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§ 5.

Stoff ist 1. sinnliche Materie, 2. der Gegenstand, wie er ungesichtet vorliegt (Süjet), 3. der Lebensgehalt in diesem Gegenstand. Abstrahiert wird im Schönen von 1 und 2, nicht von 3. Zu diesem, zum Lebensgehalt, schlägt sich der Geist des Auffassenden und vollzieht an ihm einen schöpferisch umbildenden Akt. Dieser Akt ist zugleich der formbildende, harmonische Form herstellende. Daher ist die Form wesentlich qualitativ, von freiem Leben durchdrungen. Wo sie ganz meßbar ist, gewinnt sie den qualitativen Charakter durch eine eigentümliche Art der Symbolik, eines unbewußten Einfühlens der Seele; ebenso alle an sich unbeseelte Erscheinung. So offenbart sich in der Form das innere Wesen und Leben des Gegenstandes, wie er ist, nachdem der Geist des Auffassenden (des Zuschauers und Künstlers) sich in ihn gelegt und ihn zu seinem Eigentum gemacht hat. Das Was ist aufgegangen in Wie. Ausdrucksvolle Form, formgewordener Ausdruck. Einheit von Ausdruck und Harmonie oder mimisch harmonische Form. Demgemäß ist die Lust in der Anschauung reine Einheit idealer und sinnlicher Lust. Die Ausschließung des Interesses bestimmt sich nun näher zu dem Satze: es waltet interesseloses Interesse (Spiel).

 

Ich habe vieles zusammengenommen; es sind aber lauter Punkte, die ich nicht trennen kann: Was und Wie, Stoff und Form. Wir haben gesehen, daß die Nachfolger Herbarts, die Formalisten sagen: Alles im Schönen ist bloßes Verhältnis. Wollen wir nun zurechtkommen, so müssen wir haarscharf unterscheiden: Inhalt oder Stoff und Form. Wo hört jener auf? Wo fängt diese an? Das gehört zu den schwersten Fragen in der Philosophie. Gemeinhin denkt man z. B.: die Form ist der Vers, der Inhalt ist der Gedanke. Aber die Form reicht hinein bis ins Mark des Gedankens; und der Gedanke wirkt hinaus bis ins Aeußerste der Form; das Seziermesser weiß da nicht zu trennen. Um uns über das Wesen des Schönen klarer zu werden, müssen wir also auch näher eingehen auf das Was im Wie, auf das in der Form Enthaltene. Wir nennen es zusammenfassend Stoff; und die verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes habe ich schulmeisterlich gegeben in Zahlen: 1, 2, 3. Zunächst denken wir dabei an Materie. Was eigentlich Materie ist, darauf wollen wir uns hier nicht einlassen, das gehört in die Philosophie und führt geradezu bis an das Geheimnis der Welt. Genug, es scheint uns einmal, als gäbe es Materie, es kommt uns vor, als ob das etwas ganz Dickes sei. Doch wir haben gesehen, daß im Schönen davon abstrahiert wird. Sie erinnern sich: bei der ästhetischen Betrachtung einer Gegend ziehen wir gleichsam die farbige Oberfläche hervor und lassen weg, was dahinter liegt. Wir fragen nicht nach der Textur eines Baums, nach dem Korn eines Steins. Zwar, es wirkt dies doch mit, aber wir fragen nicht danach, was innen drinnen ist, sondern nach dem Aussehen, es kommt uns darauf an, wie die Anordnung dieser Stoffe in der gesamten Erscheinung ihrer Oberfläche wirkt. So auch im Gebiete der Kunst. Da fragen wir, wie gesagt, wenig nach dem Material, dem verwendeten Stein, Metall, Holz, Farbstoffs Vgl. oben S. 53.. In der Musik werden uns die vibrierenden Instrumente und die hierdurch in Schwingung versetzten Luftkörper nicht bewußt. In der Poesie kümmert uns nicht der Apparat, den der Dichter ja gar nicht zeigt. Zum Beispiel: statt »es trat ein Mensch zur Thüre hinein« wird der Dichter nicht sagen »ein Wesen aus Knochen, Blutgefäßen, Fleisch, Muskeln, Sehnen« u. s. w. Und statt »es wurde jemand erstochen« sagt er nicht: »geschärfter Stahl wurde in seinen Leib gestoßen«. Die stoffliche Beschaffenheit einer Sache, das mechanische Triebwerk, die Werkstätte eines Vorgangs, einer Handlung wird nicht von ihm bloßgelegt und erörtert. Er zählt nicht alle Faktoren auf. Der sinnliche Stoff geht im Schönen nur verhüllt mit. Es ist freilich nicht dasselbe, ob eine Statue von Marmor oder von Bronze ist; wir fühlen ihr inneres Stoffgefüge in der Oberfläche mit heraus. Aber eben nur in der Oberfläche. Wir abstrahieren vom Durchmesser und haben allein den Aufriß im Auge, das Ganze der Oberfläche, wie sie ist als Produkt der innerlich wirkenden physiologisch-psychologischen Kräfte. Also Stoff im ersten Sinne, in der materiellen Bedeutung, kommt hier nicht in Betracht. Darin hätten die Formalisten recht.

Wir brauchen aber (zweitens) das Wort Stoff auch in der Bedeutung von Süjet, Thema, Vorwurf, Objekt und meinen damit den Gegenstand, wie ihn der Künstler oder der ästhetisch auffassende Laie vorfindet. Zum Beispiel: Als Schiller seinen Wallenstein dichtete, diente ihm die bekannte Geschichte dieses Mannes zum Stoff im Sinne des Gegenstands. Es war aber dieser Stoff ein großes Konvolut von allerhand historischem Material, das außerordentlich schwer zu ordnen war, und es kann gar keine Frage sein, daß darin die Ursache der Schönheit dieses Stücks nicht zu suchen ist.

Jedoch der Stoff, als Süjet genommen, bringt ja einen Inhalt mit sich. Wir finden in dem äußerlich Gegebenen, Faktischen einen Sinn, wirksame Ideen, Kräfte, einen Lebensgehalt. Die Geschichte von Egmont ist mit ihren Ereignissen der Gegenstand, das Süjet von Goethes Drama. Ihre innere Bedeutung bilden aber die freien Regungen einer Nation gegen Despotismus. Also Stoff als Lebensgehalt. Das ist nun etwas anderes, das ist ein Drittes, das für sich zu betrachten ist. Der Lebensgehalt im historischen Stoff Wallenstein ist die zum Verbrechen schreitende Selbstüberhebung; und diesen Kern hat Schiller nicht weggelassen, sondern gefaßt; er scheint aus seinem Werk hervor wie aus einem durchsichtigen Körper. Aber Schiller hat die Kraft dieses Inhalts poetisch gesteigert; und er mußte zu diesem Zweck seinem Helden Züge leihen, die er in Wirklichkeit nicht besaß. Da sehen wir, daß das Kunstwerk auch im Lebensgehalt des Gegenstandes noch nicht begründet ist.

Der Paragraph sagt: Zum Lebensgehalt schlägt sich der Geist des Auffassenden und vollzieht an ihm einen schöpferisch umbildenden Akt. Der Auffassende vereint sich mit ihm, versenkt sich in ihn. Der Auffassende? Da könnte einer sagen: nein, der Künstler. Aber ich muß außer dem Künstler noch hinzunehmen den ästhetisch begabten Laien, der das Kunstwerk auch versteht und der irgend etwas als schön vorfindet, was nicht die Kunst, sondern die Natur bietet. Also die Auffassenden sind der Künstler, der schafft, und der Laie, der anschaut. Das Süjet, das Thema, der Gegenstand wird nun erst unendlich vertieft und erhöht, multipliziert, bereichert, geadelt durch die wahrhaft geistvolle ästhetische Auffassung und natürlich am meisten durch die Genies in Kunst und Dichtung.

Man kann sich das auch klar machen an der Art, wie sie sagenhafte Stoffe behandeln. Sage ist Geschichte, die bereits durch die Volksphantasie umgebildet worden, bereits durch dieselbe hindurchgegangen ist. Doch wenn ein Dichter auch solche vorteilhafte Stoffe vorfindet, so wird sich erst noch fragen, was er daraus macht. Vergleichen Sie nur die Faustsage und Goethes Faust. Der Doktor Faust der Sage empört sich gegen Gott, sagt sich von allen Heiligen los, wird Zauberer durch seinen Bund mit der Hölle und verfällt ihr schließlich. Das ist das Thema, das Goethe vorfand. Aber sehen Sie nun, was er daraus geschaffen, was er dazu gethan. Faust ist ja in Goethes Werk ein ganz anderer geworden, ein unendlich hochgestimmter, in seinem Idealismus sich überstürzender Titane, der alles erkennen, erstürmen, der die ganze Menschheit, ihr Wohl und Wehe durchkosten will. Er darf nicht zur Hölle fahren, weil sein Streben edel ist. Es wird ihn durch Schuld führen, aber er wird geläutert hervorgehen, mit seinem Idealismus den rechten Realismus vereinen, er wird Maß finden, er wird Mann werden. Das hat Goethe aus der Sage gemacht, die davon nichts, oder doch nur die allergeringsten Anklänge enthält.

