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§ 2.

Uebergang zur Ausführung. Unzureichende innere Ordnung des Phantasiebildes, daher notwendig die geistige Vorarbeit der Komposition, welche die Form als Einheit in der Mannigfaltigkeit nach ihren einzelnen Gesetzen (vgl. 1.Teil, § 8: bestimmte Abgrenzung, Maß, klare innere Teilung, Regelmäßigkeit, Symmetrie, Proportion, lebendige Harmonie) erst wahrhaft herstellt. Andere Seite der Vorarbeit. Die Notwendigkeit erneuter Naturstudien. Bleibender Wert des Naturschönen. Ueber das Prinzip der Naturnachahmung.

 

Wenn der Künstler ans Schaffen geht, so wird er immer finden, daß sein innerlich Geschautes nach zwei Seiten noch unreif ist, erstens, daß es noch nicht recht zusammenstimmt, und zweitens, daß es noch nicht vollkommen deutlich und naturwahr ist. Nun beginnt die liebe Arbeit und Not. Er muß organisieren, und er muß, auf das schärfste beobachtend, in eine Welt von Einzelheiten hinein. Was er gestalten will, findet sich in der Natur so nirgends; Ansätze, Anklänge, zum Teil auch ganze Stücke davon sind wohl vorhanden, aber im weitaus Wesentlichen muß er es erst herstellen.

Wenn nun der Künstler daran geht, auszuführen, was er sich im Inneren vorstellt, so wird er es zuerst versuchen mit einer Skizze. So hält es der Architekt, der Bildner, der Maler. Der Musiker probiert an einem Klavier, wie die Töne zusammenstimmen. Der Poet muß sich einen Entwurf machen. Wer wird meinen, es entstehe ein Kunstwerk, wenn er sich einfach hinsetzt und anfängt zu schreiben, was ihm einfällt? Nur liederliche Dichter thun das. Wenn nun der Künstler seine Skizze ansieht, so wird er immer finden: da und da fehlt etwas, um die durchblickende Seele des Ganzen gehörig ins Licht zu setzen; hier ist etwas zu matt, dort zu stark. An dieser Stelle muß er ein ganz neues Stück anfügen und, ist er ein Dichter, etwas hinzu erfinden, um eine Nebenhandlung nachher richtig durchzuführen und in der Haupthandlung organisch eingreifen zu lassen. An jener Stelle muß etwas heraus, woran er vielleicht mit Liebe gehangen hat; es muß weg, weil es dem Ganzen schadet. Der Laie – ich brauche das Wort, ohne vornehm zu thun gegen den, der noch keine durchgebildete Kunstkenntnis hat, wir alle fangen ja als Laien an – frägt sich nicht, wie die Teile sich zu einander verhalten. Er weiß kaum, daß dieses Rot hier gar nicht wirken würde, wenn nicht daneben dieses Grün oder Weiß oder dieser Schatten wäre, noch dieses Weiß oder Grün oder dieser Schatten, wenn in der Nähe nicht Rot wäre. Das gilt von allen Künsten Vgl. oben S. 58 und 134 ff.. Nehmen Sie irgend eine eindrucksvolle Scene in einem guten Drama. Sie würde uns ohne das, was vorangegangen ist oder folgt, nicht so erregen. Die Teile dienen einander zur Unterlage, heben und dämpfen, stützen und halten sich. Es ist eine Wechselspannung in allem, vergleichbar einem kunstreichen Gewölbe oder einem Netz, worin eine Masche in die andere greift. Daher ist es außerordentlich gewagt, ein Kunstwerk gleich fertig zu machen oder, um ein Malerwort zu brauchen, alla prima zu malen, statt mit der Skizze zu beginnen und erst zuzusehen, wie die Formen, Farben, Töne zusammenpassen und aufeinander wirken.

Kurzum: der Künstler muß vorerst komponieren, das heißt ordnen, Einheit in der Mannigfaltigkeit schaffen, seinem Werk die innere Oekonomie geben und es zu einem Gebäude machen, worin alles einander gegenseitig trägt und stützt.

Die philosophische Frage der ästhetischen Form überhaupt hat uns im ersten Teil (§ 8) schon auf ihre Gesetze geführt, und ich habe schon damals so viele Beispiele künstlerischer Komposition gebracht, daß ich jetzt darauf zurückverweisen kann.

Wir mußten damals die einzelnen Eigenschaften ästhetischer, also namentlich künstlerischer Erscheinung untersuchen: bestimmte Abgrenzung, Maß, klare innere Teilung, dann Regelmäßigkeit, Symmetrie und Proportion, wobei wir es mit eigentümlichen Schwierigkeiten zu thun hatten. Diese formalistischen Gesetze gelten nachweisbar bis zu gewissen Grenzen, dann entwinden sie sich und entfliehen uns. Symmetrie zieht sich auch hinein in die darstellenden Künste, und wir haben dies bis zu einem gewissen Grade an der Laokoongruppe gefunden. Daraus hat man für die Bildkünste die Pyramidalform abgeleitet. Aber das entweicht uns unter den Fingern und Augen; denn was soll die Pyramide, wenn ein Gemälde entschieden koloristisch ist und von einer Farbenwirkung, welche die Formen der dargestellten Gegenstände an Bedeutung weit übertrifft? Da korrespondiert z. B. die Schattenmasse rechts mit dem Lichteinfall links. Das ist aber nicht mathematisch bestimmbar, da gibt es keine Größenberechnung mehr. – Der menschliche Körper ist symmetrisch, aber die Bewegung hebt die Symmetrie immer irgendwie auf, und dann muß der Künstler nach einem anderen Bezuge suchen, der in der aufgehobenen Symmetrie dennoch wieder eine Einheit herstellt; er verwertet das gegenseitige Balancieren der Glieder Vgl. S. 126, 130, 131.. – Dann die Frage der Proportion, des Verhältnisses ungleicher Teile unter sich. Wir kamen auf die Lehre vom goldenen Schnitt und mußten ihren zweifelhaften Wert erfahren. Ein bestimmter Kanon läßt sich auch dafür nicht formulieren. Es gibt keinen Proportionsschlüssel, der alle Thüren öffnet. Diese mathematisch ausgesprochenen Formgesetze gelten und gelten wiederum nicht; es ist nicht mit ihnen auszukommen; sie sind nur bis zu einer gewissen Grenze faßbare Niederschläge des inneren Lebens, das durch ein Kunstwerk gehen soll.

