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§ 4.

Es folgt, daß die ästhetische Anschauung nicht auf das Was, sondern nur auf das Wie, nicht auf den Stoff, sondern auf die Form gerichtet ist. Die Form ist Einordnung des Stoffes zur Einheit in der Vielheit, also Harmonie. Sie ist nicht selbst Stoff, nur Gesamtwirkung aller Teile des Stoffes, in diesem Sinne nur Oberfläche, also sinnlich-unsinnlich. Der Gegenstand wird zum bloßen Bilde, zum bloßen Schein. Erscheinung. Die ästhetische Form kann nicht bloße Form in dem Sinne des quantitativen Verhältnisses sein wie die mathematische, obwohl die letztere teilweise in das Gebiet der ästhetischen greift.

 

Das ästhetische Augenmerk geht nicht auf das »Was«, sondern auf das »Wie«, nicht auf das, was hinter der Oberfläche ist, sondern auf sie selbst.

Denken Sie an eine Landschaft, die Ihnen schön erscheint! Da werden Sie nicht fragen, was ist der Gehalt der Dinge, die ich hier sehe, nicht fragen nach der inneren Beschaffenheit des Gesteins, des Wassers, der Pflanzen. Der unmittelbare Vordergrund wird zu Ihrer ästhetischen Stimmung wenig beitragen, denn er ist zu nahe, seine Wirkung zu stofflich. Im Mittelgrund legt sich jedoch eine Luftschichte dämpfend über die Körperlichkeit der Dinge. Und je weiter sie sich von uns entfernen, um so mehr verdichtet sich dieser feine Schleier und die äußerste Ferne ruht (namentlich im Süden) in einem blauen Dufte, der von den Formen wenig und zuletzt gar nichts mehr sehen läßt. Ohne dieses zarte Gewebe der Luftperspektive, das die Gegenstände als solche verschleiert, würde die Landschaft so stimmungsvoll nicht wirken. Die Probe machen wir mit dem Gegenteil. Bei Föhnluft tritt eine merkwürdige Helle ein, wobei die Ferne viel näher erscheint (man kennt das als Regenzeichen); und ähnlich verhält es sich, wenn ein Gewitter die Dünste aufgezehrt hat. Bei solcher Luft wird nun die Ferne ganz ordinär deutlich. Das Gebirge rückt so nahe heran, daß man meint, sein Gestein greifen und Gneis, Granit, Kalk unterscheiden zu können; und damit ist die ganze Landschaft unpoetisch geworden, sie macht uns nicht mehr den Eindruck eines Bildes. Ganz anders, wenn der idealisierende Duft darüber liegt. Da sagen wir: »das ist wie gemalt«. Die Natur hat hier zufällig dafür gesorgt, daß sie für das menschliche Auge zum Bilde wird. – Der Tod ist auch so ein blauer Schleier, der den verklärt, der sich selbst zu überleben wert ist.

Denken Sie sich ferner Menschen, in irgend einer Beschäftigung begriffen, etwa in einem sehr lebhaften Gespräch, wobei es schließlich Händel gibt. Folgen Sie nun mit sächlichem Interesse dem Vorgange, ist Ihnen wichtig, was man spricht, was hier geschieht und warum, sind Sie gar mit Leidenschaft beteiligt, so wird Ihnen diese Menschengruppe kein Bild. Es kann aber ein Moment kommen, wo Sie sich sozusagen ausscheiden, Distanz nehmen, ganz objektiv die Leute ansehen, ihre Figuren, Köpfe, Gebärden, Stimmen, dazu die Beleuchtung, den Raum, die Umgebung; und jetzt wird Ihnen das Ganze zum Bild, zum Schauspiel.