Iphigenie ist auch ein Sagenstoff; und Goethe hat ihn sogar schon künstlerisch behandelt vorgefunden. Aber des Euripides Iphigenie verhält sich zu Goethes wie roher Stoff zu einem Kunstwerk. So rein hat Goethe den Adel der Wahrhaftigkeit, der schön menschlichen Empfindung hineingelegt, so rein, wie er in einem altgriechischen Werk noch nicht walten kann.

So wird der Gegenstand eigentlich Werk des Geistes, der ihn genial auffaßt. Es sagte neulich einer: »das Schöne, das ist der Geist des Künstlers.« – Und der Laie? Bringt er nicht einen kongenialen Sinn mit, so erfaßt er nicht, was er sieht, hört, liest. Er muß die Schöpfung des Gegenstandes von neuem vornehmen, wenn er für ihn etwas sein soll. Die schönste Landschaft, das glühendste Abendrot ist dem Gleichgültigen Null, dem toten Auge tot. Dies liegt nicht in der Sache, sondern im Auffassenden. Unser richtig fühlendes Schauen schafft die Schönheit darin. Wir müssen aus unserem Inneren das Wesentliche hinzubringen.

Jetzt kommen wir wieder zur Form; und wir erinnern uns an jenen Satz des Formalisten: das Schöne ist nur Verhältnis, und wenn noch ein bedeutender Inhalt dazu kommt, so ist das wohl recht willkommen, aber dort liegt nicht das spezifisch Aesthetische, sondern dies ist ein hinzukommender zweiter Wert außerästhetischer Art.

Ich sage nun dagegen: Der Geist, der sich in einen gegebenen Gegenstand innig versenkt hat und ihn schöpferisch umbildet, ist dieselbe Kraft, welche auch die Formen bildet. Denken Sie z. B. an die Sixtinische Madonna Raphaels. Der Gegenstand, die Aufgabe war von den Mönchen des Klosters San Sisto angegeben. Sie sagten Raphael: du sollst eine Madonna malen, wie sie aus dem Himmel auf die Bitte des Papstes Sixtus hervortritt, dem Kloster die Gnade Gottes versichernd. So lag ihm der Gegenstand vor, und es gehörte dazu natürlich der katholische Glaube an die Maria. Raphael malte sie nun, wie sie ganz verzückt einherschwebt. Man sieht ihr an, sie kommt vom Himmel. Auch dem Kind sieht man es an. Dieser Ausdruck sagt: ich schwimme in einem seligen Meer von Wundern, die niemals ein Auge geschaut. Und durch den erhabenen Faltenwurf ihres Gewandes geht ein Wehen, das wesentlich beiträgt zu dem Gefühl des Herschwebens aus den geöffneten Herrlichkeiten des Himmels. Es ist also derselbe Künstlergeist, der sich hier im Sinne der Bestellung so innig in das Madonnenideal, in die Vorstellung ihres verzückten Herschwebens vertieft, und der hier die Formen so großartig gebildet hat. Das ist nicht nur ein Künstler, der gut malen kann; er ist derselbe, der diesen seligen Traum in sich erlebt.

Die Götter der Alten waren in der Volksphantasie ursprünglich nicht so schön, wie wir sie durch Künstler und Dichter kennen. Ein Grieche sagte: Homer und die Dichter haben den Griechen ihre Götter gegeben. Er hätte hinzusetzen können: sowie die Bildner und Maler. Sie haben aus sehr ungeschlachten Vorstellungen durch ihre Kunst die Gestalten erst erhoben, die so herrlich sind. Gehaltvertiefung und Formerhöhung, Gehalterhöhung und Formschaffung ist alles eine Kraft im Künstler. Einheit in Gehalt und Form also, nicht zwei Werte!

Der Paragraph sagt nun: »daher ist die Form wesentlich qualitativ und von freiem Leben durchdrungen.« Das Qualitative im Schönen ist freier Ausdruck des Lebensgehalts in der Form. Alles Schöne hat den Charakter der Freiheit, der Selbstgenügsamkeit. »Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst«, sagt Mörike in einem Gedicht (auf eine Lampe). Schönes entsteht nur, wenn ein ganzer voller Mensch sein inneres Wesen, das Geheimnis seiner Seele, in einen Gegenstand getaucht hat. So wird das Kunstwerk ein zaubrisch Beseeltes, daher ein Freies, das wie ein Planet um seine eigene Achse sich bewegt und sein eigenes Leben hat. So schließt das Schöne alles Gezwungene aus Rosenkranz definiert (in seiner Aesthetik des Häßlichen) das Schöne als die Idee, wie sie im Elemente des Sinnlichen als die freie Gestaltung einer harmonischen Totalität sich auswirkt..

Aber wie denn? Wo ist das Freibewegte in der Architektur, die doch so ganz gemessen ist? Antwort: Eben da, wo das Freibewegte in ihr waltet. Der beste Meßkünstler würde als solcher noch kein schönes Gebäude bauen können; das kann bloß der, welcher die Formen so behandelt, daß sie aussehen wie frei sich bewegende Kräfte, so daß diese Säule zu steigen, diese Wölbung sich zu schwingen, das Ganze zu leben scheint.

In der Skulptur wird man keine Gestalt ertragen, die soldatisch straff dasteht; alles Kommandierte sieht hier unerträglich aus. Das geht nur in einem Zusammenhang. In einem Bild kann man wohl das Stramme mitwirken lassen, natürlich. Aber es kommt dann Anderes hinzu, was freie Bewegung hat. An einer Statue erfreut uns ganz besonders das, was die Franzosen legèreté nennen, das freie, zufällige Spiel der natürlichen Nachlässigkeit.

Wenn an einem Baum die Zweige und Aeste sich ballen wie zu einem Korb, dann ist er als solcher nicht gefällig. Schwungvoll ausgreifende und fein zerteilte Formen machen da das Schöne.

Ein Lieblingsgegenstand der Kunst sind namentlich feurige Tiere, die nicht gern dem Menschen dienen. Im Buch Hiob gibt eine herrliche Stelle über die gewaltigen Tiere das höchste Bild des Freien. Das ist, als hätte es der beste Dichter geschrieben. Es ist auch von einem Dichter geschrieben, und von was für einem! Zu Hiob, der nachher daran ist, an Gottes Weisheit zu zweifeln, sagt der Herr (39, 5-8):

»Wer hat das Wild so frei lassen gehen, wer hat die Bande des Wilds gelöset? Dem ich das Feld zum Haus gegeben habe und die Wüste zur Wohnung. Es verlachet das Getümmel der Stadt, den Schrei des Treibers höret es nicht. Es schauet nach den Bergen, da seine Weide ist, und suchet, wo es grüne ist.«

Dann vom wilden Stier (39, 9, 10, 12):

»Meinest du, der wilde Stier werde dir dienen und werde bleiben an deiner Krippen? Kannst du ihm dein Joch anknüpfen, dir Furchen zu machen, daß er hinter dir egge in Ackergründen? Magst du ihm trauen, daß er deine Saat dir wiederbringe und auf deine Tenne sammle?«

Dann vom Roß (39, 19-25):

»Hast du dem Roß seine Stärke gegeben und seinen Hals geziert mit der wallenden Mähne? Lehrst du es aufspringen wie die Heuschrecke? Schrecklich ist die Pracht seines Schnaubens! Es strampfet den Boden im Schlachtfeld und jauchzet in Kraft und zeucht aus, den Geharnischten entgegen. Es spottet der Furcht und erschrickt nicht und fleucht vor dem Schwert nicht. Mag über ihm der Köcher klirren und Spieß und Lanze drohen. Es schnaubet und tobet und scharret die Erde und ist nicht zu halten, wenn die Trommete klingt. Beim Schall der Trommete ruft es: Hui! von Ferne reucht es den Streit, das Schreien der Fürsten und Jauchzen.«

Wie schön macht es sich, wenn Tiere in ihrer freien Kraft sich darstellen! Jeder Schlachtenmaler wird lieber irreguläre Krieger darstellen, Naturvölker, die mit wenig Taktik oder gar keiner kämpfen. Nun wäre es mehr als thöricht, die Taktik angreifen zu wollen. Aber das Schöne steht in einem eigentümlichen Widerspruch mit den Fortschritten der Kultur. Sie mechanisieren unser Leben mehr und mehr; und alles Mechanische ist Feind des Aesthetischen. Gewiß wäre es überkindisch, diese Fortschritte preisgeben zu wollen, dennoch kann es uns auf dem ästhetischen Standpunkt einmal so stimmen, daß wir auf sie schelten und wettern. Man nehme z. B. die Eisenbahn, wie sie einen romantisch geschlängelten Weg einfach mit der geraden Linie durchschneidet. Das ist, ästhetisch genommen, doch gewiß schade, denn dadurch geht der malerische Reiz des Thales verloren. Und die heutige Schießwaffe! Unsere Väter wären nicht nach dem Schießplatz gegangen mit einem Gewehr ohne Garnitur. Jetzt, am Hinterlader kann man kaum eine Verzierung anbringen.