Dieses innere Element ist aber durch den freieren Begriff Harmonie bezeichnet, der zugleich die Eigenschaften der Regelmäßigkeit, Symmetrie und Proportion, sowie die der bestimmten Abgrenzung, der klaren Teilung und des Maßes in sich schließt. Der Ausdruck ist aus der Musik genommen und bedeutet ursprünglich nur das meßbare Wohlverhältnis der Töne, also etwas rein Exaktes, Quantitatives. Aber er hat so, wie wir ihn jetzt zu verstehen pflegen, nicht nur einen weiteren Umfang der Bedeutung gewonnen, indem er alle bisher genannten Bestimmungen ästhetischer Form umfaßt, sondern auch einen tieferen, lebendigeren Sinn, obwohl er an sich und mit diesen Bestimmungen auf seinen exakten Ursprung zurückgeht Vgl. oben S. 128, 131, 134.. Er enthält den inneren Grund aller Wohlgefälligkeit; und dieser innere Grund ist die lebendige Seele des Kunstwerks. Es geht, den Sinnen fühlbar, ein Strom durch alle seine Teile, wie durch unsere Körper ein Blutstrom geht, in alle Glieder dringend und zurückkehrend zum Herzen. So wird das Kunstwerk organisch und seine Teile erscheinen uns wie Glieder an einem lebendigen Leibe. Der Ausdruck Harmonie bezeichnet also ein unendliches Plus, und es wird an ihm klar, was sich ja natürlich von selbst versteht: daß die Zahl, obwohl sie uns als Zeichen für innere Ordnungen dient und namentlich in der Musik eine so wichtige Rolle spielt, nicht das Wesen der Kunst ist.

Wir haben dann gesehen, wie die Harmonie Kontraste setzt und löst. Die Mannigfaltigkeit der Glieder schreitet zu Gegensätzen fort. Kein Kunstwerk wirkt ohne Kontraste. Die Folie ist von größter Wichtigkeit. Der Diamant leuchtet anders auf dunklem Grund und anders auf einer warmen als auf einer kalten Farbe.

Einer der Belege, die ich Ihnen seiner Zeit hiefür gab, ist der letzte Teil des ersten Aktes in Shakespeares Drama Macbeth. Zur Ergänzung will ich heute noch hervorheben, was der sechsten Scene vorausgeht. König Duncan ladet sich nach Inverneß, Macbeths Burg, ein. In diesem ist bereits der Mordgedanke aufgestiegen. Nun könnte der Dichter einfach den unmittelbar zu erwartenden Besuch des Königs vermelden, und, ohne ihn vorzuführen, die Mordthat folgen lassen. Bei Shakespeare aber hat Macbeth seine Gattin begrüßt, sie haben in unheimlichen Andeutungen den Entschluß gefaßt, und jetzt kommt der gute König und erfreut sich der balsamischen Luft an diesem Ort. So arglos tritt er in die Hölle des Hauses ein. Zuerst sehen wir ihre »schwarze Nacht«, dann dies helle Friedensbild, das ihr nun sogleich verfallen wird. Nehmen Sie das Eine oder das Andere weg, so ist die Wirkung ganz zerstört.

Die Kontraste können unter Umständen mit der größten Schärfe dastehen, können mit überraschender Kühnheit einbrechen, dennoch bleibt wahr, was ich schon damals gesagt habe: daß sie zu motivieren und zu lösen sind. Jede ihrer Stufen soll am rechten Orte stehen. Vorbereitung, Entwickelung, Ausbruch und Lösung soll zu rechter Zeit stattfinden.

Für das Drama ergibt sich daraus zunächst die Dreizahl. Im ersten Akt die Exposition, die Keime; im Zweiten die Entfaltung; im dritten, wo die Handlung auf ihrer Höhe angelangt ist, die Katastrophe und der ablaufende Schluß. Diese Dreizahl teilt sich, wie die menschliche Hand, zu einer Fünfzahl, weil das Aufsteigen zum höchsten Moment und das Absteigen zum Schluß mehr Entwickelung fordert als der Anfang und der Ausbruch. –

Also Einleitungen, Uebergänge. Wir erschrecken doch auch, wenn wir etwas schon vorher sehen. Auch das Schroffe darf in der Kunst nicht so schroff wie in der Natur sein.

Beachten Sie z. B., welche furchtbaren Tonmassen Mozart in seinem Don Juan bei der Erscheinung des Geistes entfaltet, wie er sie einleitet und durch mildere Einsätze erträglicher macht! Erinnern Sie sich an die höchsten Momente in Trauerspielen, z. B. in Shakespeares Lear und Richard III., wo die äußersten Qualen der Spannung uns schnüren, die Blitze und Donner der Entscheidung uns entsetzen! Wir hören das Brüllen der Wut und den Wehschrei der zertrümmerten Welt, aber dazwischendurch immer wieder auch die weich klagenden, bittenden Flötentöne des mißhandelten Gemüts und des himmlischen Mitleids.