Von Leonardo da Vinci wird erzählt, er habe einmal eine Menge Bauern zu einem Gastmahl eingeladen und ihnen so lächerliche Geschichten erzählt, daß sie vor Lachen die tollsten Gebärden machten. Gleich nach ihrer Verabschiedung habe er dann ihre Gesichter und Grimassen aus dem Kopfe nachgezeichnet. Sie mußten ihm aufspielen; und so ist jeder Künstler. So holt sich Goethe in Thüringen »einige Motive, wie Enten im Fluge geschossen«. In »Wahrheit und Dichtung« erzählt Goethe, wie er als Student in Dresden, da ihm von seinem Vater eine äußerste Abneigung gegen Gasthöfe eingeflößt worden war, bei einem Schuster, dem Verwandten seines Leipziger Stubennachbars, wohnte. Er sah sich dort mit Entzücken in der Galerie um. »Als ich nun,« sagt er, »bei meinem Schuster wieder eintrat, um das Mittagsmahl zu genießen, trauete ich meinen Augen kaum; denn ich glaubte ein Bild von Ostade vor mir zu sehen, so vollkommen, daß man es nur auf die Galerie hätte hängen dürfen. Stellung der Gegenstände, Licht, Schatten, bräunlicher Teint des Ganzen, magische Haltung, alles, was man in jenen Bildern bewundert, sah ich hier in Wirklichkeit.« Das heißt die Gegenwart als Schein sehen, so sieht der Künstler. So verhalten wir uns, wenn wir ästhetisch betrachten. Wir schneiden die Nabelschnur zwischen uns und dem Objekt entzwei, dann ist es ein Bild. Goethe hatte in Italien fast kein Auge für die innere Stumpfheit des dortigen Lebens, aber er schaute und schaute. Man mag es von anderer Seite tadeln. Doch wie reiste Herder in Italien? Er murrt beständig, sieht überall nur Mißbräuche. Er hat den moralisch gerechten Eifer, aber er bringt es niemals zur ästhetischen Betrachtung.

Ariost wurde einmal von seinem Vater sehr gezankt. Er war gerade an einem Lustspiel und brauchte einen polternden Vater. Den studierte er nun an ihm. Das war freilich frevelhaft. In diesem Zusammenhange durfte er ihn nicht als Bild auffassen. Aber an und für sich ist diese Objektivität weder frivol noch unfrivol, sondern ästhetisch.

Wenn wir einen Gegenstand künstlerisch betrachten, ist er also nur Bild, nur Schein. Aber nicht leerer Schein, sondern Erscheinung. In der Aesthetik brauchen wir ja das Wort Schein nicht im Sinne des Richtigen, sondern um etwas Rechtes zu bezeichnen. Wir sprechen vom rechten bloßen Schein. In der Kunst lassen wir uns ja lauter Schein gefallen. Sie macht ja den bittersten Ernst aus dem Satze: das Schöne ist nur Schein. Das hinter der Oberfläche einer Statue Liegende, was geht es uns an? Und was ist ein Gemälde anderes als ein mit Farben auf eine Fläche geworfener Schein?

Dies führt nun auf die Frage: was ist die Form? Wenn ich die Form sinnlich-unsinnlich nenne, so klingt das paradox, ist aber nicht so schwer zu erfassen.

Die Thätigkeit im Schönen, sahen wir, ist ein Denken in Formen, ohne daß dabei eigentlich gedacht wird, ohne Begriff. Der Künstler denkt in Formen, sein Denken selbst erhebt sich in Formen. Er hat dazu wohl auch manches in Begriffen zu denken, aber das ist nicht das Wesentliche in seinem Verhalten. Wenn ein rechter Bildhauer, Maler, Dichter seine Aufgabe ins Auge faßt, so leben ihm gleich Figuren auf, Bilder; und dies Formenschauen ist sein eigentliches Denken. Lesen Sie z. B. einen Roman, so kommt es nun darauf an, ob der Dichter für Ihr inneres Schauen Situationen zu schaffen vermag, welche sich lebendig anfühlen, wobei sich die Gestalten vorstellen müssen. Diese Intuition ist sein Denken. Goethes Wahlverwandtschaften z. B. ist ein Roman, der allerhand Unliebsames hat, aber den großen Dichter erkennen wir allein schon an einigen Situationen, z. B. daran, wie Ottilie über das Kind sich herbeugt; das ist, als hätte es Raphael gemalt. Sie mögen sagen: »ja, das ist die Schönheit des Mitleids«, aber es ist die Schönheit des Bildes, die uns hier ergreift; das können Sie niemals mit Begriffen erschöpfen.

