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§ 12.

Die Idealschöpfung wird mit Bestimmtheit und Klarheit nicht von der Phantasie als allgemein menschlicher, sondern als besonderer Fähigkeit der ausnehmend Begabten vollzogen. Das Idealbild ist aber erst nur ein inneres. Dabei kann die Phantasie nicht stehen bleiben, sondern geht notwendig zur Thätigkeit nach Außen über; durch diese soll ein Drittes entstehen, das die Vorzüge des durch den bewußten und wollenden Geist entstehenden Werkes mit den Vorzügen des in der Außenwelt zufällig begegnenden Anscheins der Schönheit in sich vereinigt, also die Vorzüge des Subjektiven und Objektiven in sich verbindet und worin ebendaher die Mängel dieser beiden einseitigen Existenzweisen aufgehoben sind.

 

Phantasie hat in irgend einem Grade jeder Mensch, sogar jedes Tier. Die Bienen könnten ihre Zellen nicht bauen, wenn ihnen nicht ein Bild vorschwebte von dem, was werden soll. Die Raupe des Hirschkäfers macht das Gespinst ihrer Puppe so groß, daß später die Hörner darin Platz haben. Das wäre ohne Vorstellung der neuen Gestalt nicht möglich. Der Hund träumt. Er leckt nach der Speise: er hat also Phantasie, stellt sie sich vor. Wenn er dies nicht könnte, würde er sich nicht darauf freuen. Und so auch der Mensch. Ganz phantasielos ist keiner. Jeder hofft und fürchtet. Es gäbe keine Leidenschaft, keinen Schmerz, kein Glück ohne Phantasie. Sie zieht durch all unser Thun. Ohne sie könnte kein Mensch einen Bekannten erkennen; im Nu kommt das Erinnerungsbild.

Alle Menschen entdecken und genießen das vorhandene Schöne in Natur und Kunst; dazu befähigt sie die Phantasie und die nachschaffende Kraft, die in ihr wirksam ist. Diese ihnen angeborene Gabe, die nur einiger Bildung bedarf, befähigt sie zu erkennen, ob eine Landschaft, ein Baum, eine Tier- oder Menschengestalt schön ist. Die allgemeine, allen eigene Phantasie verhält sich aber gegenüber dem vorgefundenen schönen Gegenstand nie ganz frei von stoffartigem Interesse; sie bleibt mit ihm dunkel befangen, pathologisch verflochten; sie ist stark vermischt mit Wunsch, Begierde oder Abscheu. – Allein sie hat es ja nicht nur mit vorhandener Schönheit zu thun, sie ist auch bis auf einen gewissen Grad produktiv. Alle Religion besteht zu großem Teil aus Phantasiebildern, welche Symbole für geahnte reine Wahrheiten sind Siehe oben S. 153 ff.. Was wir Mythus und Sage nennen, ist ehrwürdig naives Gedicht uralter Völkerahnung. Die Götter der Egypter, Perser, Griechen, Römer, Deutschen, was sind sie anderes als Gestalten der Phantasie? Der mythische Sinn dichtet allgemeine Naturkräfte in übermenschliche Personen um. Und einem Helden, einem Religionsstifter webt sie eine Glorie von Wundern um das Haupt. So hat sich an die Religion von jeher die Sage geknüpft, d. h. die Verklärung der vorgeschichtlichen Zeiten eines Volkes. Sie tritt aber auch in der wirklichen Geschichte immer wieder ein. Denken Sie an die Sagen von Helden, die nicht sterben, von Harald, Barbarossa! Die Volksseele will nicht glauben, daß ein bedeutender Mann dahin sei. Das hat sich ja wiederholt beim Tode Napoleons I.