Als ein Beispiel für die Dämpfung des Schroffen können Sie auch die Laokoongruppe betrachten. Da haben Sie den entsetzlichen Kontrast zwischen diesen drei Sterbenden und der geisterhaften, von der Gottheit gesendeten Schlange. Dieses Jammerbild ist so furchtbar, daß es sich der Grenze des künstlerisch Darstellbaren nähert. Dennoch müssen Sie bewundern, wie das Alleräußerste des Grassen gedämpft ist und zwar durch die Fügung der Formen. Die fürchterliche Schlange selbst bewegt sich doch in schöner Linie. So führt die Kunst in das Grasse weiche Kurven ein, so schwebt sie zusammenfassend, einend, ausgleichend, lösend selbst über dem zerklüfteten Chaos der Gegensätze.

Auch ein Dichtwerk soll mit einem Accord schließen. Dieser braucht ja nicht in einer hausbackenen Tröstung und Beruhigung zu bestehen, wenn doch Leiden, Verbrechen, Gewaltthat, Untergang zur Darstellung gekommen ist, aber in irgend einer Aussicht auf Versöhnung, auf Licht, in einer Zuversicht, daß die idealen Mächte trotzdem dauernd siegreich bleiben.

Don Carlos schließt accordlos, und das ist ein äußerst schwerer Vorwurf gegen diese Tragödie. Wir haben hier nur die trostlose Aussicht auf die Inquisition. Anders Goethes Egmont. Der besteigt das Schafott und blickt mit freien, heldenmäßigen Augen in die Zukunft. Und auch Shakespeares furchtbarste Tragödien bringen uns zum Schlusse ein Gefühl der Entlastung, eine Konsonanz; und wenn sie uns auch entgegen gähnen wie lauter schreckliche Wunden, es gibt doch immer ein Heilmittel.

Ist dagegen etwas komisch, dann darf es natürlich ganz wohl mit einer Spitze schließen, in welcher der Wert solchen Einklanges verpufft wird. Aber ganz anders ist es, wenn ein Dichter ernst und schön beginnt und dann plötzlich mit einer Negation abreißt. Das liebt nun Heine, und das macht freilich Wirkung, denn diese plötzlichen Effekte sind des Eindrucks der Ueberraschung immer gewiß. Sie sind jedoch vom Uebel. Solche Art abzuschnappen gehört ins Komische und zum studentischen Spaß, allein im Gebiet des gefühlten Ernstes ist sie gemein; und Heine hat gegenüber dem ästhetischen und sittlichen Empfinden unseres Volkes vieles verfehlt und viel auf seinem Gewissen. –

Die künstlerische Komposition ist es also, wodurch die Formgesetze, die ich schon im ersten Teil aufgestellt habe, realisiert werden; sie macht Ernst damit. Sie schafft Einheit, lebendige, organische Harmonie, sie setzt Kontraste und löst sie.

Bei diesem Geschäft ist nun am meisten das Denken thätig, der berechnende Verstand; jedoch niemals allein, denn auch hierin waltet wesentlich die geniale Anschauung des inneren Bildsinns. Es gibt eben verschiedenes Denken. Wir wissen ja: verhüllt in der Phantasie des Künstlers, Musikers, Dichters wirkt ein tiefes Denken ganz eigener Art, ein dynamisches Denken in Formen Vgl. oben S. 47, 51, 108.. Und diesem Phantasiedenken zu folgen und nachzugehen, das erhöht und vertieft den Genuß der Kunstwerke ganz anders, als wenn wir nur darüber hinfliegen.

Wir haben gesehen: wem es nicht wie im Traum aufsteigt, der ist kein Dichter. Das gilt aber auch vom Komponieren. Wem dieses Traumbild nicht die führende Macht ist beim kritischen Einteilen und Ordnen der ersten Skizze, beim Umstellen dieser und jener Bestandteile, beim Austilgen von Fehlern und Schlacken, beim Eintrag von Zuthaten, bei der näheren Entwickelung der Kontraste und Konsonanzen, der bringt nur kaltes, totes Zeug zu stande.

Aber wenn der Künstler mit seinem ersten Entwurf beschäftigt ist, so findet er nicht nur Mangel an Ordnung und Harmonie, sondern auch an natürlichem Ausdruck und Bestimmtheit des einzelnen. Der Uebergang zum wirklichen Darstellen und Ausarbeiten überzeugt ihn, daß sein inneres Bild zu unklar, zu bleich, zu verschwommen ist.

Dabei rede ich freilich nicht von Architektur und Musik, sondern nur von den Künsten, welche gegebene Naturformen nachahmen, also von Skulptur, Malerei und Poesie.

Denken Sie aber vorerst einmal nur an das gewöhnliche Vorstellen, noch abgesehen von dem des Künstlers. Es sind uns doch wohl die Züge unserer Freunde eingeprägt, sonst würden wir sie ja gar nicht erkennen, wenn sie uns begegnen. Wir tragen in uns eine Art von Photographiensammlung. Einen Bekannten als solchen ansehen, heißt: ihn mit dem in uns bewahrten Lichtbild zusammenhalten. Ebenso muß das Tier geistige Bilder in sich hegen, womit es dies und dies vergleicht.