Das Ergebnis unserer bisherigen Betrachtungen faßt sich also in dem Satz zusammen: das Schöne ist harmonische Form; diese Form ist nur das Bild der äußeren Erscheinung, aber so, daß der innere Gehalt des Gegenstandes ganz darin aufgegangen ist, daß wir in der Erscheinung diesen Gehalt mitbekommen. Diese Form ist also, wie der Paragraph sagt, »wesentlich qualitativ, von freiem Leben durchdrungen«.

Nun kommt aber der Formalist und sagt: Was soll denn für ein Lebensgehalt sein in Flächen, Linien, Kurven, die der Baukünstler so oder so zusammenstellt? Was soll denn für Lebensgehalt sein in den Tönen, die der Musiker so komponiert, daß wohlgefällige Verhältnisse entstehen?

Fragen wir zuerst: woher nimmt er diesen Einwand? Von denjenigen Künsten, welche kein Naturvorbild nachahmen. Die Architektur und die Musik unterscheiden sich dadurch von allen übrigen Künsten. Die Baukunst ahmt nichts aus der Natur nach. Daß die Gotik den Wald mit seinen zusammengeneigten und verschlungenen Baumkronen zum Vorbild nehme, werden Sie mit mir für eine längst veraltete Dilettantenansicht halten. Und ebenso nichtig wäre die Behauptung, daß die Musik den Vogelgesang nachahme. Beide Künste haben es mit abstrakten Formen zu thun; die eine mit Flächen und Linien, die andere mit arithmetisch zu berechnenden Verhältnissen von Tönen.

Hier muß ich nun bringen, was ich im Vorwort nur angedeutet habe, nämlich die Symbolik. Der Paragraph sagt: »Wo die Form ganz meßbar ist, gewinnt sie den qualitativen Charakter durch eine eigentümliche Art der Symbolik, eines unbewußten Einfühlens der Seele; ebenso alle an sich unbeseelte Erscheinung.« Also, wo die Form mathematisch ganz bestimmbar ist, wie in der Architektur, in der Musik, im Versgesetz, da tritt eine gewisse Uebertragung ein, so daß sie dennoch qualitativ wird, d. h. Seele ausdrückend. Das Qualitative ist ja Gegensatz zum Quantitativen, das bloß ein Größenverhältnis ausdrückt.

Das Wort Symbolik ist ein wahrer Proteus. Darüber muß ein eigenes Buch geschrieben werden; und es ist bereits eines geschrieben von Professor Johannes Volkelt, der hiemit Bausteine gibt zur nötigen Begründung der Aesthetik.

Hier wollen wir bloß zwei Bedeutungen unterscheiden.

Symbol: dabei denken wir gewöhnlich an ein Bild, das über sich hinausdeutet nach einem Begriff oder Zweck, an ein Bild, das, wenn auch nicht unmittelbar einleuchtend, so doch konventionell ganz verständlich ist, weil es durch seine Attribute einen Gedanken ausdrückt. Es ist uns z. B. geläufig, daß eine Figur mit einer Binde um die Augen und einer Wage in der Hand die Gerechtigkeit vorstellt. Die Binde will andeuten die Unparteilichkeit, die nicht links und rechts sieht, die Wage bedarf gar keiner Erklärung. Eine Frauengestalt mit einem Anker ist die Hoffnung. Dies ist die helle, die verstandesmäßige Symbolik.

Wir meinen jetzt aber etwas ganz anderes. Es gibt eine Symbolik, darin bewegt sich jeder sinnliche Mensch vom frühen Morgen bis zum späten Abend und auch noch im Traum. Wir haben kein anderes Wort dafür als Symbolik und müssen es nun in einem Sinn anwenden, der nicht der Verstandeswelt angehört, sondern dem dunkel ahnenden Leben des Gemüts. Es ist die Natur unserer Seele, daß sie sich in Erscheinungen der äußeren Natur oder in Formen, die der Mensch hervorgebracht hat, ganz hineinlegt und diesen an sich ganz abstrakten Erscheinungen, die von einem Ausdruck doch nichts wissen, durch einen unwillkürlichen und unbewußten Akt Stimmungen unterlegt, daß sie sich mit ihrer Stimmung in den Gegenstand versetzt. Dieses Leihen, dieses Unterlegen, dieses Einfühlen der Seele in unbeseelte Formen ist es, um was es sich in der Aesthetik ganz wesentlich handelt. Gegenüber dem verständigen Symbolisieren ist es dunkel, aber doch in seiner Art ganz bestimmt.

Um Ihnen dieses Geheimnis zu zeigen, will ich Ihnen einige Beispiele geben. Wir wollen vorerst einmal reden vom Meßbaren, von Raumerstreckungen und Formen, wie sie in der Architektur und in der Natur erscheinen, von Flächen an Körpern, Säulen, Wänden eines Gebäudes, an Bergen, Felsen. Was kann toter erscheinen als der Unterschied von Senkrecht und Wagrecht? Aber ist es Ihnen nicht bekannt, daß mit der senkrechten Linie unsere Phantasie aufsteigt? Deshalb sagen wir statt Begeisterung: Seelenerhebung. Sie erscheint uns wie ein räumlicher Vorgang, als ob die Seele emporgeschwungen würde. Die Sprache hatte ursprünglich keine anderen Ausdrücke als sinnliche, und diese übertrug sie dann ins Geistige. Indem sie also für geistige Stimmungen sinnliche Bezeichnungen verwendet, bekundet sie dieselbe Symbolik, die in unserer Anschauung waltet. Sie nennt daher die vertikale Linie steigend oder, in entgegengesetzter Richtung gesehen, sinkend. Die Betrachtung eines gotischen Domes ist unmittelbar verbunden mit einer Erhebung des Gemüts. Ein Abgrund gemahnt uns unheimlich, furchtbar.

Die Horizontale. Wodurch wirkt denn das Meer so wunderbar auf die Seele? Es ist ganz einfach die ausgebreitete Fläche, die sich so lange fortsetzt, daß unsere Phantasie in Bewegung kommt und den Eindruck, als ob die Linien ins Grenzenlose fortfliehen würden, das Gefühl der Unendlichkeit gewinnt. Dabei wirken natürlich Lichter und Farben mit, aber das ist das Grundwesentliche. – Denken Sie ferner an einen Weg, der sich in eine Landschaft hinein fortzieht! Oder vergegenwärtigen Sie sich den Eindruck langer Galerien! Dabei knüpfen sich Ihnen symbolische Gefühle an die Horizontale.

Nun die schräge Linie! Da ist die Sache schon schwieriger. Wir kommen daran in der Architektur. Hier will ich Sie nur erinnern an die Kreissegmente, die geschwungenen Linien. Alles Geschwungene gemahnt uns wie eine freiere Bewegung der Seele, wird ein Schwung, eine Elastizität des Gemüts. Wenn sich der Bogen schließt zum Halbrund, so wirkt das wie eine Rückkehr, wie ein harmonisches Einlenken, erinnert also an versöhnte Gefühle der Vereinigung, des Zusammentreffens. Die Kuppel des Pantheons und vollends die der Peterskirche vergleichen wir mit dem Himmelsgewölbe, sie wird uns rein instinktmäßig zu einer großen geistigen Welt. Das ist ein ganz ungesuchtes Gefühl. Die Baukunst wäre tot, wenn sie gar nichts wäre als eine Zusammensetzung von Steinen nach geometrischen Linien; und wir haben schon erkannt: sie verwandelt die Massen in ein Bild, als wären sie lebendig Siehe oben S. 21.. Dies sind bloß ungefähre Andeutungen über die Symbolik der Linien in ihren Dimensionen, damit hängen die ästhetischen Empfindungen zusammen, die sich an die verschiedenen Baustile schließen.