Man nennt nun wohl mit Recht solche Vorstellungen gegenüber dem, was der Künstler daraus macht, noch unverarbeiteten Rohstoff, aber dieser Rohstoff ist doch sehr vorteilhaft. Für das Drama gibt es kaum etwas Besseres. Aus solchen uralten Sagen haben die griechischen Dichter geschöpft und Shakespeare in seinem Lear, seinem Hamlet. Es ist Stoff, den die Volksphantasie schon geknetet hat. So hat Goethe den höchst glücklichen und genialen Gedanken gehabt, die Ansammlung uralter Zaubersagen im Doktor Faust zu behandeln und ihr neuen, tieferen Gehalt unterzulegen. –

Merkwürdig ist nun die Art, wie die Phantasie des Volkes schafft. Niemand weiß, von wem ihre Vorstellungen herrühren. Das mythische und sagenhafte Gebilde ist vergleichbar einem Ameisen- oder Bienenwerk. Es wächst nur nach und nach, in höchst langsamem Fortschritt, durch geheimnisvolle Beiträge. In einer gemeinschaftlichen Thätigkeit unerforschlicher Art, rastlos sammelnd, einander zutragend, webend und bauend, haben die Völker endlich ganze Traumgebäude von Dichtungen entworfen, die dann nachher in Künstler- und Dichterhände gelangten. So entstanden die Helden- und Göttersagen.

Also auch das Volk dichtet – im unbestimmteren Sinne des Worts – und, wenn wir eingehen wollten, wäre hinzuzusetzen: auch der einzelne, so oft er eine Anekdote erfindet – und so oft er lügt. Das Lügen ist freilich eine schlechte Art von Dichtung, aber Phantasie ist ja dabei. – Allein so, als allgemeine Menschengabe, erscheint die Phantasie nicht in der Bestimmtheit ihres Wesens. Wir können so ihre Züge nicht klar erkennen, sondern erst da, wo sie als ausnehmende Gabe hervortritt, als Talent und Genie.

Wer besonders befähigt ist, das Schöne zu schaffen, steht im Verhältnis der Schuld zu allen übrigen, die es nicht sind. In ihm wirkt gesammelt, was in den anderen so ausgebreitet ist, daß an den einzelnen wenig kommt. Er ist der ihrige. Er hat in sich ein ästhetisches Bild erzeugt; aber das frommt den anderen nichts, wenn es nicht Gestalt gewinnt. Das Volk, mit dem er einer Menschheit angehört, könnte das wahrhaft Schöne niemals hören oder schauen, wenn er die Hände in den Schoß legen würde. Daher ist ein Künstler, der faulenzt, ein unmoralischer Mensch. Er ist mehr noch zum Fleiße verpflichtet als der gewöhnliche Kopf. Er soll sein Talent nicht unter den Scheffel stellen. Sagt man: noblesse oblige, so kann man mit noch mehr Recht sagen: talent oblige. Die Völker erwarten mit Recht von ihren höher begabten Geistern, daß sie herausgeben, was sie im Innern Schönes haben; sie harren darauf und fordern es. Sie rühmen sich ihrer großen Söhne, und sie dürfen es. Jeder hat zwar nur einen Vater und nur eine Mutter, aber diese sind Kinder ihres Volkes, und so pulsiert dieses Blut im ganzen Volk. Daher steht er zweifellos in Schuld bei ihm. Und diese Schuld fühlt der rechte Künstler auch als notwendigen Sporn. Er kann nicht ruhen, muß mitteilen; es läßt ihn nicht schlafen. Was wir ihm eigentlich ganz zu gut halten, ist Stolz und Ehrgeiz; und wir können es nachsehen, wenn dazu etwas Eitelkeit kommt. Wer aus voller Phantasie schafft, hat in sich schon ein Publikum. Indem er sinnt und dichtet, schaut er innerlich sogleich einen Kreis von solchen, die es hören und sehen wollen, fragt er sich sogleich: wie wird es ihnen gefallen?

