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Vorwort des Herausgebers.

Endlich bin ich so weit, mit der Veröffentlichung der Vorträge meines Vaters beginnen zu können. Fast vier Jahre gingen verloren, bis ich alles dazu Nötige vollständig in der Hand hatte; und als ich die Arbeit übernehmen konnte, rückte sie leider peinlich langsam voran; der Weg schien sich ins Unendliche zu dehnen.

Wer die Natur einer solchen Aufgabe kennt, wird sich nicht darüber wundern. Hier war aber die Schwierigkeit besonders groß, und das hat seinen Grund in der Beschaffenheit des Materials.

Mein Vater lehrte nicht ablesend und nichts auswendig Gelerntes. Seit seiner Reise in Griechenland (1840) schrieb er nie mehr einen Vortrag, sondern entwarf nur eine Skizze, die im wesentlichen aus einer Disposition bestand, durchdachte sie öfters und sprach dann frei S. Fr. Vischer, Altes und Neues, Stuttg. 1882, III, Mein Lebensgang, S. 313.. Aber diese Vorlagen wurden immer wieder verändert, ergänzt und vielfach durch neue ersetzt, zumal diejenigen ästhetischen Inhalts. Darüber äußert er sich in seiner kurzen Selbstbiographie mit folgenden Worten Ebenda S. 339.: »Wer meine Hefte sähe, würde in ihrem Zustande das Bild meiner Mühen erkennen. Nie war ich zufrieden mit einem vermeintlichen Abschluß meines Denkens über das Geheimnis des Schönen, das alte Manuskript wurde je, wenn ich die Vorlesung wieder aufnahm, ganz oder zum Teil wieder umgestoßen, neue Manuskripte haben sich mit brauchbaren Teilen der alten und Einschiebeblättern so gewirrt, daß ich im Vorstudium zu jeder Stunde keine kleine Spanne Zeit brauche, um nur aus meinen Heften zu kommen.«

Der Schluß liegt auf der Hand: desto schwerer ist es für jeden anderen, sich in diesen mannigfachen, buntgemischten Ertrag eines mehr als vierzig Jahre dauernden Ringens nach Wahrheit hineinzufinden. Jedesmal, wenn ich an die Arbeit ging, mußte ich mich in seinen Heften erst mühsam orientieren.

Abstrahieren konnte ich von ihnen unter keinen Umständen, denn obwohl sich darin meist nur logisch aufgereihte Gesichtspunkte und Merkworte und nur selten satzartige Formulierungen finden, so müssen sie bei der Bearbeitung der Vorträge, die er darnach gehalten hat, doch selbstverständlich zur Grundlage genommen werden. Namentlich die Blätter aus seiner späteren Zeit haben dafür die Bedeutung eines Leitfadens, dem unbedingt zu folgen ist.

Um aber die Einzelheiten des gesprochenen Wortlauts aus der Vergangenheit herüberzuretten, brauchte ich genaue Nachschriften ehemaliger Schüler.

Was nun die Bearbeitung der Vorträge ästhetischen Inhalts betrifft, so erfuhr ich von mehr als einer Seite dankenswerte Hilfe.

Herr A. Tobler von Lutzenberg (im Kanton Appenzell, derzeit wohnhaft zu Wolfhalden, ebendort) hat mir (zu Ende des Jahres 1890) seine großenteils wörtlichen Stenogramme von 1882 und 1883 vollständig zur Verfügung gestellt. Sie waren für mich von besonderer Wichtigkeit, weil sie die Frucht ungewöhnlicher Sorgfalt und Ausdauer sind und weil sie aus den genannten Jahren stammen, also zeigen, wie mein Vater in seiner letzten Zeit über das Schöne dachte. Um sie zu meinem Behufe nutzbar zu machen, ließ ich sie durch Herrn Lehrer Hartmann in Zürich dechiffrieren.

Derselben Zeit gehören die trefflichen, vielfach gleichfalls ganz wortgemäßen Kurrentnachschriften von Herrn Präzeptor Bubeck in Stuttgart an. Sie dienten mir zum Ersatz für Lücken und Dunkelheiten in den zuvor genannten Stenogrammen.