Also gut, die Phantasie hat ein vortreffliches Gedächtnis. Wir erinnern uns der Gestalt jedes vertrauten Menschen. Aber wenn man nun frägt: »Wie verlaufen seine Augenbrauen, Nasenflügel? Wie ist seine Stirne geformt, wie sein Schädel gebildet, sein Kinn, sein Mund? Welche Form haben seine Ohren?« Wie steht es dann? Wir werden es häufig nicht wissen. Als der Philosoph Zeller mit einem Nekrolog Schweglers, unseres beiderseitigen Freundes, beschäftigt war, schrieb er mir nach Zürich, er erinnere sich nicht mehr, was für Augen der Verstorbene gehabt habe, – und ich wußte es auch nicht mehr, obgleich ich ihn eine Zeitlang täglich gesehen hatte. So wird es manchem in manchen Fällen gehen. Das Anschauungsbild, das ich mit meinen Augen aufgefaßt und mir geistig angeeignet habe, das ich mir auch in Abwesenheit des Gegenstandes innerlich hervorrufen kann, dieses vergeistigte Bild ist eben nur geistig und deshalb ohne nähere Bestimmtheit. Es zeichnet sich aus durch den innigen Hauch, durch die Idealität des seelischen Lebens; ja es scheint oft ganz deutlich zu sein, ist es aber in der That nicht.

Der Künstler nun faßt von vornherein, auch beim wirklichen Sehen der äußeren Erfahrung, schärfer auf, er schaut immer mit offenen, hellen Augen; und er merkt sich genauer, wie die Dinge sind.

Aber auch ihm genügt das nicht, wie er auf jede Weise erfährt. Ein Porträtmaler, und wär' er der geschickteste, wird nicht einmal die Schleife an einem Halstuch gern aus dem bloßen Kopfe malen; er muß es noch einmal ansehen, er will nicht willkürlich verfahren. Ein Landschaftsmaler, der sich auf die verschiedenen Arten des Baumschlags, auf die Schicht- und Bruchformen des Felsgesteins ausgezeichnet versteht, muß doch immer wieder die einläßlichsten Studien machen; und wenn er ein Bild malt, so muß er wieder sorgfältig nachprüfen, wie das Korn dieser Felswand beschaffen, wie diese Bäume und Büsche verästelt und belaubt, wie diese Farben getönt sind. Wer Naturstudien versäumt und Modelle selten oder gar nicht zu Hilfe nimmt, kommt zu Schaden als Künstler. Die Natur ist immer streng, und ihre unerbittliche Realität läßt sich nicht umgehen. Und daher die Skizzenbücher bei jedem Maler, die Notizen bei jedem Dichter. Das führt ins einzelne hinein und kann nachher verwendet werden. Es ist sehr interessant, darauf hin die Handzeichnungen großer Künstler anzusehen. So die von Lionardo da Vinci. Der hat immer, was er nur konnte, aufgefangen. Man sieht, wie genau er die Charaktere, den Ausdruck der Gemütsart und der Leidenschaften, den Bau und die Bewegungsformen der Menschen und des Pferdes studierte. Um die Mimik der Todesangst beobachten, ging er sogar zu Hinrichtungen.

Das Genie besitzt zwar jene geheimnisvolle Kraft, die man Intuition genannt und immer wieder zu bedenken hat, wo sich's um Kunst handelt. Es vollbringt ja das Wunder des Anscheins, als hätte es mit leiblichen Augen erblickt, was ihm doch nie vorgekommen ist. Von irgend einem ganz geringfügigen Motiv ausgehend und an dieses anknüpfend, vergegenwärtigt es eine Erscheinung, die es in Wirklichkeit nie gesehen hat, so daß wir staunen müssen, wie sie getroffen ist. Shakespeare hat gewiß niemals einen so teuflischen Bösewicht erlebt, wie Richard III. einer war; er hat dafür aus dem gesammelten Vorrat seiner Erfahrung nur vereinzelte und ungenügende Züge zur Verfügung gehabt. Aber das innerste Wesen des vollkommen Bösen ist von ihm in diesem Richard mit einer Macht ergründet, daß der Psycholog Mühe hat, ihm nachzutauchen Vergl. oben S. 77, 208, 209.. Wo bringt er es her? Aus dunklen Geistestiefen, die wir nicht durchdringen. Aber auch die Intuition trifft noch nicht genug. Wenn es an die Ausführung geht, so muß die Natur noch einmal angeschaut werden. Auch des genialsten Künstlers Innenbild ist noch verschwommen. Wir wissen: als Schiller an seinem Taucher schrieb, ließ er sich von Goethe ein Buch über die Fische kommen. Darin fand er nun den Hammerfisch und den stachelichen Rochen. – Das österreichische Militär war ihm bekannt, aber als er mit Wallensteins Lager beschäftigt war, reiste er doch nach Karlsbad, um das eigentümliche Wesen dieses Heers, die charakteristischen Typen in ihm und ihr Gehaben noch einmal recht zu betrachten; und dort hat er seinen Wachtmeister geholt. Dann sehen Sie einmal nach, was er alles zu seinem Demetrius gelesen, und mit welchem Fleiß er sich alles aufgeschrieben hat. Das scheint nun fürchterlich prosaisch, aber die Kraft war da, das in Gold zu verwandeln. Die ausführende Kunst braucht eben solche Stützen und Anhalte.

So kann der Künstler, welcher Menschen darstellt, zum Gliedermann greifen, schon wegen des Faltenwurfs. Wo es aber an Leben fehlt, da werden wir diesen durchspüren. An Beispielen wäre kein Mangel. Von der Art, wie die Falten sich legen, biegen, rollen, hat der Künstler wohl einige Erinnerung; er hat es im Leben fleißig beobachtet und in der Zeichenschule studiert, aber wenn er nun seine Gestalten ausführen will, so muß er doch wieder nachsehen und sich vorerst damit behelfen, seinem Gliedermann die Gewänder umzulegen. Aber er hat sich dabei zu hüten, daß man ihnen nicht das Absichtliche, Künstliche dieses Behelfes ansieht.