Weiter nehmen Sie die Musik, die Töne und ihre Verhältnisse nach Höhe und Tiefe, Zeiteinteilung, Langsamkeit und Schnelle, Takt und Rhythmus. Wir haben uns schon überzeugt: da ist alles meßbar, da kommt alles auf Zahlen an. Zwar nicht die wirklichen Zahlen kommen hier in Anbetracht, aber alles wird nach einem angenommenen System ausgedrückt und empfunden. Und nun bedenken Sie, was das für einen Unterschied im Seeleneindruck macht! Die ganze Musik ruht auf der hiemit verbundenen Symbolik. Wie ganz anders als das freie Dur, das an Tageshelle erinnert, wirkt das verschleierte, wie Mondlicht anmutende Moll! Der Unterschied zwischen der großen und kleinen Terz gewinnt die Bedeutung eines seelischen Unterschieds. Dann die ernste Ruhe und düstere Kraft eines tiefen, die leidenschaftliche, heiße Energie eines hohen Tones. Die Sprache kommt da nicht leicht nach. Die Formalisten werden sagen: ein Accord beruht auf zusammentreffenden Tonzahlen; es kehrt ein Ton zu seiner ersten Einheit zurück; da haben wir es ja: alles Schöne ist Proportion. Ich aber sage: der erste Hirte, der auf seiner einfachen Pfeife oder mit den paar Saiten, die er über eine große Muschel spannte, zufällig einen Accord fand, eine arithmetisch darstellbare Konsonanz, der hörte dabei nicht nur etwas seinem Ohr Wohlgefälliges, sondern ihm war zu Mut, als vernähme er dabei einen Einklang von verschiedenen Seelenstimmungen; eben vermöge dieser dem Menschen als Menschen innewohnenden Symbolik.

Dann Takt und Tempo. Zum Beispiel die Marseillaise erscheint als Komposition ganz gemacht, den kriegerischen Patriotismus auszudrücken, so mächtig stößt sie vorwärts, en avant. Sie soll komponiert sein von Rouget de l'Isle. Aber nein: Fridolin Hamma hat nachgewiesen, daß sie dem Credo einer Messe des Pfälzers Holzmann entnommen ist. Wie ganz anders mag jenes getragene Credo klingen! Aber was macht den Gefühlsunterschied? Das freier und rascher bewegte Tempo. So stark wirkt die Symbolik des Tempos auf das Gemüt, daß ein Kirchengesang durch Veränderung seines Zeitmaßes zu einem Kriegslied wird.

Noch ein Gebiet der Messungen: Metrik, Meßwissenschaft des Verses. Bei den Alten sind die Silben der Worte schon in der gewöhnlichen Sprache sehr streng gesetzlich danach bemessen, ob sie lang oder kurz sind, – obwohl es Silben gibt, die beides sind ( Syllaba anceps). In der deutschen Metrik kommt es dagegen, wie gesagt, auf den Accent an Vgl. oben S. 55.. Hebung und Senkung, Tondruck, starke, schwache, mittlere Kraft des Tondrucks wird da berechnet.

Wie nun? Die Poesie, die angethan ist, die Seele in ihren Tiefen zu erregen, soll wesentlich doch auch ruhen auf einem solchen Messungsunterschied?! Ja freilich, vermöge dieser Symbolik erscheinen uns die verschiedenen Versarten wie verschiedene Stimmungen der Seele, wie verschiedene Gangarten. Der Jambus ( ◡ —), z. B. in den Dramen Schillers, stößt vorwärts. Der Trochäus ( — ◡) geht ruhig, ganz in ruhigem Erzählungsschritt. Er wirkt, wie wenn ich mit einem Fuß fest auftrete, dann mit dem anderen leichter. Das kann auch ein Schleichen bedeuten, z. B. in Goethes Gedicht »die Braut von Korinth«. Hören Sie:

Wie mit Geists Gewalt
Hebet die Gestalt
Lang und langsam sich im Bett empor.

Nur das letzte Wort ist da nicht mehr Trochäus. Der Daktylus ( — ◡◡) hüpft abwärts. Anapäste ( ◡◡ —) haben etwas stark Bewegtes, mit verdoppeltem Anlauf Aufspringendes. Nehmen Sie z. B. in Goethes Faust die Schlußscene des ersten Teils. Gretchen ist wahnsinnig im Kerker, erkennt zuerst Faust nicht, sie wirft sich nieder neben ihm und spricht:

O, laß uns knien, die Heil'gen anzurufen!
Sieh unter diesen Stufen,
Unter der Schwelle
Siedet die Hölle,
Der Böse – mit furchtbarem Grimm – macht ein Getöse!

Faust ruft »Gretchen!« Da erkennt sie ihn und jetzt ist die Gangart des Verses eine ganz andere:

Er stand auf der Schwelle,
Mitten durchs Heulen und Klappern der Hölle,
Durch den grimmigen, teuflischen Hohn
Erkannt ich den süßen, den liebenden Ton.

In den Anapästen und Daktylen der bloßen Gedichtform schon hören Sie die hoch bewegte Seele. Die Versbewegung ist nicht gleichgültig. Auch hier waltet Symbolik, Einfühlen in jene Formen, die zum Zählbaren gehören.

 

Weiter. So ist es mit der ganzen Natur, die doch an sich unbeseelt ist und nicht daran denkt, unserer Seele etwas aufzudringen. Wir leihen ihr unsere Seele und ohne diese Symbolik würden wir z. B. nie eine Landschaft schön nennen.

So sagt Goethe in Hermann und Dorothea:

Also gingen die Zwei entgegen der sinkenden Sonne,
Die in Wolken sich tief, gewitterdrohend, verhüllte.
Aus dem Schleier, bald hier bald dort, mit glühenden Blicken
Strahlend über das Feld die ahnungsvolle Beleuchtung.

Die Beleuchtung ist nicht ahnungsvoll, sie ist nichts als eine physikalische Erscheinung. Der Mensch legt sein ahnungsvolles Wesen so in diese Erscheinung hinein, daß er meint, sie selber sei ahnungsvoll; dieses Hinüberverlegen der Seelenstimmung geht so weit, daß wir meinen, die Stimmung komme uns aus der Natur entgegen.

Licht und Dunkelheit gemahnt ganz unmittelbar symbolisch. Die Völker haben von jeher im Licht etwas Geistiges gesehen, etwas wie Bejahung, Erkenntnis, helles Wissen. Die persische Religion war ganz Lichtmythus und Lichtdienst. Das Dunkel gemahnt uns immer an das moralisch Finstere, Zerstörende, Vernichtende, an das Böse, Verneinende, Dämonische.

Und nun die Farben. Die hellen stimmen ganz anders als die lichtarmen. Goethe spricht von der »sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben«. In dieser Bezeichnung steckt die ganze Aesthetik. Anstatt sittlich wollen wir sagen: seelisch, dann ist es dem neueren philosophischen Sprachgebrauch gemäß. Also sinnlich-seelische Wirkung der Farben. Ein Franzose hatte eine geistreiche Freundin. Sie hatte ihr Zimmer mit neuen Tapeten versehen lassen. Die früheren waren gelb, die neuen carmoisinrot. Von da an, sagt er, war der Ton unserer Unterhaltung ein ganz anderer als ehedem. Er hat recht, es wird ein Zusammenhang bestehen. Lichtreiche Farben wirken freundlich, feierlich; lichtarme kühlend, auch wohl sehnsüchtig stimmend. Daß das kühle, an den Himmel erinnernde Blau Treue bedeutet, ist Symbolik der Reflexion. Davon sprechen wir hier so wenig wie von der Thatsache, daß man im Vergißmeinnicht ein Sinnbild des Andenkens, im Veilchen ein Sinnbild der Treue sieht. Dies ist bloß konventionell. Eine ganz andere Frage ist: wie wirken Farbe und Duft gewisser Blumen auf unsere Seele, so daß wir vermöge der ahnungsvollen Symbolik, die uns hier beschäftigt, mit dieser Blume dieses Gefühl, mit jener Blume jenes Gefühl verbinden? Doch ich muß innehalten; je weiter wir eingehen, um so schwieriger wird dies Gebiet. Diese Symbolik läßt sich nicht ganz verfolgen, nicht ganz in Worte und Begriffe fassen; man kommt nicht zu Ende. Und darum ist die Aesthetik eine unvollkommene Wissenschaft. Wir können nur sagen: in dieser Symbolik liegt's, aber es ist nicht zu nennen, wir können mit dem hellen Denken nicht nach. Nehmen Sie z. B. irgend ein koloristisches Gemälde und versuchen Sie seine Farbenreize, die Wirkung seiner unendlich nuancierten Töne auf die Seele zu erklären. Selbst der Meister, der es gemalt hat, kann nicht aussprechen, was er wollte; die Worte lassen ihn im Stich.

Wenn z. B. Rembrandt in seiner außerordentlichen Radierung mit den drei Bäumen einen regnerischen Gewitterhimmel über einer Heide gibt, warum ergreift er uns so damit? Man muß das anschauen mit den Augen des Künstlers, man muß bewundern, wie er es angefangen hat, dieses luftige Spiel halb durchsichtiger Wolken darzustellen und das Nasse, Feuchte in der ganzen Stimmung dieser Landschaft. Es ist weiter nichts als ein Accord auf der Harfe der Natur. So malt Jakob Ruisdael eine Heide mit einer Mühle, in der Ferne einen blauen Streif, der ungefähr noch eine Stadt erkennen läßt. Durch die Luft stiehlt sich ein ganz armer, fahler Sonnenstrahl und legt sich auf die Heide hin. Ein Bild voll unnennbar eigentümlicher Müdigkeit und Schwermut und so weich wie die Stimmung eines Menschen, der sich soeben von einem Fieber erholt hat.