Sehr zu statten kam mir ferner ein äußerst gediegenes Manuskript von Herrn Professor O. Güntter (ebendort). Es enthält, von ihm selbst aus seinen Stenogrammen von 1876/77 umgeschrieben, die beiden ersten Teile dieser Kollegien, nämlich die grundlegenden Erörterungen und die Lehre von den bildenden Künsten. An diese Vorlage hielt ich mich, wo sie im Inhalt reicher und im Ausdruck der jüngeren vorzuziehen ist.

Zur Einleitung benützte ich auch die vorzüglichen, aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre stammenden Nachschriften, die mir zwei alte Freunde, Professor Richard Weltrich und Dr. Emil Schauberg in München, beigesteuert haben.

Ueberdies dienten mir meine eignen Notizen (vom Winter 1866/67).

Die an sich so sehr willkommene Mehrzahl von Hilfsmitteln und ihre Ungleichheit hatte nun aber zur Folge, daß ich um so mehr aufgehalten wurde. Da die Schülerhefte nicht alle aus derselben Zeit sind und obendrein mit den verschiedenen Vorlagen meines Vaters zu kontrollieren waren, so bewegte sich meine Arbeit in einem fortgesetzten Zickzack. Immer wieder war vergleichend zu prüfen, zu wählen, zu tauschen und der abgerissene Faden anzuknüpfen.

Was ich gebe, ist also vielfach ein mühevoll zusammengesetztes Mosaik. Aber jeder, dem ich es bisher zeigte, sagte mir: es ist ein Bild, dem man keineswegs ansieht, auf welche Geduldprobe du bei der Ausführung gestellt warst. Und wie ich einiges einem größeren Kreise vorlas, hatten alle den Eindruck, als ob das ein volles Werk des Augenblicks und einfach einem rasch geschriebenen Kollegienheft entnommen wäre. Niemand spürte, wie viel da zu thun war, bis das Schiff in Gang kam.

Daß es gelingen werde, erschien während der Arbeit immer sicherer, und dies ermutigte mich bei ihrem beständigen Hin und Her. Wo hier etwas fehlte, gab es dort Ersatz. Zeitlich weit getrennte Aussprüche fügten sich organisch zusammen wie Glieder eines Körpers; und so kam schließlich ein Ganzes zu stande, dem es keineswegs an natürlicher Einheit mangelt.

Es ist selbstverständlich, daß ich den originalen Wortlaut möglichst festhielt, jedoch wer erkennt, welch ein Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Ausdrucksweise besteht, der wird auch begreifen, daß hier unvermeidlich so manches zu ändern war. Um solche Vorträge, die nicht vom Redner selbst fixiert sind, für den Druck geeignet zu machen, gibt es viel mehr zu thun, als ein Unerfahrener voraussetzt. Ich hielt mir aber dabei stets den Charakter der Rede gegenwärtig und war immer darauf bedacht, daß die individuelle Sprechweise meines Vaters durch keinen fremden Bestandteil verdeckt werde.