Er wird daher das lebende Modell auch dafür herbeiziehen müssen. Das kann er überhaupt gar nicht entbehren. Es kommt nur darauf an, wie er es verwendet. Ich könnte gar manche Werke anführen, die augenblicklich den Eindruck machen: da sieht das Modell heraus. Ist dagegen ein Künstler zu bequem, um seine Gestalt nach dem Modell zu prüfen, so wird er sie hinwerfen, wie aus dem Aermel geschüttelt, aber es wird ihr mindestens in einzelnem an Wahrheit fehlen. Kaulbach hat das Modell vernachlässigt und ist so in ein konventionelles Figurenzeichnen hineingeraten.

Es scheint eine eigentümliche Forderung, daß der Künstler Modelle gebrauchen solle. Man könnte daraus schließen, er lese sein Bild bloß mechanisch aus ihnen zusammen. Dazu kommt: das Modell ist immer in gespannter Haltung und droht das Bild steif und tot zu machen. Hier ist aber ganz einfach wieder zu bedenken, daß bei diesem scheinbar eklektischen Herausklauben und Kombinieren, bei diesem scheinbar mosaikartigen Zusammensuchen das Führende doch die innere Anschauung mit der lebendigen Erfahrung des unmittelbaren Lebens ist. Um dem noch zu verschwommenen Bilde, das ihm vorschwebt, Bestimmtheit zu geben, braucht also der Künstler das Modell, aber indem er es braucht, steht er doch himmelhoch über ihm, denn sonst könnte er ja das rechte Modell nicht auswählen und mit seinem inneren Bilde nicht vergleichen.

Ein berühmtes Gemälde von P. Delaroche stellt Cromwell dar, wie er den Sarg des hingerichteten Königs öffnet und seine Leiche ansieht. Das vornehme Totengesicht und der charaktervolle, hartgeschmiedete, in Formen grobe Republikaner bilden einen ergreifenden Gegensatz. Er trägt die Tracht des 17. Jahrhunderts: das Koller, den breitgekrempten Hut, die hohen Stiefel etc. Da es nun ans Malen geht, fragt sich Delaroche, wie das denn eigentlich aussieht. Und was thut er? Er läßt ein Kostüm machen und zwar auf den Leib eines Arbeiters. Der muß es vier Wochen lang anhaben und dann erst Modell stehen, denn Delaroche will die Formen und Falten, wie sie sich beim Tragen bilden.

So sehr kann ein Künstler die Nachhilfe durch Modell und Kostüm verwerten. Aber auch, was er dabei findet, hat er, wie gesagt, noch wesentlich zu ergänzen durch das besondere Gepräge der Erscheinung, wie sie als ein intimes, aber nur halb deutliches Bild in seinem Geiste lebt und wie sie in ihrem anschaulichen Wesen beschaffen wäre, wenn sie wirklich leben würde. Dann nutzt diese Nachhilfe, ohne zugleich zu schaden, dann drückt sie der Arbeit keinen mechanischen Charakter auf. Alles Verwerten des Modells muß geführt sein von der inneren Vorstellung und von der lebendigen Kenntnis wahrer, nicht modellmäßiger Natürlichkeit.

Wir sind noch einmal auf die Natur zurückgewiesen, mit welcher wir doch fertig zu sein meinten. Die Natur ist eben noch da, und wenn das Kunstwerk ausgeführt werden soll, so behauptet sie wieder ihre Rechte. Ihre Wärme, Frische, Wahrheit muß immer wieder in die Werkstatt hereinscheinen. So stünden wir also wieder beim Naturschönen.

Wir haben uns seiner Zeit überzeugt: das Schöne ist nur scheinbar in der Natur. Wenn wir meinen, es dort zu finden, so vergessen wir, daß dabei unser von innen heraus verklärendes Auge das Wesentliche bewerkstelligt. Das Schöne, sagten wir uns, ist also kein Objekt; es ist immer eine Schöpfung. Diese ist zwar zunächst hervorgerufen durch den Anblick eines besonders günstig ausgefallenen Gegenstands in der Natur, aber jeder ästhetische Wert wird ihm erst (unbewußt) hineingeschaut. Wir sehen ja mit unseren Augen nicht den Gegenstand, wie er ist, sondern schon in diesem unserem Sehen wird er verändert, resorbiert, idealisiert. Rein als Objekt genommen, würde diese Rinde, diese Haut ganz anders aussehen. Und so gelangten wir vom Naturschönen zur Phantasie, als der eigentlichen Schöpferin des Schönen. Nun aber sind wir dennoch wieder an den Gegenstand gemahnt und können vorerst einmal poetisierend sagen: Das Naturschöne rächt sich für diese Hintanstellung durch die Phantasie, wenn es ans Schaffen geht; es sagt: halt, du mußt noch einmal nach mir zurückschauen, mir noch einen Schuldenposten tilgen. – Es hat ja vor aller Kunst voraus die volle Lebendigkeit. Wie könnte z. B. ein Maler mit seinen Mitteln die Intensität des Lichtes erreichen? Oder den Glanz eines Menschenauges? Davon kann er mir durch Relationen eine scheinbare Vorstellung geben, und die ganze Naturlebendigkeit erreicht er niemals; es muß etwas davon absterben, um in seinem Werk, mit einer neuen Seele begabt, aufzustehen. Es wird alles um einen Ton tiefer gehalten und wird dafür seelischer. – Das Leben der Kunst ist ein geistiger Schein. Sie muß töten, um scheinbar zu leben Vgl. oben S. 206.. Das Naturschöne lebt wirklich. Es vereinigt in sich, was die Kunst notwendig trennen muß: Form, Farbe, Bewegung, Schall, Geruch, Geschmack. Die Kunst muß trennend töten, kann z. B. in der Plastik nicht zugleich Form geben und wirkliche Bewegung. Sie isoliert, um eine Quelle der Schönheit ganz zu erschöpfen Vgl. oben S. 202 und 207.. – Dieser Vorzug der Natur bleibt wesentlich und wirkend, wenn sich auch immer wieder fühlbar macht, daß sie ihre Frische und Lebendigkeit bezahlt mit dem teuren Preis von tausend und tausend Gebrechen, die ihr anhängen und uns hindern, sie schön zu finden. Gewiß: ihre Schönheit ist immer so oder so getrübt und beschwert, denn das Leben ist ihr immer auch ein Leiden, ein Druck. Aber wir können ja nicht über sie hinaus, selbst wenn wir meinen, Phantasiegeburten zu erfinden. Wir verdanken ihr alle Formen. Das Schöne soll sich vom Wahren nicht entfernen, und die Natur gibt das Wahre. Sie bleibt doch absolutes Vorbild und Korrektiv der Kunst.