Auch in dem Stoffgepräge, dem Glänzen und Schimmern von Sammet, Seide, Gold, Silber, wie es in Gemälden von Metsu, Terborch, Retscher und anderen Holländern nachgeahmt ist, liegen wunderbare Reize, die nicht bloß sinnlich sind, die uns so eigentümlich anregen, daß es nicht zu sagen ist.

Nehmen Sie ferner den Charakter der Töne, die Klangfarbe der Instrumente. Der schmetternde Klang der Trompete hat etwas Kraftvolles, mutige Gefühle Erweckendes. Die Violine tönt zart und innig. Aber wer will die verschiedenen Abstufungen dieser Klangfarben in Begriffe fassen?

Dazu nehmen Sie noch die Töne in der Natur. Wir hören im Sturm ein Dräuen zürnender Geister; und auch die weicheren Geräusche, das Murmeln des Baches, das sanfte Wehen des Windes in den Bäumen, sprechen zu uns. Wir empfangen durch diese Gehörseindrücke zugleich Seeleneindrücke. Diese sind zwar nicht in alles Einzelne zu bestimmen Siehe oben S. 25., aber die Aesthetik ist darum doch nicht nichts, denn in diesem ahnenden Einfühlen muß es liegen: das wenigstens hat sie erkannt. Wie verschieden sind die Wirkungen der Baumarten, der Tanne, der Buche, der knorrigen Eiche, der gelappten, der gefiederten, der buchtigen Blätter. Daß sich die Seele mit dem Hohen streckt, mit dem Hellen freut, mit dem Finstern verfinstert, mit dem Gelben erwärmt, mit dem Blauen kühlt, das wenigstens wissen wir; es ist eine helldunkle, nicht ganz zu durchlichtende Welt, aber wir haben den Weg in sie gefunden.

Weiter heißt es im Paragraphen: »So offenbart sich in der Form das innere Wesen und Leben des Gegenstandes, wie er ist, nachdem der Geist des Auffassenden sich in ihn gelegt und ihn zu seinem Eigentum gemacht hat. Das Was ist aufgegangen im Wie

Es kommt im Schönen nicht auf den Stoff, nicht auf das Was an, sondern auf das Wie, auf die Form. Die schöne Form ist aber nicht leere Form, sondern das Aeußere eines Inneren. Eine Wesensqualität sieht daraus hervor. Im Schönen müssen wir immer von der Form ausgehen, doch wir empfinden an ihr ein Inneres. Denjenigen, welche vor einem Kunstwerk immer nach Gehalt und Gehalt schreien, wollen wir gar nicht zu viel anhaben. Es hat sich etwas mit diesem ewigen Rufen nach Gehalt. Der Gehalt, sahen wir soeben, ist bei einem guten Kunstwerk am allerwenigsten in Worten auszudrücken; er liegt eben ganz in der Form. Er steckt nicht dahinter, sondern er ist in die Form aufgegangen. Wir brauchen daher bei keinem schönen Gegenstand eine wissenschaftliche Analyse; wir wollen einfach Genuß. Schauen und wieder schauen heißt es da, weil wir im Schönen den Sinn von selbst mitbekommen. Also noch einmal: der Sinn ist nicht dahinter, nicht daneben, sondern er ist ganz hineingezaubert; das hat uns jene Gefühlssymbolik gelehrt, jener geheimnisvolle, naturnotwendige, instinktive Akt der menschlichen Seele, einem unbeseelten Gegenstand Seele unterzulegen. Sie haben ein Stück Zucker und ein Glas Wasser. Der Zucker sei der Inhalt irgend eines Kunstwerks, das Wasser soll vorstellen die Form. Der hineingeworfene Zucker löst sich auf, hat aufgehört ein Körper zu sein, er ist aufgegangen im Wasser, das von seiner Süßigkeit ganz durchdrungen ist. Das Was ist aufgegangen im Wie, der Gehalt in der Form.

Es bedarf keines Beweises, daß Macbeth und Richard III. uns das Wesen des Bösen auf das tiefste offenbaren, den ganzen unergründlichen Abgrund seiner schädlichen Kräfte, dann aber auch seine Selbstzertrümmerung. Kommt ein Philosoph darauf, so wird er es bestätigen. Sein Senkblei hat aber Mühe, so tief zu reichen. Der Zuschauer in einem Theater, wo diese Helden gut gespielt werden, der bekommt dies nun, ins Bild hineingegossen, zu schauen, ohne daß er es irgendwie zu zergliedern braucht, ohne philosophisch gebildet zu sein. So hat man den Sinn, den Gehalt, die Bedeutung, schließlich die Seele des Künstlers in der Form alles echt Schönen mit darin; und deshalb ist das ästhetische Schauen kein leeres, sondern ein höchst erfülltes Schauen, das nicht durch Reflexion gesucht zu werden braucht.

Ich habe einmal irgendwo geschrieben: so mancher, der sich für einen rechten Gemäldekenner hält: wenn er ein Bild vor sich sieht, das ihm nichts Interessantes bietet, z. B. ein pures Stimmungsbild mit wenig Gegenstand, wird er sagen: ja was soll das? was habe ich davon? Dieser Herr Schulze oder Maier kommt mir vor wie einer, dem ich ein schönes Gemälde vor Augen stelle, woraus aber nicht viel ist im Sinne des Publikums, keine Scene aus der Schlacht von Austerlitz oder Waterloo, und der nun, statt sich zu freuen, das Gemälde umkehrt und nachsieht, ob hinten nicht eine interessante Notiz steht.

 

Jenen Satz der Formalisten: das Schöne besteht wesentlich nur in Formverhältnissen, können wir damit nun wohl als widerlegt betrachten. Wir sagen von einem Kunstwerk nicht: es ist harmonisch und hat »außerdem« eine bedeutende Inhaltsphäre. Wir sind gegen dies »Außerdem«. Wir sagen: es ist eines. Wo Sie einen hoch begabten, harmonisch angelegten Menschen finden, der Kaliber, der die Brust voll hat und das Ideal für die Form, da wird es die Größe und Tiefe seiner Seele und sein Formsinn ganz verbunden in eines sein, was ihn zum großen Künstler macht und sein Werk in Schwung und Einklang bringt. Wir wissen sonst nicht, wie wir Seelengehalt und Form zusammenbringen sollten, wenn sie bloß nebeneinander im Menschen wären. In welcher Tasche hat er den Gehalt, in welcher Tasche die Form? Was verbindet sie eigentlich? Was ist das für eine Schnur, womit er beide zusammenbringt? Nein! Es ist ein Ding. Sein Wesen ergießt sich ganz identisch in die Form, so daß es uns in der Form von selbst entgegenkommt und keine Sonderung nötig ist. Das Analysieren ist Sache der Wissenschaft, aber mit dem Genusse des Schönen haben wir in und mit der Form immer auch Ausdruck, Seele, Leben, das » Was, aufgegangen in Wie«.

Das Schöne ist » ausdrucksvolle Form, formgewordener Ausdruck, Einheit von Ausdruck und Harmonie, oder: mimisch harmonische Form«. So habe ich es im Paragraphen definiert.

Mimisch ist ein Wort, das ich der Kürze wegen gewählt habe. Es kommt von dem griechischen Verbum μιμεῖσθαι d. h. nachahmen. Aber ich nehme es hier in einem bestimmten Sinn, verstehe hier darunter jenes unmittelbare Nachahmen, wodurch Tiere und Menschen ihre inneren Stimmungen und Gefühle ausdrücken im Mienenspiel, in Gebärden und Bewegungen. Darin ist aktive Symbolik. Auch in der Stimme. Denken Sie nur einmal an die Tiere. Ein Vogel hat einen eigenen Ton, womit er dem Jungen, dem Weibchen lockt, einen eigenen, wenn er auf der Wache steht und warnt, und wie ganz anders klingt seine Stimme, wenn er im Frühling die Fröhlichkeit ausläßt. Das geht durch die ganze Tierwelt und geschieht ohne jede Reflexion. Temperatur und Klangfarbe wirken, um die Unterschiede der Stimmung auszudrücken. Es wäre ganz interessant, auf den aktiven Gemütsausdruck überhaupt einzugehen. Wer hat die Katze gelehrt, wenn sie angegriffen wird und schrecken will, einen Ton von sich zu geben, daß man meint, es werde einem eine Schüssel Wasser ins Gesicht geworfen oder ins Gesicht gespuckt? Und wer hat den Vogel gelehrt, wenn er seinen Gegner einschüchtern will, die Federn aufzustellen und Luft in die Kiele zu treiben? Diese aktive Symbolik der Töne und Gebärden ist ebenso unwillkürlich und geheimnisvoll wie diejenige, vermöge welcher uns die bloße Form seelenvoll erscheint, und wir werden uns überzeugen, daß beide identisch sind und daß die letztere, die Formbeseelung, übertragene Mimik ist.