Was ist nun die Form? Ganz allgemein will ich zunächst sagen: eine Ordnung, wodurch eine Vielheit von Stoffen in eine Einheit gesammelt ist, Herstellung der Einheit in der Vielheit. Form ist Harmonie, dadurch erzeugt, daß Stoffteile zu Stücken, Gliedern eines einheitlichen Ganzen werden. Aber, wie der Paragraph sagt: » Form ist nicht selbst Stoff, nur Gesamtwirkung aller Teile des Stoffs, in diesem Sinne nur Oberfläche, also sinnlich-unsinnlich«, ungreifbar, bloßer Schein. Das ist das Eigentümliche, nicht leicht zu Denkende an der Form, daß sie an Sinnlichem erscheint, sinnlich bedingt und doch, sinnlich genommen, ein Nichts ist.

Sehen Sie z. B. eine Statue an, oder eine lebendige Menschengestalt! Was ist eigentlich daran Form? Bei der Statue ist sie überall da, wo der Marmor oder das Erz aufhört, wo nichts mehr ist. Ueberall da hat der Bildhauer weggeschlagen, wo er will, daß der Stoff nicht weiter gehen soll. Im lebendigen Menschenleib ist die Masse überall bis zu einer gewissen Grenze geschoben, wo seine wirksamen Kräfte nicht mehr weiter vorwärts gehen.

Hogarth gibt den Rat, jeden Gegenstand so zu betrachten, »als ob alles, was inwendig darinnen ist, so rein herausgenommen sei, daß nichts übrig bleibt, als eine dünne Schale, die man sich aus reinen Linien gebildet vorstellen muß und deren innere und äußere Fläche natürlich ganz gleich ist«. Ferner macht er zu diesem Zwecke folgenden Vorschlag: Man nehme eine Figur von Wachs, stecke, so viel man kann, Drähte hindurch und streiche ihre frei herausragenden Teile mit einer Farbe an. So hat man überall, wo die Farbe aufhört, die Form. Durch Punktieren bezeichnet sich der Bildhauer die Grenzen, bis zu welchen vom Marmor wegzuschlagen ist. Die Totalität dieser Punkte ist kein Etwas. So erweist sich auf dem umgekehrten Weg, von außen nach innen, was an der lebendigen Gestalt von innen heraus erscheint. Wo der Körper seine Masse nicht weiter getrieben hat, da ist die Form. Sie liegt in seinen Grenzen. Sie befindet sich, wo er aufhört und ist doch sein Produkt. Die Oberfläche der Dinge ist eben da, wo sie enden, aber freilich mit dieser Oberfläche berühren sie sich auch mit uns. Also ein Etwas und ein Nichts, ein Nichts und ein Etwas.

Beim Zeichnen geben Sie die Grenzen der Körper durch Linien an. Sie werden nun sagen: diese Linien sind doch etwas. Allein können Sie das auch von ihren Formen als solchen behaupten? Diese ihre Formen sind an und für sich nicht etwas, und sie entsprechen den für sich unfaßbaren Formen der Dinge, worauf sie sich beziehen. Die Oberfläche, welche sie beschreiben, ist nicht wieder ein Körper, nicht selbst eine Linie. Sie können sich dies bei der Ausführung klar machen. Wenn Sie mit dem Stift schattierend, oder mit Farben malend, das ergänzen, was innerhalb der die Grenzen bezeichnenden Linien ist, so werden diese Linien aufgehoben, sie verschwinden in den dargestellten Massen der Körper. Und so bestätigt sich, daß die Umrißlinie ein Nichts gewesen ist, eine bloße Erscheinung.

Wie verhält es sich aber mit der Farbe? Ihre Atome gehen uns so wenig an, wie die Stoffteile, womit die Linie fixiert wird. Aber wir haben es hier mit ihrer Gesamtwirkung auf unser Auge zu thun. Diese Wirkung bezeichnen wir, je nachdem, mit rot, blau, gelb. Die Farbennamen bedeuten aber nicht Stoffe, sondern Erscheinungsvorgänge. Wir drücken damit aus, wie etwas unserem Auge erscheint.

Die Farbe ist also, wie die Form, ein auf die Oberfläche geworfener Schein, etwas sinnlich Negatives. In der Nichtigkeit des Sinnlichen, da fängt erst das Höhere an.

Und worin besteht die musikalische Schönheit? Die im Tone bewegte Luft, also was, sozusagen, hinter seiner Wirkung sich befindet, ist auch Stoff. Aber die einzelnen Luftwellen, die sich im Schall einer Sekunde zu tausenden schwingen, kommen uns dabei nicht zum Bewußtsein; das geht uns nichts an, sondern der Eindruck auf unser Gehör. Die Luftwellen sind also ein körperliches Nichts für uns.