Dies führt uns nun auf eine Debatte, die seit mehr als zwei Jahrtausenden die Geister erregt, auf die Streitfrage: Ist die Kunst Naturnachahmung oder nicht? Soll sie realistisch sein oder idealistisch?

Die Antwort kann nicht anders lauten als: ja und nein. Sie ist naturnachahmend und soll es sein, weil wir eine andere Formenwelt gar nicht haben, als die der Natur; sie ist es aber nicht und soll es nicht sein, weil sie in der Natur ein wahrhaft Reinschönes nicht findet; am relativ Schönsten in der Natur muß sie eine Umbildung vornehmen. Nachzuahmen sind die reinen, ursprünglichen Intentionen der Natur, nicht nachzuahmen ihre Schlacken, die Ansatzpunkte des Todes. Sie wissen ja, wie es geht bei falschen Alternativen, die ein »Entweder-oder« verlangen, wie da die Menschen sind. Keinem fällt es ein, zu entgegnen: warum sagt ihr nicht lieber: »sowohl als auch«? Ihr braucht ja keine Alternative.

Man hatte im vorigen Jahrhundert den griechischen Philosophen Aristoteles zu einem wahren Gesetzgeber in Kunst und Schönheit und namentlich sein Werk über die Dichtkunst zu einem unantastbaren Codex erhoben. Nun sagt er, wie Plato, die Kunst sei μίμησις, und so rief jetzt alles: »da sieht man's: Aristoteles stellt die Naturnachahmung als Prinzip auf; also kann es nicht fehlen«. Sehen Sie aber näher hin, so finden Sie, daß er unter μίμησις etwas ganz anderes versteht und zwar: zur Vorstellung bringen, objektiv schildern auf Grund eines Naturvorbildes. Er dachte dabei gewiß nicht an ein Wiedergeben mit Haut und Haar, wollte damit nichts aussagen über den Grad, in welchem man alles im Vorbilde der Natur Enthaltene nachahmen soll. Die Frage, was im Nachahmen am Gegenstand erhöht werde, was nicht, bleibt ganz ausgeschlossen. In seiner Physik ist zu lesen: »Die Kunst ahmt teils die Natur nach, teils vollendet sie, was die Natur nicht zu vollbringen vermag.« Dieses »teils, teils« ist etwas naiv. Die Kunst ahmt nach und ahmt nicht nach, sie gibt etwas, was die Natur nicht zu leisten vermag. Dazu nehme man sein bekanntes Wort: »die Poesie ist philosophischer und gewichtiger als die Geschichte.« Es gehört hierher, denn auch die Stoffwelt der Geschichtswissenschaft ist Natur, und Aristoteles stellt den Dichter höher als den Historiker, weil er aus der Geschichte den inneren Kern heraushebt. In seiner Poetik sagt Aristoteles einmal: »die guten Porträtmaler machen ihre darzustellenden Leute, indem sie sie ähnlich machen, schöner.« Er meint damit nicht, sie schmeicheln. Irgendwie verschönern muß der Künstler doch. Dort steht auch: »Sophokles stellt die Menschen dar, wie sie sein sollen, Euripides aber wie sie sind.« Wenn er das von Sophokles sagt, so wird er nicht meinen, Poesie sei bloße Nachahmung. Er weiß vielmehr, daß man nachahmen kann, was sein soll. – Eine besonders belehrende Stelle in seiner Poetik Kapitel 24. ist aber folgende: »Der Dichter selbst soll so wenig als möglich reden; sofern er dies thut, ahmt er ja nicht eigentlich nach. Homer ist der einzige, der recht weiß, was er zu thun hat. Die anderen treten durch ihr ganzes Kunstwerk hindurch selbstredend auf; sie ahmen nur weniges nach und selten; er aber, Homer, führt nach einem kurzen Anrufe an die Muse sogleich einen Mann oder eine Frau ein oder etwas anderes, und nichts ohne Charaktergepräge.« – Lesen Sie dagegen in modernen Romanen, so finden Sie, auch im besten, ganze Blätter lang einen Charakter oder eine Stimmung analysiert. Aber das ist ja nicht dichterisch, ihr Herren Romanschriftsteller! Das ist Psychologie. Ihr sollt nicht zerlegen, analysieren, sondern ein Bild geben. Führt uns Menschen vor, daß wir sie zu sehen glauben, laßt sie handeln und uns aus ihrem Thun, aus ihren Worten und Gebärden schließen, was in ihrem Innern vorgeht! So will es das Wesen der Poesie, und so will es Aristoteles.

Anschaulich machen, sächlich Vergegenwärtigen, das heißt er μίμησις; und es findet sich bei ihm und bei den Alten überhaupt nichts, was berechtigen würde, anzunehmen, sie haben die unfreie Naturnachahmung als Prinzip aufgestellt; das wäre ein falscher Schluß.