Wir sehen nicht genug darauf, wie mannigfach die Unterschiede sind, womit die Tiere ihre Empfindungen bezeichnen. Man weiß, was es bedeutet, wenn ein Hund den Schweif hängen läßt, emporhebt, oder wenn er damit wedelt, wenn er die Zähne zeigt, aber man übersieht es meist, wie er sich das Maul ausleckt, wie er im Zorn die Stirne runzelt. Wer genug darauf achtet, der wird einen Hund nicht fürchten, wenn er die Stirne glättet. Ferner das Zurücklegen und Vorstellen der Ohren beim Pferd. In Ungeduld scharrt es. Alles Mimik.

Nun aber der Mensch. Eines der interessantesten Zeichen für den tief geheimen Zusammenhang von Seele und Leib ist das Erbleichen und Erröten. Die Natur, sage: die bloße Natur, am Bande der Seele, aber unwillkürlich handelnd! Sie errötet, wenn wir uns verbergen möchten vor Scham; sie zieht mit Blut einen Schleier über das Gesicht, mit dem einzigen Stoff, den sie dazu hat. Dann das Auf- oder Abwärtsziehen der Mundwinkel. Ein kleiner Strich an dieser Stelle verändert ungemein den ganzen Ausdruck eines Menschengesichts. So klein und vielfältig, so ausdrucksvoll sind diese äußeren Zeichen. Eigentlich sollte die Aesthetik in einem eigenen Kapitel ziemlich ausführlich über Mimik handeln. Ich verweise Sie auf die vortreffliche Schrift von Piderit »wissenschaftliches System der Mimik und Physiognomie« (2. Aufl. 1886).

Nun noch die menschliche Stimme und die seelische Bedeutung ihrer Töne, die nach Höhe und Tiefe, Helle, Dämpfung so unendlich verschieden ist, daß man sie mit Worten weiter nicht verfolgen kann. Nehmen Sie z. B. den schweren, drohenden, murrenden Charakter des tiefen, den feurigen, leidenschaftlichen des hohen Tones. Es ist eine ganze Welt von Empfindungen, die sich in den Tönen ausdrückt, und die Sprache ja eigentlich auch eine Symbolik der Laute.

Nun wollen wir aber von »übertragener Mimik« sprechen. Diese Bezeichnung habe ich vorhin gebraucht. Das will heißen: Was wir von innen her mimisch ausdrücken, um zu zeigen, wie uns zu Mut ist, tragen wir über auf die äußere Natur, auf die Welt der bloßen Formen; und sie erscheint uns infolge dieser Leihung unserer Seelenstimmungen auch als mimisch. Bewölkter Himmel kommt uns vor wie eine gerunzelte Stirne, also wie finstere Laune, die sich, wie wir uns vorher erinnert haben, eben hierin ausspricht, klarer Himmel wie ebene Stirne, helle Stimmung. Das unbeseelte Ganze der Aetheratome, was wir Luft nennen, erscheint uns wie ein drohendes oder heiter entgegenlächelndes Angesicht. Und weil die Töne unserer Stimme mimisch sind, kommen uns die Töne der unbeseelten Natur vor, als drücken sie das aus, was wir in Wahrheit hineinbringen. Jetzt plaudern, jetzt wüten die Wellen, jetzt flüstert's im Wald als hätten sich die Bäume ein Geheimnis zu vertrauen; jetzt grollt das Gewitter. Wir finden draußen in den Dingen eine Mimik, wie wir sie haben; wir legen sie hinein in die Formen. So kommt uns von da draußen der Mensch entgegen. Wir lassen uns von den äußeren Erscheinungen unsere eigene Seele darbringen. Alles pure Phantasie! Der Natur fällt es nicht ein, eine Seele auf diese Weise zu haben. Sie ist freilich das geheimnisvolle Zelt, woraus der Mensch und feine Seele kommt, aber das geht uns hier nichts an. Wasser und Wald, Berge und Wolken haben keine Seele, wir aber legen unsere Mimik und damit unsere Seele hinein.

Dies sage ich, damit ganz ins Auge springt die Wahrheit unseres Satzes: das Schöne ist nicht bloße Form, sondern ausdrucksvolle Form, auch da, wo eine Mimik in Wirklichkeit nicht vorhanden ist, auch in den Formen der landschaftlichen Natur. Also »Einheit von Ausdruck und Harmonie oder mimisch-harmonische Form« ist das Schöne; und die haben nicht recht, welche behaupten, es komme im Schönen gar nicht auf den Ausdruck an, sondern bloß auf die Verhältnisse der Form.

Weiter heißt es im Paragraphen: » Demgemäß ist die Lust in der Anschauung reine Einheit idealer und sinnlicher Lust. Die Ausschließung des Interesses bestimmt sich nun näher zu dem Satze: es waltet interesseloses Interesse (Spiel).«

Lust und Unlust sind Formen des Gefühls. Manche Aesthetiker gehen überhaupt vom Gefühl aus, um zu finden was das Schöne sei. Sie unterscheiden Arten von Gefühlen und suchen dann dasjenige Gefühl zu bestimmen, welches stattfindet gegenüber dem Schönen. Im vorigen Jahrhundert, seit Mendelssohn, hielten sich die ästhetischen Studien auf diesem Weg. Ich habe ihn nicht eingeschlagen, denn ehe wir ein Gefühl haben, müssen wir uns etwas vorstellen. Alles Gefühl ist motiviert durch Vorstellung; und Vorstellung verlangt einen Gegenstand. Ein Bild muß da sein; und dieses weckt nun das Gefühl. Ist das Bild schön, so wird es ein Gefühl der Lust erzeugen. Alles Schöne will erstens zu schauen geben und dadurch zweitens die Seele in ihren Tiefen bewegen und rühren. Rühren sage ich jetzt natürlich nicht im Sinne von schmelzenden Wirkungen des Mitleids, sondern das heißt hier ganz allgemein: die Seele durch Gefühl in ihren Tiefen bewegen. Zunächst ist diese Bewegung sinnlich, dann aber wird die Seele zu einer bestimmten Art von Lustgefühl erhoben, wie es eben nur durch das Schöne, durch ein ausdrucksvolles und formharmonisches Bild erregt wird.

Nun aber, wenn wir also sagen: alles Schöne will tief bewegen, rühren, wie steht es dann mit dem nach Kant im ersten Paragraphen aufgestellten Satz: »schön ist, was ohne Interesse allgemein und notwendig gefällt.« Wir haben ja früher alles Interesse abgewiesen. Interesse besteht immer darin, daß uns nicht bloß der Gegenstand gefällt, sondern daß wir auch etwas in Beziehung auf seine Existenz wünschen oder wollen, begehren oder verabscheuen. Dies ist absolut auszuschließen. Wer stoffartig auffaßt, kann das Schöne als Schönes nicht fühlen. Ein solches Interesse haben wir nach Goethe und Schiller pathologisch genannt. Ausgeschlossen ist ferner, wie wir sahen, das theoretische Interesse, das Nutzinteresse, das moralische, politische und religiöse Interesse. Wir dürfen wenigstens durch ein derartiges Interesse nicht so gespannt sein, daß wir die Freiheit des Gemüts verlieren, daß wir z. B. meinen, es möchte unseren Grundsätzen etwas zu leid geschehen. Alle Unruhe des Wünschens, daß die Welt so oder so sein sollte, ist ausgeschlossen. Ein Mann soll freilich kämpfen, aber das Kämpfen ist im Schönen vergessen; es ist vor der Thüre der Kunst zu lassen. Wir stehen im Schönen über den Gegensätzen des Lebens. Die Welt muß in dieser Sphäre nicht erst gemacht werden, sie ist recht. Ausgeschlossen ist endlich auch das wissenschaftliche Bedürfnis. Denn wir wollen das Schöne nicht, um zu lernen.