Und was gibt der Dichter? Da haben Sie eigentlich einen Stoff im Sinne der körperlichen Materie nicht. Wenn wir im Gebiet der Poesie von Stoff reden, so hat dieser Begriff eine andere Bedeutung. Wir können die einzelnen und einzelsten Teile, woraus ein Gedicht besteht, seinen Stoff nennen, aber daran denken Sie nicht, wenn Sie seine Gesamtwirkung, wie sie in uns übergeht, im Auge haben.

So ist die Form ein geistiger Mantel, der über die Materie geworfen wird. Doch freilich, das in diesem Vergleich gebrauchte Bild ist immer noch zu sinnlich. Sagen wir also: die ästhetische Form ist ein vorhandenes Nichts am Sinnlichen, das geistig wirkt, ein körperliches Negativ, das zu einem Positiv wird, also bloßes Bild, Schein, aber, wie gesagt, nicht leerer Schein, sondern Erscheinung. Wir gehen mit unseren Gedanken gar nicht dahinter. An einer Statue beschäftigt uns nicht ihre Masse, an einer lebendigen Gestalt nicht ihre innere Körperlichkeit. Sie spielt zwar mit im ästhetischen Gefühl, aber ganz leise und nicht so, daß wir uns näher darauf einließen; wir bleiben auf die Form konzentriert.

Das Schöne liegt also in der Form, und die Form, haben wir gesagt, ist ein einheitliches Zusammensein von Stoffteilen. Jetzt könnte es scheinen, als ob sich daraus ergeben müßte, daß das Schöne mathematischer Natur ist. Wenn man einfach sagt: das Schöne liegt in den Verhältnissen und die Einheit, welche durch dieselben hindurchgeht, begründet Harmonie, so könnte es scheinen, das Schöne sei ganz begründet in quantitativen Verhältnissen, in meßbaren Größen, es sei rein formal.

Ueberblicken wir nun einmal alle Gebiete der Wissenschaft. Wo kommt denn Form vor, welche pure Form und ohne jeden Inhalt wäre? Nirgends als in der Mathematik, in der reinen Lehre von den Größen. Diese haben aber gar keine Beziehung zu einander. Die Zahl 30 verhält sich gegen die Zahl 33 absolut gleichgültig. Wenn die Mathematik anfängt, diese Zahlen in Verhältnisse zu setzen, so läßt sie das ganz kalt, sie sind rein tot. Die eine Seite des Dreiecks steht zur anderen absolut in gar keinem inneren Verhältnis; jene Linie will von dieser Linie rein nichts. Die Mathematik abstrahiert von allem Qualitativen.

Nun aber ist nicht zu verkennen, daß sie im Schönen eine Rolle spielt.

In der Baukunst wird gemessen. Da handelt es sich um reguläre Linien, Flächen, Körper, deren Größenverhältnisse mit Reißschiene, Winkelmaß und Zirkel bestimmt werden.

Auch greifen die mathematischen Gesetze ein auf die Plastik. Einer Statue liegen die Maßverhältnisse des menschlichen Körpers, Symmetrie und Proportion, zu Grund.

In der Musik ergibt sich das Schöne aus Tonverhältnissen. Hier ist alles meßbar; es scheint, man habe es hier mit einer Art von Mathematik zu thun. Konsonanzen sind durch Zahlen darzustellen. Dissonanzen sind mathematische Mißverhältnisse. Das ganze System der Musik kann auf Zahlen gebracht werden, und es ist kein geringer Geist, der gesagt hat: »die Musik ist eine Wissenschaft der rechnenden Seele, die nicht weiß, daß sie rechnet.«

Die Metrik in der Poesie wollen wir auch noch anführen, denn daß ein Vers so oder so wirkt, hängt sehr innig mit dem Versmaß zusammen; und dieses ist nichts als eine geregelte Folge entweder von Längen und Kürzen, oder von starken und schwachen Silben. Eigentlich quantitativ ist antike Metrik, welche sich aus langen und kurzen Füßen zusammensetzt. Im Germanischen ist es anders; hier gilt der Accent: die Zahl der gehobenen, stark betonten und die Zahl der gesenkten, leicht betonten Silben. Also hier Zählung von Silbenaccenten.