Nun haben aber die Franzosen diesen falschen Schluß gezogen. Batteux deduziert 1746 in seinem Buche » les beaux arts réduits à un même principe,« die Kunst ahme die Natur nach. »Höheres,« sagt er, »ist nicht gegeben als die Natur; man kann sie nicht übertreffen.« Aber dann kommt er darauf, daß man folglich auch das Häßliche nachzuahmen hätte, und er gibt daher zu, man müsse mit Geschmack das Rechte auswählen. So schlägt er sich selbst, denn damit räumt er ein, daß der Künstler im Gegensatz zur Natur, welche das Schöne und Unschöne konfus durcheinandermengt, ein hütendes Prinzip mitbringt, das er der Natur als Maßstab anlegt und das er in ihr Bild hineinträgt.

Der Streit ging fort. Im Kampf gegen Schablonenwesen und eitle Schönmacherei ertönte immer wieder die Losung des Naturalismus. Auch Diderot trat für ihn ein. Lesen Sie seine »Versuche über die Malerei« in der Uebersetzung von Goethe! Dieser redet immer dazwischen und weist dem geistreichen Franzosen seine Widersprüche auf.

Es läßt sich begreifen, wie man zu dieser Ansicht kam. Das Barocco und das Rokoko herrschte damals mit wild zerzausten Formen. Und wo man regelrechter war, da war man akademisch, konventionell. Man wollte z. B. einen Baum mit der Gartenschere zwingen, einen Vogel oder ein Wappen darzustellen. Das war das Prinzip der Wohlweisheit, und seine Anhänger sagten: wir wollen die Natur verbessern, übertreffen. Gegen diesen dünkelhaften Idealismus mußte eine Reaktion kommen, und sie führte zu den Erörterungen von Batteux, Diderot u. a.

Machen Sie nun aber, wie diese Franzosen, die bloße Nachahmung der Natur zum Grundgesetz und sehen Sie dann näher hin, so werden Sie finden, daß es überhaupt unmöglich ist, die Natur einfach wiederzugeben, denn dann müßten Sie das thun bis auf die kleinste Faser und das kleinste Atom. Sie dürften z. B. schon nicht sagen: dieser Mensch wurde enthauptet. Das ist keine Naturnachahmung. Sie müßten sagen: das Schwert trennte zuerst die Epidermis, dann den Genickmuskel u. s. w. In der Plastik müßten Sie auf Wachsfiguren kommen. Bei dem folgerichtigen Versuch, Form, Farbe und Bewegung in einem Wort zu verbinden, würden Sie sich zu Automaten versteigen, und das Erreichte wäre dann nicht ästhetische, sondern gespenstische Illusion, nicht Kunst, sondern Künstelei.

Wenn man von Zeuxis erzählt, er habe Trauben so natürlich gemalt, daß die Vögel darauf gepickt haben – wenn Zeuxis das wirklich gekonnt hat oder gekonnt hätte –, so wäre das noch kein Beweis von seiner hohen Kunst. Täuschung ist nicht die Absicht der Kunst. Gesetzt, es gelänge, Trauben so täuschend nachzuahmen: zu was brauchen wir dann eine pure Doublette? Da erfreuen wir uns lieber am Original. Man kann zwar auch dann das geschickte Machwerk bewundern, aber dazu ist uns die Kunst nicht gegeben. Sie schließt eine höhere und andere Freude in sich ein als die des Nachahmens und Täuschens.

Rumohr, ein Mann von ungemein feinem Sinn, dem wir vorzüglich die Kenntnis der Präraphaelisten verdanken, hat in seinem trefflichen, jetzt allerdings zum Teil ausgelebten Buch des Titels: »Italienische Forschungen« einen Abschnitt über den »Haushalt der Kunst«, wo er sehr stark eifert gegen die häufige, von den Eklektikern bei jeder Gelegenheit wiederholte Behauptung, die Kunst müsse die Natur verbessern, ergänzen, verklären, überwinden, überflügeln. Er kommt immer wieder darauf, sie müsse froh sein, wenn sie die Natur erreiche. Aber eine Wahrheit, die an sich begründet ist, wird durch solche Behandlung magisterhaft. Und Rumohr bestätigt doch auch einmal, was er bekämpft, mit dem Wort, der Künstler müsse »die Natur in ihre zeugende Kraft hinein verfolgen«. Damit gibt er zu, daß man an ihr immer vieles findet, worin ihre lebendige Wirksamkeit verdunkelt ist. Und dies räumt er an einer anderen Stelle ausdrücklich ein, wo er sagt, daß »den Ideen der Natur gar viele Bedingungen widerstreben«. Daraus folgt, daß man auswählen muß; damit ist ein Prinzip anerkannt, das über der Natur steht.

Lesen Sie einmal Schellings tiefgehende Rede »über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur«. Da beleuchtet er, wie der Künstler die Natur anschauen, dann aber zurücktreten muß, um das Unwesentliche auszuscheiden und hineinzudringen in das Geheimnis ihres schaffenden Geistes. Er erklärt die Natur als eine Art von plastischer Wissenschaft, als einen unbewußten Verstand, dessen Gedanken gleichzeitig auch Thaten sind, der in Formen und nur in Formen denkt. Diese sind aber, wie weiter gezeigt wird, dem Zufall ausgesetzt, der aus der unendlichen Kreuzung aller Wesen folgt; sie haben unendlich viele Feinde und können nie ganz und voll herausquellen. Der Künstler nun, der Jünger dieser bewußtlosen, aber genialen Wissenschaft, welche die Natur ist, hat ihre ursprünglichen Intuitionen herauszufühlen; er hat hervorzuholen, was sie selbst teilweise verhüllt.

»Denn die Kunst steckt wahrhaftig in der Natur. Wer sie heraus kann reißen, der hat sie,« ein prächtiges Wort von Albrecht Dürer; man kann's nicht besser sagen. Die Natur selbst ist eine Künstlerin. Aber diese Künstlerin in ihr ist auch wieder verhüllt, ihre unermeßliche Bildkraft ist in zahllos vielen Fällen zerstreut, durchkreuzt, gehemmt, ihr Brunnen verborgen und verschüttet von Zufällen, Krankheiten.