Geraten wir nun aber nicht in Widerspruch mit diesem Ausschluß alles und jeden Interesses an der Existenz, wenn wir jetzt sagen: das Schöne will rühren? Wenn ich zuschauen soll ohne Rührung, wo ist dann die Rührung? Wenn ich gerührt werden will, muß ich doch ein Interesse haben. –

Um aus diesem Schein von Widerspruch herauszukommen, habe ich einen paradox klingenden Ausdruck gewagt: interesseloses Interesse. Das Schöne ist ja Bild und nur Bild, Schein und nur Schein, nur ein Scheinbild von Leben. Ich sehe auf einem Gemälde nicht wirkliche Leute, im Theater nicht wirkliche Vorgänge; sondern bloßen Schein. Aber darum ist es kein leerer Schein. Das Schöne sagt uns etwas vom Gehalt des Lebens, es ist eine Erscheinung, ein Schein, in dem Inhalt erscheint; nur ist es nicht der einzelne Fall, nicht eine empirische Wahrheit, was es uns vor die Seele stellt, sondern es ist immer eine innere und allgemeine Wahrheit. Wir lassen uns im Schönen alles gefallen: Bilder aus der alten Mythologie, Götter, Genien. Das spielt eine unendliche Rolle in Skulptur, Malerei, Poesie. Wir Protestanten lassen uns die Auffassung der Katholiken gefallen und kämpfen nicht dagegen. Wir entzücken uns im Anblick der sixtinischen Madonna Raphaels, wir alle, denen es doch nicht einfällt, an den Marienmythus zu glauben. Wir wissen, hierin hat der alte Mythenglaube an weibliche Gottheiten auf das Christentum eingewirkt. Aber danach fragen wir nichts, wenn wir die sixtinische Madonna sehen. Da handelt es sich nicht um Wahrheit in dem Sinne des katholischen Glaubens an die Mutter Gottes, sondern um eine innere, allgemeine Wahrheit. Wir sehen das Weib, das als Mutter rein wie eine Jungfrau bleibt, das hohe Bild weiblicher Reinheit, edelster Jungfräulichkeit. Das ist die allgemeine, die innere Wahrheit, die wir hier erfahren. Wir brauchen auch keinen Teufels glauben, um uns zu entsetzen an Teufels bildern. – Der Dichter, der Maler lügt uns an, daß wir blau werden könnten, und wenn er auch einen historischen Fall behandelt. Er bildet ihn um nach seiner Phantasie; er fingiert ja. Also von einer eigentlichen, trockenen Wahrheit ist bei ihm nicht die Rede, aber von einer allgemein menschlichen Wahrheit. Denken Sie z. B. an Hamlet und Tell und an das allgemein Wahre in diesen Werken Shakespeares und Schillers. Diese Wahrheit ist wohl zu unterscheiden von der historisch empirischen Wahrheit. Im Schönen ist alles nur so gethan, doch im Dienst einer höheren, allgemein menschlichen Wahrheit. Ebendeshalb ist es so komisch, wenn Leute uns den Inhalt eines Romans oder Dramas im Präteritum erzählen, als ob es historisch zu nehmen wäre: Dann ist er gekommen, dann hat er gekämpft u. s. w. Das klingt, als ob es geschehen wäre. Es ist aber bloß fingiert; und darum soll man es, wie gesagt, im Präsens erzählen Vgl. oben S. 44, 45.. Wir werden vom Schönen aufs tiefste gerührt und doch ganz und gar nicht stoffartig. Zum Beispiel ein Schauspieler soll darstellen einen Seelenzustand, eine tiefe Leidenschaft. Wenn er nun keine warme Seele hat, um sich recht hinein zu versetzen, so wird sein Spiel kalt oder nüchtern sein, wird als gemacht erscheinen. Und sicher ebenso wahr ist das Gegenteil: wenn er Zorn darzustellen hätte und er wäre wirklich zornig, oder Jammer und er wäre wirklich unglückselig in seiner tiefsten Seele, wie sollte er dann die Fassung finden, seine Rolle zu überwachen?

Ein Schauspieler hat einmal gesagt, er müsse sich auf der Bühne so in der Gewalt haben, daß er mitten im Zuge, den äußersten Sturm der Leidenschaft darzustellen, doch innerlich müsse lächeln können. Das ist Uebertreibung einer Wahrheit. Gewiß, er muß in jedem Moment seine Mienen und Bewegungen in der Hand haben, um sie künstlerisch zu leiten. Sonst würde er sich in blindes Toben verlieren; das wäre pathologisch. Jetzt haben Sie also einen scheinbaren Widerspruch. Er muß ganz drinnen sein und zugleich ganz darüber schweben. Das wird er aber als guter Schauspieler vermögen. Helle Besonnenheit und volle Wärme gehen ganz gut zusammen.

Wenn ein Dichter in einem Roman, in einer Novelle Seelenbewegungen darzustellen hat und nicht sein Inneres voll hinzugibt, sein ganzes Selbst nicht hineinlegt, so wird sein Werk nichts, so bleibt es kalt. Dennoch darf er aber nicht ganz in die Leidenschaft aufgehen, sondern er muß sich bei aller Versetzung die Freiheit reservieren. Mit einem Fuß drin und mit einem Fuß heraußen! Das ist aber nur ein armer Ausdruck, und wir sehen an diesem Punkt wieder einmal, wie wenig der Hausverstand, der nur ein Entweder – Oder weiß, zurecht kommt bei diesen Gegenständen. Da braucht es Sowohl – Als = auch, da muß man sowohl mit der ganzen Seele drin, als auch mit der ganzen Seele frei darüber sein.

Hippel, der tiefsinnige Vorgänger Jean Pauls, hat gesagt, der Verliebte könne die Geliebte und seine Liebe zu ihr so wenig beschreiben, als einer, der im Fieber liegt, das Fieber. Das ist ganz wahr.

Bürger hat furchtbare Leidenschaften erlebt. Seine Geliebte, die Schwester seiner Braut, sah er zum erstenmal in der Stunde der Trauung. Im Momente seiner Entflammung mußte er erkennen, daß es zu spät ist. Nun schrieb er jene Gedichte, worin er diese Leidenschaft ausschreit in ihrem ganzen wilden Stoß; das ist unpoetisch, pathologisch. Der wilde erste Naturstoß der Leidenschaft gehört nicht in die Poesie und in seiner Verzerrung überhaupt nicht in die Kunst. Dem Künstler fehlt die sichere Zartheit der Linienführung, wenn er in der darzustellenden Leidenschaft mitten drin sitzt.

Goethe war, als er an Werthers Leiden ging, noch nicht fertig mit seiner tiefen Leidenschaft für die wirkliche Charlotte, einer Leidenschaft, die doppelt verzehrend zu werden drohte, als sie sich mit der Sentimentalität der Zeit amalgamierte. Indem er nun anfing, zu schreiben, da fing er an, sich zu kühlen, und indem er kühler wurde, konnte er auch schreiben. Von der Leidenschaft heilte er sich durch Schreiben, indem er sie zum Bilde machte. So schrieb er sich die Leidenschaft von der Seele, so stellte er sie sich gegenüber. Er wurde dadurch frei, unpathologisch, gab so seine Wärme in die Kühle hinaus. Es ist außerordentlich, was da allein schon die Formgebung ausmacht. Goethe sagte einst vom Vers: er zieht etwas wie einen zarten Flor über den Gegenstand, so daß er alles mildert und temperiert. Der Gegenstand erscheint dadurch beschwichtigt, wie in einer Landschaft das tiefere Blau des Luftschleiers eine eigentümliche Labung bringt. Wenn ein wahrer Künstler menschliche Gestalten malt, so bewirkt die Formgebung und die leuchtende Klarheit der Farben eine Gelassenheit, welche leidenschaftliche Reize, stoffartige Stimmungen des Zuschauers abhält. Das ist die schöne Kühle, die in der Form liegt. Sie herrscht in allem echt Schönen, weil es eben nur Bild ist.

Also Interesse ohne Interesse. Die ganze unendlich reiche Welt der menschlichen Gefühle wird aufgeregt im Schönen. Wie sollte einer so borniert sein, nicht zuzugeben, es sei recht, wenn uns ein Drama die ganze Seele erschüttert, wenn wir bei der Aufführung eines Dramas wie Othello meinen, wir halten es nicht aus, und mit Schauern der Erstickungsscene folgen? Wer wird nicht zittern in tiefster Seelenspannung, wenn Wallenstein seinem Schicksal näher und näher kommt, wenn es zur Ermordung geht, – wenn Geßler hoch zu Roß einherreitet, während Tell im Busch lauert und mit der Armbrust nach ihm zielt? Dann der Zweikampf zwischen Laertes und Hamlet: Wir wissen, daß Laertes einen vergifteten Degen hat. Einem solchen Gefecht zuzusehen, muß einen in der tiefsten Seele packen. Alles, was Furcht und Mitleid umfassen – die Sprache reicht ja nicht aus, um die ungeheure Skala ihrer Empfindungen zu bezeichnen – alles das wird im Schönen aufgerührt; die Leidenschaften der Liebe und des Hasses, Zorn und Jubel werden in Brand gesetzt. Wenn Sie dies nun Interesse, höchst lebendiges Interesse nennen: gut, aber wir haben gesagt: Interesse im gewöhnlichen Sinne ist ja, streng genommen, nicht bloß ein Interesse am allgemein menschlich Wahren, sondern auch ein Interesse an der Existenz, ein Interesse daran, daß etwas sei oder nicht sei, ist Wunsch oder Abscheu, ist also stoffartiger, pathologischer Natur. Dies letztere Moment wird nun im Schönen immer dadurch abgehalten, daß wir bloß einem Bild gegenüber sind und daß es sich nur um allgemein menschliche Wahrheit handelt. Dadurch ist hier den leidenschaftlichen Erregungen der Stachel genommen. Der Reiz des gemeinen Lebens ist nicht da. Im Gebiet des Schönen empfinden wir Hoffnung ohne Hoffnung, Furcht ohne Furcht, Abscheu ohne Abscheu. Sie können hier diese paradoxen Ausdrücke alle brauchen.