Versuchen wir aber der Gesamtanordnung einer plastischen Gruppe, eines Gemäldes, eines poetischen Werks mit exakten Maßstäben beizukommen, so zeigt sich, daß die paar Gesetze, die man hierüber aufstellt, recht arm sind. Das will ja nicht viel heißen, und man sieht bald, daß die Komposition unmeßbar ist. Da tritt der Geist ein mit dem unbestimmbaren Spiele seines Harmoniegefühls.

Wir werden also sagen: die Mathematik greift weit hinein in die Welt der Kunst, sie wird hier aber sogleich umrauscht von frei bewegten Wogen. Sie greift nicht durch. Je reiner eine Kunst, um so stärker waltet in ihr Freiheit, so daß das Mathematische zu einem bloßen Gerüste wird, überwallt und umspielt von den Formen des unberechenbaren Lebens.

Wenn nun einer daran erinnert, daß man Töne und Farben auf Zahlen reduzieren und Linien messen kann, und hieraus folgert, es müssen sich auch hinter der Komposition Zahlen verbergen, die wir schon noch finden werden, so ist ihm zu antworten: auch da, wo man noch messen kann, wo das Mathematische ins Schöne hineingreift, muß es dennoch etwas Anderes sein als in der eigentlichen Mathematik. Mit dem Anschauen des Schönen ist eine Lust verbunden, grundverschieden von der Erkenntnisbefriedigung, die wir genießen, nachdem wir ein mathematisches Problem gelöst haben. Wenn aus Verhältnissen Lustbringendes resultiert, so muß unter den Verhältnissen etwas Qualitatives stecken. Die Größen sind da nicht pure Erstreckungen, pure Zahlen; es ist ein Etwas, das sie durchströmt. Ein Bauwerk, ein Musikwerk läßt sich wohl nachmessen und nachrechnen, aber der bloße Meß- und Rechenkünstler hätte es nie erfunden. Das Geheimnis muß also wo anders liegen als im mathematischen Verhältnis.

Damit sind wir nun zu einer großen Streitfrage in der Wissenschaft der Aesthetik gelangt.

Sehen wir uns bei den Griechen um, so finden wir Bestimmungen, wonach es scheint, daß sie die Ursache des Schönen ganz in das quantitative Verhältnis gesetzt haben, in die μετριότης und συμμετρία. So bei Plato, der die rein geometrischen Körper, eine Kugel, einen Würfel, schön nennt. Wir werden es ihm nicht entgelten lassen. Sie wirken bloß angenehm auf das Auge, sind noch nicht eigentlich schön. Doch bei Plato und Aristoteles finden sich auch Stellen, worin sie ganz anders vom Schönen reden. Sie haben im Grunde eine bestimmte Formel, die das Wesen des Schönen umfaßt, noch nicht gesucht, haben es noch nicht rein für sich erklärt.

Der Satz: das Schöne ist pure Form, ist erst von dem Philosophen Herbart auf die Spitze getrieben worden, und seine Schule hat in der Aesthetik den reinen Formalismus aufgestellt. Das Schöne ist pure Form, reines Verhältnis und sonst gar nichts. Bedeutung und Ausdruck eines Inneren wirkt dabei nicht im geringsten mit. Herbarts Schüler Zimmermann in Wien hat diese Grundbestimmung seines Meisters systematisch ausgeführt und entwickelt; und sie ist namentlich in der Philosophie der Musik stark vertreten. Nach Hanslick, dem Verfasser einer Schrift »vom musikalisch Schönen«, liegt dasselbe nur in den harmonischen Tonverhältnissen, nicht im Gefühlsausdruck. Zwar ist er nicht ganz konsequent: an gewissen Stellen bricht etwas durch, wonach er den Seelenausdruck in der Musik doch wieder gelten läßt. Aehnlich Heinrich Adolf Köstlin. Er räumt ein, daß die Musik auch eine Sprache der Empfindung sei. Der einzig konsequente ist Zimmermann. Er sagt: wenn das Schöne, geistig Bedeutende, unsere Seele irgendwie Erfreuende Wert hat, Gehaltwert, so ist das sehr erwünscht, aber das Schöne besteht als solches nicht darin, sondern dann kommt zum Schönen ein zweiter Wert hinzu, dann sind es zwei verbundene Werte: der ästhetische Wert und der Inhaltwert. Eigentlich hat das Schöne mit dem Inhalt gar nichts zu thun, es ist rein ein Verhältnisleben von Teilen, von Formgliedern. Es ergibt sich in einem Kunstwerk aus dem Vorwalten des Gleichen über das Verschiedene und Entgegengesetzte. Ueberwiegende Gleichheit der Teile gefällt, überwiegende Ungleichheit mißfällt. Nur die Art der Zusammensetzung ist das Wesentliche. So nimmt es Zimmermann.