»Eine Rede ist ein für allemal keine Schreibe.« Das steht im Vorwort zu seinem Vortrag »Der Krieg und die Künste« Stuttgart, W. Spemann, 1872 S. XIII, XIV.. Er war grundsätzlich dagegen, Reden drucken zu lassen. Nur ausnahmsweise entschloß er sich dazu, um sich zu rechtfertigen, und auf besonderen Wunsch von Freunden. Hier zwar haben wir es mit Lehrvorträgen zu thun, die schon als solche, um ihres Inhalts willen, verdienen, typographisch verbreitet zu werden. Allein sie kamen oft Reden sehr nahe, und was hier vorliegt, ist durchaus als mündliche Aeußerung zu verstehen, die nur für sein Auditorium bestimmt war. Man muß daher beim Lesen innerlich zuhören, muß im Geiste unter seinen Schülern sitzen. Er sah es ungern, wenn sie nachschrieben, wollte zu hergewendeten Gesichtern reden wie in einem Gespräch. Mit dem, was er sagte, gehörte untrennbar zusammen seine Persönlichkeit, sein Antlitz, sein Blick, die Art, wie er dastand, sich hielt und bewegte, wie seine Worte zur Seele klangen, wie er mit seinem ganzen Selbst dabei war. Das muß die Vorstellung sich ergänzen; und nur die ehemaligen Schüler sind dazu fähig. Das ersteht nicht wieder. Einzig die Wortfügung seiner Redeweise vermag ich zu geben. Es ist ein armer Rest, aber es liegt viel darin, und ich denke, in der Wirkung auf den Leser müßte doch ein Reflex aufleuchten von der einstigen Wirkung auf den Hörer »Es gibt doch auch ein inneres Gehör, und es gibt da und dort einen guten Vorleser.« Ebenda S. XII..

»Wer weiß, was er unter einer Rede zu verstehen hat, dem brauche ich nicht erst zu beweisen, daß hier die Form ebenso wesentlich als der Inhalt, ja von ihm gar nicht zu trennen ist. Form aber heißt nicht nur Aufbau, Darstellungsweise, Stil, sondern namentlich und recht ausdrücklich ist dabei an die lebendige Stimme zu denken. Eine Rede wirkt durch dies sinnliche Medium, sie lebt nur in ihm. Alles muß darauf berechnet, von dem Gesichtspunkte aus überdacht sein, wie es durch das Gehör an Gefühl und Phantasie gelangen, wie es auf diesem Wege den ganzen Menschen ergreifen soll.« So äußert sich mein Vater selbst an der bereits genannten Stelle. S. VI. Ich verweise hier darauf, weil er, namentlich in seinen späteren Jahren, diese Forderung mehr und mehr auch an seine akademischen Vorträge stellte; sie kamen seit 1866 oft fast dem Charakter von Reden gleich. Doch nicht so, daß sie deshalb die Sphäre wissenschaftlicher Unterweisung im Ton überschritten hätten. Man könnte viel eher sagen, daß der schlicht menschliche Grundzug, der ihnen immer eigen war, mit seinem zunehmenden Alter noch mehr hervortrat; sein Sprechen auf dem Katheder war nun zuweilen auch wie ein freundliches Geleiten, Helfen, Beraten; und so gründlich er vorbereitet sein mochte, er improvisierte dann doch, seine Worte hatten doch die volle Frische des Moments. Denn stets las er in den Augen der vor ihm Sitzenden; er dachte mit ihnen, es war ihm durchaus eine gemeinsame Angelegenheit. Daher die debattierende Art, die Fragen und Antworten, Einwürfe und Entgegnungen.

Nun liegt es bekanntlich in der Natur mündlicher Lehre, früher Erledigtes zum Zweck der Anknüpfung eines neuen Gedankens wieder aufzunehmen und variierend in Erinnerung zu bringen. Das ist nötig, und es hat nichts gegen sich, denn das gesprochene Wort verklingt. Wo aber schwarz auf Weiß, »im Raum sichtbar«, vor uns steht und »vor der prüfenden Betrachtung verweilt« a. a. O. S. X., was im Laufe der Zeit, in einer sich durch Wochen und Monate erstreckenden, immer wieder unterbrochenen Reihe von Stunden gesprochen wurde, da nehmen sich die Wiederholungen nicht gut aus. Ich habe nun zwar manche gestrichen oder doch gekürzt, aber es war nicht möglich, alle zu beseitigen, dem originalen Gedankengang wäre sonst allzusehr Gewalt angethan worden. Ich hoffe indessen, die redemäßige Unmittelbarkeit des Ausdrucks werde die strengen Ansprüche, die man sonst an die Komposition eines Buches macht, hier nicht aufkommen lassen.