Ich habe z. B. schon daran erinnert: wer in einem Meersturm fährt und wirklich im gemeinen Sinne Angst hat, der genießt das Schauspiel nicht, der hat ja die Seele nicht frei zum Schauen, der denkt an sein Leben Vgl. oben S. 31.. Notwendige Vorbedingung ist daher, daß er nicht zu sehr der Gefahr ausgesetzt sein darf; denn, natürlich, dem Mutigsten verginge das Betrachten, wenn das Schiff so herumgeworfen würde, daß er nicht mehr stehen könnte. Also wirklichen Grund zur Angst für sein Leben darf er nicht haben. Wer aber so kaltblütig wäre, daß er von Furcht nichts weiß, der fühlte die Schönheit des Sturmes auch nicht. Der ist vielmehr der Rechte, der dabei ganz gefaßt bleibt und nur Phantasiefurcht hat; der kann das Leben der Wellen betrachten, diese Wunderwelt von Kurven, wie sie wachsen, den Kamm erreichen und ihn übergießen, der hört mit freiem Schauer ihr furchtbares Gewirr von Tönen, da es ist, als ob in dem ungeheuren Anprall Millionen heranstürmten, und dazwischen das eigentümliche Pfeifen des Sturmes in der Luft.

Ein Schlachtenmaler, den seine Kunst nötigt, ziemlich nahe hinzugehen, wird er die Bewegungen der Kämpfer, der Massen studieren können, wenn er Angst hat oder wenn er ganz stumpf ist? Er muß sich in das Schreckliche ganz versetzen können ohne zu viel Besorgnis für sein Leben; er muß sich, wie ich sage, mit Phantasieangst versetzen.

Wenn weibliche Schönheit dargestellt ist, wollen wir da alle Sinnlichkeit ausschließen? Sollet: wir ein Kunstwerk ohne alle Empfindung betrachten? Nein, aber wir haben es bereits erkannt: alle Leidenschaften sind im Schönen der Erdenschwere enthoben.

Was wäre das für ein Drama, das nicht Leidenschaften hervorruft! Könnte je ein Aesthetiker gar so fürchterlich geistlos und nüchtern sein, daß er uns Vorwürfe macht, wenn wir am Gang einer Tragödie mit unserer Angst und Bangigkeit beteiligt sind, und mit unserem ganzen Schrecken, wenn die Gewitter des Schicksals hereinbrechen, so daß durch die Tausende, die da sitzen, nur ein Beben geht?

Ja, es sollen alle unsere Leidenschaften aufgeregt werden, aber anders als in der gemeinen Wirklichkeit. Aristoteles sagt von der Tragödie: sie soll durch die Darstellung einer geschlossenen ernsten Handlung Mitleid und Furcht erregen, aber diese Affekte zugleich reinigen. Mit diesen kurzen Worten umfaßt er alles, wodurch uns eine Tragödie bewegt. Wir erkennen, es kommt darauf an, alle diese Leidenschaften einem Ziele zuzuführen, und wir müssen am Schlusse entlassen werden mit dem beruhigenden Gefühl der Ehrfurcht vor einer sittlichen Weltordnung. Also volles Versetzen, Versenken der Seele, aber dazu volle Freiheit der Seele, und dieses ganze dadurch noch modifiziert, daß wir wissen: wir stehen nur einem Scheinbild gegenüber, das nicht die gemeine empirische Wahrheit hat, sondern nur eine Wahrheit von allgemein menschlicher Bedeutung, oder dadurch, daß wir das in der Wirklichkeit Geschaute als bloßes Bild zu betrachten vermögen. So läßt uns ein Drama, eine Tragödie empfinden: das ist Menschenart, Menschenleben, Menschenlos. Othello und Desdemona sind ja keine wirklichen Wesen. Wir haben also ein eigentümliches Interesse, aber es ist Interesse ohne Interesse; es ist Spiel.

Spiel! Diesen Begriff hat Schiller auf das Schöne angewendet und in den Briefen »Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen« mit seiner bekannten Beredsamkeit ausgeführt. Schon Kant hat den Ausdruck gebraucht in dem Werke, womit er zum Aufbau der Aesthetik den ersten wichtigen Grundstein gelegt hat: in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«. Er sagt: dem Schönen gegenüber befindet sich unser Denken und unsere Einbildungskraft und zugleich der ganze Komplex unserer sinnlichen Gefühle in einem wechselseitigen Spiel. Das hat nun Schiller aufgenommen und entwickelt. Er definiert den Begriff Spiel als ein Gleichgewicht zwischen der idealen, rein geistigen Thätigkeit der Seele und unserer Sinnlichkeit (welche nach seinem Begriff die Sinnenwahrnehmungen und Empfindungen, sowie die innere Sinnlichkeit, das seelische Gefühl, die Einbildungskraft und Phantasie umfaßt) als ein Wiegen. Dieser Ausdruck ist ganz richtig; ein solches Wiegen findet statt in der ästhetischen Stimmung. Schiller wagt den Satz: der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Man kann an seiner Wahrheit nur dann zweifeln, wenn man vergißt, daß das Wort Spiel auch eine Bedeutung bekommen hat, die ernster ist als wie wir es im gewöhnlichen Leben brauchen. Wir denken dabei leicht an etwas Leeres, Kindisches, Läppisches, allein es gebietet uns niemand, den Gegensatz zwischen Ernst und Spiel so zu nehmen. Es kann im Spiel ganz wohl auch Ernst walten; und »tiefer Sinn ist oft im kindischen Spiel«. Wenn wir Ernst und Spiel einander gegenüberstellen, so bedeutet Ernst die unbarmherzige Strenge des Lebens; und dieser Ernst herrscht gewiß nicht im Schönen. Aber wir lassen uns ja gern gefallen den Ausdruck: Schauspiel, Trauerspiel. So geben wir doch die höhere Bedeutung des Wortes zu. Ich kann es nicht leiden, wenn einer meint, Schauspieler sei ein zu niedriger Name, und sich »Darsteller« nennt.

Wir haben das Schöne auch »zwecklos« genannt; und dies ist eines der höchsten Prädikate, das man austeilen kann. Wir können wohl fragen: wozu gehen wir ins Schauspielhaus, wozu sehen wir diese Gemälde an, wozu lesen wir ein Gedicht, zu welchem Zweck? Aber die Antwort wird immer sein: um uns zu freuen. Und wenn einer fragt, wozu willst du dich freuen? so ist zu erwidern: mein Herr, das ist absurd, darauf gibt es keine Antwort. Die Freude ist an sich ein Zweck, nicht Mittel eines Zwecks. Das Schöne ist rein für sich da. Kunstfreude ist eine der höchsten Zustände des Lebens, und alle idealen Thätigkeiten des Geistes rühmen sich des Prädikats »zwecklos«.

Dann die Tiere. Wer wird sie nicht gern spielen sehen! Sie erheben sich dabei über ihr gewöhnliches Dasein zu einem höheren Zustand. Das Tier geht, gebunden an die Notdurft, seinen Zwecken rein geschäftsmäßig nach. Wenn es aber spielt, treibt es etwas Unnötiges; und das ist eben das Höhere. Nur die edleren Tiere spielen. Alle Spiele sind Scheinkämpfe, auch die Spiele der Menschen. Die alten Tänze waren Kampfspiele, Waffentänze. Die Tänze, woran Mädchen oder Frauen teilnahmen, stellten immer auch eine Entzweiung zwischen den beiden Geschlechtern und schließlich den Jubel ihrer Versöhnung dar. Unsere heutigen Gesellschaftstänze sind bloß erbärmliche Trümmer, herausgerissene Fragmente jener alten Tänze, die vor dem Schlußwalzer einen Scheinkampf darstellten.

Selbst in der Architektur kommen Scheinkämpfe zum Ausdruck. Die Wechselwirkung zwischen Last und Stützwerk wird durch die Dekoration wie zu einem lebendigen Kampfspiel der Kräfte erhoben.

Die menschlichen Spiele sind alle Scheinkämpfe. Weglassen müssen wir aber das Spiel um das Geld. Das ist kein Spiel mehr, bei dem es nicht Ernst ist, es wären denn die Einsätze so niedrig, daß Gewinn und Verlust noch als Spaß betrachtet werden kann. Sonst ist es eine erbärmliche sittliche Häßlichkeit. Ein Spieler ist von dem Standpunkt der Aesthetik eine widerliche Erscheinung, wogegen ein Mörder, Räuber eine ganz vortreffliche Figur macht. Beim Hazardspiel spielt man ohne zu spielen. Das wahre, schöne Spiel ist aber Ernst ohne Ernst.


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