Er sagt zwar zunächst mit Recht, er sei von seinem innern Wetter abhängig; und gewiß: es läßt sich nicht erzwingen, was durch Phantasie entsteht. Das ist ja ein Wurf der Inspiration. Wir haben gesehen: die Phantasie schafft durchaus anders als der Verstand. Verstandesreihen kann ich, wenn ich mir Mühe gebe, also auf dem Wege der Absicht, hervorbringen und fortführen. In aller Kunst hingegen, und zwar zunächst in der Erfindung, nutzt die Absicht nichts. Das taucht auf wie ein Gesicht Vgl. oben S. 6, 8, 166, 214.; das ist nicht zu machen, sondern es wird. Wenn Sie Shakespeare lesen, so mögen Sie oft denken: mein Gott, der Mann phantasiert, das ist ja wie geträumt – und gleichzeitig können Sie nicht genug staunen, wie klar sich dieser Mann ist. – Das Genie hat nun also guten Grund, zu sagen: ich muß auf Stimmung warten, muß warten, bis sie kommt durch einen glücklichen Eindruck der Außenwelt. Aber gar so delikat ist das Ding denn doch auch nicht zu nehmen. Was sollte denn da der Architekt anfangen, bei dem man bestellt? Und der Maler, der Bildhauer? Alle Menschen, die Phantasiekinder sind, und mit ihnen die Poeten, werden denn doch auch oft genug gehalten sein, sich zu zwingen und einmal zu beginnen, auch ohne daß sie die ganze Stimmung schon fühlten, einmal zu beginnen in der Hoffnung, daß, wenn sie hübsch fortmachen, die Wärme schon kommen, die Glut sich entflammen wird. Sie kennen die Worte des Direktors im Vorspiel zum Faust:

Gebt ihr euch einmal für Poeten,
So kommandiert die Poesie!

Also selbst ein Goethe, so ein rechtes Stimmungskind, hört die innere Mahnung: fang an in Gottes Namen! Er ist sich übrigens darin doch oft zu weichlich gewesen, wir hätten sonst weniger Bruchstücke von ihm, und er hätte sonst seinen Faust in besserer Manneskraft vollendet. Schiller dagegen hat mit seiner Energie die Muse oft beim Kopf gepackt, wenn sie nicht parieren wollte.

Man ist es aber noch aus einem anderen, und zwar rein wissenschaftlichen oder philosophischen Grund zu fordern genötigt, daß das innere Gebilde auch heraustrete: weil es sonst gegenüber dem Naturschönen ein Unrecht erfährt und verhältnismäßig arm erscheint. Das Naturschöne und das Gedachtschöne hat jedes seinen Mangel, das eine besitzt, was dem anderen fehlt; und eben daraus ist die künstlerische That der Phantasie logisch zu begründen. Wir sahen: das Naturschöne hat vor dem bloß inneren Idealbild des Geistes das voraus, daß es in der Außenwelt dasteht für alle, daß es sich finden läßt; aber wenn es uns wahrhaft und mangellos schön erscheint, so ist das unsere Zuthat. Das bloß innerlich Schöne, wie es in der Phantasie lebt, ist geistig rein ideal, aber eben bloß innerlich, also unfruchtbar. Die Welt hat nichts davon – wir haben es uns, von anderer Seite kommend, soeben gesagt –; wer das Schöne in sich hegt, dem erscheint es, aber sonst keinem; und das ist gewiß zu wenig. Auch anderen erscheine es, in voller, leibhafter Gestalt gleich einem Ding der Wirklichkeit. Heraus muß es in den Raum und in die Zeit, daß die Menschen es vorfinden wie etwas, das die Natur darbietet.

Also ein Drittes soll entstehen. Vom Geistschönen soll es die Reinheit und vom Naturschönen die Gegenständlichkeit haben; es soll beider Vorzüge vereint und ihre Mängel getilgt zeigen, etwas, das weder bloß innerlich, noch bloß äußerlich ist, ein aus der Seele gebornes und doch sinnenfälliges Ding. Es soll mit dem Charakter naiver Objektivität, ganz unbefangen, ganz losgelöst vom Künstler, unter den anderen Sachen der Erde und des Himmels da sein, wie ein Stein da ist, eine Blume, ein Tier, ein Komet, rein unmittelbar aus sich selbst entstanden. Und doch werden wir ihm augenblicklich ansehen: das ist nicht nur so geworden und gewachsen, nicht animalisch erzeugt, nicht bloß Stoff, nicht bloß Luft- und Lichtwelle, sondern das kommt alles aus dem Geist. Also ein Geistgebilde und doch wie ein Naturgebilde, real und doch ideal, von dieser Welt und nicht von dieser Welt, mit einem Wort: ein Kunstwerk.

Und das entzündet nun die Phantasie des Volkes und erweckt sie zum Nachschaffen. In der Mitte zwischen Künstler und Zuschauer steht etwas, steht dieses Bindeglied.

Damit kommen wir zur Kunstlehre.



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