Es erscheinen hiemit nur die beiden ersten, allgemeinen Teile der Aesthetik in der Fassung, wie sie mein Vater seit ca. 1870 der Lehre von den einzelnen Künsten vorauszuschicken pflegte. Ich gewann im Laufe meiner Arbeit die Ueberzeugung, daß ich mich darauf zu beschränken habe, denn das Folgende, nämlich die Lehre vom Wesen der Architektur, Plastik, Malerei, Musik und Poesie, unterscheidet sich im Inhalte doch nur unwesentlich vom dritten Teil des mehrbändigen Buches, das mein Vater 1846 begonnen und 1857 vollendet hat Stuttgart, C. Mäcken.. Von diesem wird demnächst im Cottaschen Verlag eine zweite Auflage erscheinen.

Beide Werke, das wuchtige alte und das leichter bewegte neue, das ich hier zu Tage fördere, werfen ihre Strahlen ineinander und dienen sich gegenseitig zum Ersatz. Mit dem neuen zwar wird Vieles und Wesentliches in den ersten beiden Teilen des alten aufgehoben und anders gewendet, aber die Lehre vom Naturschönen im alten behält ihren bleibenden Wert und namentlich die Lehre von der Phantasie.

Diese nimmt hier bloß 18 Seiten ein, während sie dort 13 Bogen stark ist. Allein auch im Uebrigen handelt ja das vorliegende Buch doch hauptsächlich und immer wieder von der subjektiven Ursache der Kunst, und es kann mit gutem Recht eine Psychologie des Schönen genannt werden. Nur die Phantasie im engeren Sinne, die entschiedene Gestaltungskraft, ihre Arten, ihre Grade und ihren Bezug zur Geschichte hat hier mein Vater möglichst kurz behandelt, und das erklärt sich aus dem besonderen Zwecke seiner späteren Lehrweise. Er wollte desto rascher ins Konkrete, in die Welt der Künste gelangen, und da holte er dann vollauf herein, was er sich zu Anfang versagt hatte. Aber obgleich er also die beiden ersten, allgemeinen Abschnitte nur als Vorbereitung und die folgenden als Hauptsache behandelte, so brauchte er im Jahre 1882 zu diesen Prolegomena doch mehr als ein Semester (21. April bis 9. November), und sie bilden doch ein rundes Ganzes, das für sich zu nehmen ist. Sie geben eine höchst klare, bei aller Strenge durchaus lebensfrische und volkstümliche Vorstellung von seinen in so langem Forschen ausgeklärten Gedanken über das Wesen des Schönen und der Kunst; und sie eignen sich daher in ganz besonderem Grade, den Anfänger in die Aesthetik einzuführen.

Es sind schon mehr als zwei Jahre her, daß ich mit dieser Arbeit fertig wurde. Aber damals war es noch überhaupt zweifelhaft, wie die Herausgabe der Vorträge bewerkstelligt werden solle. Und als es zur Bestimmung der einzelnen Punkte kam, mußte ich zugeben, daß zum Anfang womöglich etwas erscheinen sollte, das den Kennern der Schriften meines Vaters besonders viel Neues bringt. Ich ging daher an seine Vorträge über Shakespeare. Das ist aber eine ungleich größere Stoffmasse, und ich gelange damit erst jetzt zu Ende, obgleich ich, dank einem Urlaub, anderthalb Jahre lang von einem Teil meiner Amtspflichten entbunden war.

Aus diesem Grunde und weil mir daran liegt, endlich zu zeigen, daß ich nicht müßig war, soll nun die gesprochene Aesthetik doch den Vorlauf haben. Das Vollschiff aber, das den Namen des großen Engländers führt, wird binnen kurzem folgen.

Die Bereitwilligkeit der Verleger ermöglicht mir auch, ein gut getroffenes Bildnis meines Vaters von 1886 oder 1887 beizugeben. Die Photogravüre, worin es besteht, ist von Meisenbach, Riffarth u. Co. nach einer Aufnahme der Firma Brandseph in Stuttgart angefertigt.

Göttingen, den 24. Oktober 1897.

Dr. Robert Vischer,
Professor der neueren Kunstgeschichte.

 


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