere Bilder der Liebe wehren zu wollen, wäre eine Tötung aller Kunst und so verwerflich, daß man darüber gar kein Wort verlieren kann. Wie sollte er das Wundergebilde des menschlichen Körpers entbehren können. Wenn er in frohem Weltmut jene Naturwonne walten läßt, die den Alten gegeben war, griechische Heiterkeit, aphroditischen Reiz, dionysische Lust, wer mag es ihm verdenken? Nehmen Sie Danneckers herrliches Werk, die Ariadne: Nackt sitzt sie auf dem Panther, mit einer römisch stolzen Frechheit, wie sie gründlicher nicht sein könnte. –

Aber es gibt auch eine Grenze. Wenn die Kunst und Poesie sich diese freie Sphäre ausbedingt und schafft, so soll sie uns in der Stimmung halten, daß wir ganz und ausnahmslos in einem Zustand sind, wo man nicht an die Konflikte des Sinnlichen mit der moralischen Ordnung zu denken braucht. Gewiß: Die Sinnlichkeit ist an sich nicht gemein, aber plötzlich wird es anders, wenn ein Künstler solcher Art aus der Rolle fällt und in die Wirklichkeit hinüberschielt, wenn er die Grundsätze und Gebräuche des Anstands, der Verhüllung, der Schamhaftigkeit, wie sie haben entstehen müssen in der menschlichen Gesellschaft, doch wieder als giltig annimmt, und auf die Geschlechtsbegierde mit prickelnden Reizen wirkt, indem er da und dort einen Schleier lüftet; dann sind wir nicht mehr in harmloser Stimmung. Das ist falsche Kunst, die polizeilich zu verfolgen ist im Rainen der Völkerpädagogik. Gegen Makarts Diana ist nichts zu sagen. Dort mag das Nackte walten, wie es will; dort sind wir im Olymp unter Göttern. Aber mitten in bürgerlicher Welt, wo alles verhüllt ist, mitten unter Landsknechten nackte Mädchen mitlaufen lassen, wie es Makart thut in seinem Einzug Karls V., das ist abscheulich, wie schön es auch gemalt sein mag. So darf man den moralischen Standpunkt nicht aus den Augen verlieren. Auch Wieland (ein ganz guter Knabe sonst) liebt es, mitten in der Welt der Decenz den Schleier zu lüften, prickelnde Reize wirken zu lassen; und da überschreitet er die Grenzen der dem Schönen gewährten Freiheit (wenn er uns auch immer wieder durch seine Bonhomie versöhnt); da wird er, ich will nicht sagen: unsittlich – wir sind ja in der Aesthetik –, sondern: unschön. Das Unsittliche wird immer auch zum Häßlichen Vgl. oben 42.. Die Predigt, daß das Schöne ein paradiesisches Gebiet habe – und nur Zeloten werden das nicht dulden wollen – gibt keinen Freibrief für die Pikanterie einer verdorbenen Kunst und verdorbenen Sitte, gilt wahrhaft nicht dem Krebsschaden: den Cafés chantants, wo die Jugend in Massen dem frech sich enthüllenden Weib gegenübersitzt, das in näselnden Lauten schlüpfrige Verse singt. – –

Wir haben gesehen, wie die Kunst im Elemente der unverfänglichen Sinnlichkeit noch mit der Moral zusammenhängt. Aber sie kann dem Gehalt nach tiefer gehen und der Moral in das Gebiet der Pflichten hinüberfolgen. Da gibt sie nun ein Bild der sittlichen Konflikte im Leben. Sie schildert in Dramen, Epen, Romanen, wie der Mensch der Leidenschaft verfällt und schuldig wird. – Aber wie gern wird der Dichter auch eine Seele darstellen, die das Gute aus Neigung thut. Und nie wird er vergessen, daß er es in diesem Gebiete mit einer Weltordnung zu thun hat, worin die Kämpfe und Gegensätze als gelöst erscheinen; er wird sich zu einem Schlußaccord hinbewegen. Nehmen Sie z. B. Goethes Faust. Manche haben ihren unsaubern Kitzel, wenn Mephistopheles seine pikanten Anspielungen macht; sie denken nicht daran, wie das Drama weiter läuft, wie es dem armen Gretchen geht, das sich dem schönen Gefühl der Liebe hingegeben hat. Wo sich eine Handlung so verwickelt, da wird es Ernst! Da hat der Dichter Furchtbares zu schildern. Wenn er in seinem sittlichen Grundgefühl nicht lauter ist, so wird er da etwas auch in der Form Unschönes machen. Da also kommen erst die höheren Interessen der Kunst, und da geht sie auf ihre Weise mit der Moral und mit der Religion. In seiner höchsten Form, in der tragischen Poesie, wird das Schöne ethisch und religiös erscheinen. Die Tragödie zeigt die Ideale, nach denen der Mensch zu handeln hat, zeigt, wie er fehlt, wie er frevelt, wie er dafür leidet und wie dieses Leiden, auch wo es in einem Unverhältnis zur Schuld steht, unsere Ehrfurcht verlangt als Ausfluß einer Weltordnung. Und so kehrt die Kunst in dieser ihrer höchsten Form mit der Moral zur Religion zurück. Die echte Tragödie ist religiös, aber ohne Kanzel und Pfarrer. Die Predigt ist da im ganzen Gange der Handlung enthalten. So in der Orestie von Sophokles, in Schillers Braut von Messina und Wallenstein. Die Tragödie gibt uns auf ihre Weise das Grundgefühl, daß wir verschwinden vor dem unendlichen Ganzen; sie erschüttert uns durch die Majestät des Schicksals.