Nun versichert er zwar: ich rede nicht vom mathematisch Zählbaren und Meßbaren Nicht von einer bloß mechanischen Nebeneinanderordnung der durch das Pluszeichen verbundenen Summanden., sondern von einem Ganzen, dessen Teile in einem solchen Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit stehen, daß sie einander gegenseitig heben und beleben, wie lebendige Kräfte, psychische Akte mit Inhalt und Stärke, die einander spannen und durch diese Spannung Lust- und Unlustgefühl erregen; und er nennt dies dann qualitativ. Aber das Wort qualitativ gebraucht er hierbei in einem besonderen Sinn, wie wir es sonst nicht nehmen.

Es ist wahr, jeder Künstler und auch jeder Laie, der einem Künstler bei der Arbeit einmal zugesehen, der ein Gedicht, ein Drama, einen Roman nachdenkend gelesen hat, weiß, wie ungeheuer viel in aller Kunst die Komposition ausmacht, das Zusammensein, das Hinüberwirken eines Teils nach dem anderen.

Sie verfolgen z. B. das Verfahren eines Malers. Er hat so und so viel fertig gebracht, auf einer Stelle des Bildes Rot und Gelb aufgesetzt, aber weiter nicht gemalt. Jetzt kommt zum Gelb Blau, zum Rot Grün; und dadurch erhalten diese Farben ein ganz anderes Aussehen als vorher. Das ist ja eine Felsenwahrheit. Davon hat der naive Neuling, der gedankenfaule Laie gar keine Ahnung. Gelb wird neben Blau gelber, Rot neben Grün röter, leuchtet viel stärker auf und umgekehrt. Das ist die denkbar größte Einfachheit. Noch ganz anders, in vielfältigster Weise tritt das in Kraft, wenn die Töne in unnennbaren Verhältnissen und Wechselbezügen zur Verwendung kommen.

In einem Dichterwerke wirkt dieser Teil so, jener so, aber nur an dieser Stelle wirkt er so, und das alles wurde ungemein überlegt und oft geändert, bis es recht saß. Wie sehr wird in einem Drama der Eindruck einer Situation, eines Vorgangs durch den Kontrast gesteigert. Vergegenwärtigen Sie sich z. B. die Mordscene in Shakespeares Macbeth, das Grauen, das durch die Luft zu gehen scheint, dazu die Scene, wie der König, nicht ahnend sein Schicksal, als Gast ins Schloß eintritt und wie es ihm friedlich zu Mut ist. An allen Gesimsen der Burg nisten zutrauensvoll die Schwalben; er fühlt sich in einer harmlosen Idylle. Auf dieses friedliche Vertrauensbild ist das furchtbare Bild des Mords gesetzt. Das wirkt, wie zwei Farben sich durch ihren Kontrast heben.

Das Wechselverhältnis der Teile, die Art wie sie verbunden sind, ist also von wesentlicher Bedeutung. Aber daraus folgert Zimmermann, das sei im Schönen alles; und wir folgern dies nicht. Er sagt: es ist gleichgültig, was die Stoffe der zusammengestellten Teile an sich sind, es handelt sich nur um das Verhältnis. Malt z. B. ein Maler einen Menschen, ein Tier oder, welches Beispiel Zimmermann anführt, einen Fuchs, so sagen wir: der hat einmal den Fuchs gut getroffen. Aber Zimmermann entgegnet: nein der Fuchs ist nur ein Ständer, ein Garderoberechen für den Maler gewesen, um gewisse Nuancen von Farben anzubringen und gewisse Linienharmonien. Es ist, sagt er, nicht zu fragen: wie ist der Fuchs gelungen, sondern wie sind die Linien, die Farben in Harmonie? Ob der Dichter bedeutende oder unbedeutende Gedanken zusammenstellt, ist ganz eins; das Schöne ruht nur in der Zusammenstellung. Der Dichter mag ganz verbrauchte Gedanken bringen, wenn ihre Verbindung nur genial harmonisch ist.