In Goethes Anmerkungen zu Diderots »Versuch über die Malerei« steht ein Satz, in dem alles zusammengefaßt ist, was er gegen ihn einzuwenden hat: »Und so gibt der Künstler, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete zurück!« Wie echt Goethe'sch: »dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte!« Aus demselben Schoße, woraus die Natur all' ihre Gestalten geschaffen hat, stammt ja auch der Künstlergeist, und nur daher hat er die Ahnung, was die Natur gewollt hat. Also sind wir nicht wohlweis gegen die Natur, wenn wir sagen: in gewissem Sinn hat sie der Künstler zu verbessern, sondern die Meinung ist ja nur: die Kunst hebt die reinen, ursprünglichen Absichten der Natur aus dem Nebel, der so häufig auf ihnen liegt. Sie gibt ein Nachbild des Wesentlichen und abstrahiert vom Unwesentlichen.

»Naturnachahmung oder nicht?« ist also eine Vexierfrage. Wir halten uns weder zu dieser noch zu jener Partei. Die Prinzipienreiter des Naturalismus und die Prinzipienreiter des Idealismus haben beide recht und beide unrecht; und eben darum sind ihre Gegensätze so scharf gegeneinander gespannt. Unsere Antwort bleibt Ja und Nein. Die Phantasie ist das Korrektiv der Natur, wo diese getrübt, und die Natur das Korrektiv der Phantasie, wo diese willkürlich ist.

Ein Bildhauer sagte mir einmal: »mein Prinzip ist die Wahrheit.« Ich meinte: Ja, ganz gut! Aber was ist Wahrheit? Freilich, die Frage in anderem Sinne gemeint, als in dem von Pilatus. Man prüfe daraufhin z. B. eine Porträtbüste. Was ist die Wahrheit dieses Gesichts? Ist es das wahre Gesicht dieses Mannes, wie es in Wirklichkeit aussieht? Wird man photographiert, so befindet man sich in einem Zustande der Spannung, und diese bekundet sich im Antlitz. Man wartet bis der Moment kommt, wo man geköpft wird. Nun fixiert der Mechanismus des Apparats dieses Gesicht; er kann fürchterlich genau treffen, eine entsetzlich scharfe Wahrheit geben. Aber diese photographische Wahrheit ist eine vollendete Unwahrheit, denn das Original hat in diesem Moment eben doch nicht sein wahres Gesicht gehabt. Der Künstler dagegen, der wahre Künstler kann und darf nicht ganz naturtreu sein. Warum? Eben weil er wahr und naturtreu sein muß. Wahrhaft getroffen ist bloß das idealisierte Porträt, vorausgesetzt, daß es den in ihm dargestellten Menschen nicht im falschen Sinn idealisiert, nicht fad beschönigt zeigt. Das im Sinne des Photographen am besten getroffene Bildnis ist also eigentlich das am wenigsten getroffene.

Was ist Wahrheit? Der Künstler zieht aus einer Reihe von Momenten eine Quintessenz; er muß hinter die Oberfläche zurückgehen und den Kern erfassen. Diesen geistigen Akt kann eine Maschine nicht vollziehen. Will der Künstler die Wahrheit eines Gesichts, so kann er sie nicht in diesem einen Augenblicke darauf schwebend finden, sondern er muß sie nach und nach erforschen und aus einer Mehrzahl von Eindrücken destillieren; so wird sein Gebilde nicht gemein wahr wie ein Lichtbild, sondern tief wahr. Dannecker hat Schiller im vollsten Sinne des Wortes idealisiert. Schiller sah gewiß in keinem Augenblicke seines Lebens so machtvoll aus, so stark blickte das Mark seiner Persönlichkeit gewiß niemals aus seinen Zügen, und dennoch ist diese Büste Schillers ganz wahr. Als man Dannecker dazu aufgefordert hatte, schrieb er an Wolzogen: »ja, ich will ihn machen wie lebig, aber dann muß ich ihn kolossal machen.« Die Uebergröße des Maßstabes ist nicht naturwahr, sondern symbolisch, sie drückt aber so schlagend den mächtigen Geist aus, daß wir uns keinen Augenblick an ihr stoßen; ihre Unwahrheit erscheint uns höchst wahr. So hat Dannecker seinen Schiller hingestellt, wie er ist. Nicht leicht findet sich sonst ein Werk, worin mit solcher Genialität der Typus eines weltgroßen Mannes erschaffen ist; und kein Künstler kann etwas Besseres thun, als sich an Dannecker halten, wenn er Schiller darstellen will.

Sie erinnern sich an jenen merkwürdigen Brief, worin Raphael dem Grafen Castiglione schreibt, um eine Gestalt wie die Galathea zu malen, müßte er mehrere schöne Frauen vor sich zur Wahl haben, allein da an solchen Mangel sei, bediene er sich einer gewissen Idee, die ihm in den Sinn komme Vgl. S. 204 oben.. Seine Phantasie sieht in sich das weibliche Idealbild. Aber wäre das möglich, wenn er nicht selbst vorher oftmals schöne Frauen gesehen hätte? Und könnte er es malen, ohne wenigstens für gewisse Teile schöne Modelle zu haben? Das Ideal schwebt nicht in der Luft, es steht vielmehr in dem Verhältnis eines gleichsam chemischen Prozesses zu dem angeschauten Naturschönen, es zieht Teile herüber und läßt Teile zurück. Dieser Prozeß vollzieht sich unbewußt. Daher lautet die Aeußerung Raphaels auch naiv, und das ist ja ganz nett.


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