Nie ist in der Kunst und in der Poesie einer eine Größe geworden, der nicht Kaliber gehabt hat. Kaliber: den Ausdruck wähl' ich gern, um das gewisse Wuchtige einer bedeutenden Persönlichkeit auszudrücken. Wir werden nicht die Pedanten sein, dem Künstler die Stürme des Lebens nachzurechnen, aber im Großen muß er ein Charakter gewesen sein.

Die großen Dichter hatten immer ethische Wucht. In den Tragödien von Aeschylos, Sophokles, Shakespeare, welch ungeheurer Ernst, welche Wahrheit und welches Grundgefühl der sittlichen Lebensmacht, ohne daß auch nur ein einziges Wort einen pastoralen Geschmack hätte! Wie mächtig frei sind wir solchem Verkündigen der höchsten Wahrheit gegenüber!

Wahrheit. Wie verhält sich zu ihr die Schönheit? Was wahr ist, das ist darum noch lange nicht schön. Gedankengehalt an sich ist noch lange nicht Schönheit. In dem Ausdruck: »schöne Gedanken« nimmt man das Wort ungenau, sonst müßte der gedankenreichste Mensch zugleich Künstler sein. Die Kunst, das Schöne will ja nicht lehren, das ist der Wissenschaft, der Schule, der Predigt überlassen Vgl. oben S. 44, 45.. Trotzdem aber sagen wir: das Schöne, obwohl ein Schein, ein bloßes Bild, ist doch kein unwahrer Schein, kein leeres Bild, sondern ein Schein, ein Bild mit einem Wahrheitskern; was wir in diesem Zusammenhang lieber Erscheinung nennen wollen.

Das Schöne hat zunächst nicht nach der Wahrheit zu fragen, also nicht nach den Naturgesetzen. Wenn nur Wahres im Schönen wäre, dann gäbe es keine Märchen, keine Elfen, Drachen, Zwerge, Teufel etc.; das sind ja in der Natur lauter unmögliche Dinge. Also um die äußere Wahrheit handelt es sich nicht im Schönen, auch nicht um die geschichtliche, aber um die innere Wahrheit. Alles Schöne ist innerlich wahr, führt uns, ohne zu dozieren, einen in seine harmonischen Formen eingesenkten, eingezauberten wahren Lebensgehalt zu. Der menschliche Körper wird geschildert mit dem Ausdruck seiner inneren Zweckmäßigkeit, mit der ganzen Energie seiner Natur. So selbst in der kleinsten Skizze oder Studie, z. B. von Michelangelo. Auch in anderem führt das Schöne mittelbar nur den Menschen vor. Nichts ist schön, was nicht innere menschliche Seelenwahrheit zu fühlen gibt. Das Schöne ist ja immer persönlich Vgl. oben S. 90 ff.. Wenn es diesen inneren Wahrheitskern nicht hat, so wird es mit Ausdrücken beurteilt, die aus dem Wahrheitsleben genommen sind. Dann sagen wir: dieser Künstler lügt. Ich wiederhole also: das Schöne ist ein Schein, aber dieser Schein als Schein soll wahr sein. Ein Bildhauer, der mit gefärbtem Marmor schafft, lügt. Ein Maler, der mit süßlichen Farben malt, lügt. Ein Haus mit fünf Zoll dicken Balken wird vom Stuccator ebenfalls zu einem Prachtbau hinausgelogen. So mancher mit Zementschmuck aufgestutzte Riegelbau ist eine künstlerische Lüge. Ein Dichter, der Schönphrasen anwendet und verbrauchte Redeblümchen, die den Philister entzücken, lügt; wie z. B. Redwitz in seinem Amaranth. Solche Lavendel- und Süßholzbrühen verderben jeden Magen. Mörike berichtet uns, wie er sich die Gedärme erschlafft an dem süßen, saft- und kraftlosen Zeug von Dichterlingen, wie er dann einen großen Rettich herausgezogen:

»Ich fraß ihn auf bis auf den Schwanz,
Da war ich wieder frisch und genesen ganz.«


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