Also noch einmal: Nach Zimmermann ist das Schöne nicht durch seine Bedeutung, nicht durch seinen Inhalt und seelischen Ausdruck schön, sondern durch seine Form; nur der Philister sucht es in Gehalt und Ausdruck; die Zusammenstellung macht es. Dennoch wehrt sich Zimmermann gegen die Behauptung, er nehme das Schöne bloß quantitativ; er sagt: in der Zusammenstellung leben und glühen die Teile.

Ich will dies nun widerlegen. Wenn es gleichgültig ist, was zusammengesetzt ist, dann könnte also z. B. ein Maler lauter Mißfarben, lauter Farben, die uns an Schmutz erinnern, so vereinigen, daß Einheit in der Vielheit, Harmonie entsteht. Man gruppiere also Kröten verschiedener Art zu einer Figur, worin durch die geordnete Wiederkehr derselben Species eine Einheit hergestellt ist, dann ist das schön. Nach diesem Grundsatz müßten ferner auch bloße Formen- und Farbenreihen, die nichts vorstellen, schön sein, wenn nur in ihrem gegenseitigen Verhältnis Harmonie waltet. Also malen Sie nach dem Rezept »Eines in Vielem« eine Anzahl von Farben auf eine Decke, oder machen Sie ein Schema von Punkten, dann wäre das ein Kunstwerk trotz dem jüngsten Gericht von Michelangelo; wenn es gar nicht auf den Inhalt ankommt, so hätten wir daran schon ein vollkommen Schönes hergestellt. Dies sind die Ergebnisse, wenn man das Schöne bloß in das Zusammensein der Teile setzt.

Nun sagt zwar Zimmermann, wie ich schon angeführt habe: es sei gut und recht, wenn auch noch ein bedeutender Inhalt hinzukomme, aber er behauptet mit aller Schärfe, das seien zwei Werte und die ästhetische Wirkung liege dann nicht in dem bedeutenden Inhalt, sondern in der mit ihm verbundenen Form. Also Verbindung von zwei Werten, und von diesen ist der eine außerästhetisch und unwesentlich. Wert des Inhalts, des Dargestellten ist nicht durchaus notwendig. Sogar schlechter Inhalt kann schön sein, wenn er nur gute Form und Ordnung hat. – Wenn nun ein frivoler Dichter lauter frivole Motive, die nur verschieden durch Ton, Färbung, Charakter sind, in gehöriger Zusammenstimmung vereinigt, so muß Zimmermann auch das loben; er kann diese Konsequenz nicht abwenden. – –

Nein! Gehalt in der Seele des Künstlers, des Dichters! Die Größe seiner Seele verhält sich zu dem, was er schafft, nicht nur wie ein angeleimtes Brett, das ihm wie ein zweiter Wert hinzukommt, sondern sie wird von innen heraus wirken; sie selbst wird die Formen strecken, so daß sie große gleichartige Bahnen annehmen. Wer keine große Seele hat, wird kein großes Kunstwerk erfassen. Im Genie werden große Gedanken große Formen.

Im gewöhnlichen Leben pflegt man freilich dieser formalistischen Ansicht beizustimmen. Man sagt oft: wie schön ist das und überdies wie tief gedacht. Mit dem »überdies« gibt man Zimmermann recht. Aber große Gedanken sollen nicht » überdies« bei der Form, sondern in sie hineingesenkt sein. Das Geistige, Seelische muß mit den Formen ein Stück ausmachen und ist stets ein Stück mit ihnen im Werke eines großen Künstlers. Erst kürzlich hat W. Riehl über ein Bildnis Bismarcks geschrieben: man spüre ihm an, wie der Maler etwas Geistreiches gesucht habe, es sei aber keine Größe darin. Darin liegt ein wahrer Gedanke. Ist der Kopf groß und der Künstler nicht großartig in der Auffassung, so wird er die Größe seines Gegenstandes nicht herausbringen. Die Seele fährt ihm nicht in die Hand. Dieses ist das unerforschliche Rätsel. Also nicht zwei Werte, sondern ein Wert, eine Kraft!


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