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Einleitung.

In ein glänzendes Reich des Lichts führt uns die Wissenschaft der Aesthetik; es verknüpft sich mit ihrem Gegenstande das Gefühl reinster Freude. Vom Schönen wird jeder erquickt; die Liebe zu ihm ist allen angeboren; es hat keine Feinde.

Man sollte also meinen, das Schöne finde lauter offene Thüren. Aber nein: wenigstens abgeneigt sind ihm religiöse Eiferer und moralische Rigoristen. Und wie verhalten sich die nur materiell Gesinnten? Wir haben Achtung für den realistischen Geist unserer Zeit, stellen uns nicht unter die Reihe derer, die ihre Richtung auf die Stoffwelt ohne weiteres bekämpfen. Realismus heißt ja noch nicht Materialismus. Es ist etwas Großes, die Materie zu bezwingen. Sie bringt Wohlstand und damit Unabhängigkeit. Aber wahr ist auch: sie rächt sich oft durch Ansteckung mit dem Erdigen ihres Charakters; der ihr zugewandte Sinn verfällt leicht in trocknen Ernst und trivialen Genuß, er verschließt sich dem Schönen und läßt es so nebenhergehen.

Oft hört man, das Schöne habe keinen Zweck, sei nur Luxus, wolle in der Welt nicht nützen, nicht belehren; und aus dieser Anschauung erwachsen ihm Gegner. Nun wohl, in ihrem Sinn genommen, ist es Luxus. Zur Not ließe sich's auch ohne das Schöne leben. Aber wie? Wäre das Leben dann noch der Mühe wert? Wär's erträglich?

Und ist das Schöne nicht allerorten verbreitet? Erscheint es uns nicht rings in der Natur? Wallt es nicht in der blauen Luft? Rauscht und wogt es nicht im Wasser? Tritt es nicht hervor in der Gestalt der Pflanze, des Tiers, des Menschen? Wirkt es im menschlichen Schaffen nicht von selbst, mit innerer Notwendigkeit? Nicht nur aus den Werken freier Kunst blüht es uns entgegen. Kein Geräte, kein Gefäß, kein Zimmer, kein Kleid ist ohne einen Anflug des Schönen. Es rankt sich allerorten um das Nützliche, sproßt als Ornament aus der trocknen Kernform des Gebäudes, umsäumt die struktiven Glieder als Blatt, Blume, Stab, Welle, Band, Rolle; es veredelt in grenzenloser Ausbreitung und immer von neuem das bloß Taugliche und vom Bedürfnis Gebotene.

Und weiter! Fragen wir uns, ob das Schöne nicht ungesucht im Leben doch Zwecke erreiche! Freilich unmittelbar praktisch kann dies nicht geschehen, denn es ist bloßer Schein; seine tieferen sittlich-politischen Wirkungen können nur indirekt eintreten. Aber wie stark sind sie doch! Suchen wir uns vorzustellen, was die Völker wären ohne seine Macht! Wo blieben die Griechen ohne Homer, Aeschylos, Sophokles, Phidias? Wo die Italiener ohne Dante, Raphael, Michelangelo? Wie können wir uns die Engländer denken ohne Shakespeare, die Deutschen ohne die Strahlen aus den Lichtquellen Lessing, Goethe und Schiller?

Aber auch wenn wir nach der Wurzel sehen, finden wir den tiefsten Zusammenhang. Das Schöne zieht seinen Saft aus dem ganzen Leben; seine Nahrung ist die beste Substanz des Volkstums. Nur aus Kraft kann Kunst erwachsen.

Die von ihrer Weihe strahlende Größe Athens entsprang aus den Befreiungskämpfen gegen die Perser. Auch wenn eine Nation sinkt, wie z. B. die spanische im 17. Jahrhundert, kann der Geist noch in ihr wirken und die Blüte der Kunst hervorbringen. Selbst Werdendes kann sich im Schönen offenbaren: als wir noch nichts waren, da wurde doch unser deutsches Dichterpaar geboren von der Volkskraft, die eine Zukunft in sich barg. Das Schöne steht also nicht in der Luft.

Wir treiben keine Schöngeisterei, die nur die gefällige Form, nicht den rechten Kern will und den Lebensernst nicht achtet. Mancher mag Scheue vor der Aesthetik haben in der Meinung, als sei das, womit sie sich beschäftigt, nur etwas Weichliches, ein bloßes Schaumgebilde, als gebe es in diesem Revier nur schlaffes, süßliches Zeug, lyrisches Gezwitscher, leeren Effekt, dünne Produkte einer saftlosen Grazie und als könne sie daher selbst nur ein Naschen, ein leeres Spiel, ein müßiges Gerede sein. Wohl gleicht das Schöne oft einer zarten Blume, aber das Liebliche ist nur eine Schwester des Erhabenen; und das echt Schöne ist doch groß und fest, beharrlichen Geistes, männlich und mit Kraft gepanzert; es ist zwar Schein, aber Schein, aus dem etwas hervorstrahlt; ein bescheidener Schatten, der nichts anspricht zu verändern, aber Mark des Lebens. Die großen Künstler der Nationen waren keine Schöngeister; sie gossen jene erhabenen Schauer in die Seelen, womit uns die tiefsten Momente des Daseins erfassen. Mild, rührend, schmelzend sind die Poesien eines Goethe, aber sehe einer den inneren Gehalt des Mannes an: er ist geschmiedet wie aus dem härtesten Stahl. Da das Schöne nur so gesund ist, hat es auch eine Gewalt. Nein, nicht überflüssig ist das Schöne; wir können ihm nicht entfliehen; es ist nicht neben dem Leben, sondern mitten darin, alles erfüllend; es umgibt uns wie Luft, wie Wasser, worin wir baden; es ist eine große Wahrheit, eine Macht. Sie ruft: Du mußt mich haben, du Mensch, denn ich will dich bilden!

Wahrhafte Bildung bringt nur das Schöne, weil es allein den sonst verstümmelten, nach Natur- und Geistseite zerrissenen Menschen einigt. Es muß uns mit seinen Reizen durchdringen, wenn sich das eigentliche Wesen in uns entwickeln soll. Ganze Menschen werden wir nur durch die Kunst. Das lateinische Sprichwort von der Wissenschaft: emollit mores, nec sinit esse ferocem ist nur halb wahr, denn sie ist abstrakt und mühsam; wer sich nicht hineinarbeitet, dem bleiben ihre Werke Hieroglyphen; und die natürliche Teilung ihrer Arbeit führt zur Einseitigkeit.

Der Wert, den der Gegenstand der Aesthetik: das Schöne vor dem Inhalt der Wissenschaften voraus hat, und der eigentliche Grund seiner unvergleichlichen Wirkung liegt darin, daß es unmittelbar verständliche Bedeutung hat, daß es ebensosehr für Sinn und Nerv wie für Geist und Gemüt vorhanden ist.

Und was das Leben, der Staat, die Gesellschaft, das Gesetz fordert, bedrückt uns nicht in dieser Sphäre, denn das Schöne entbindet, indem es anzieht; es reizt, stärkt, erhebt ohne jede praktische Beziehung. Es löst uns von dem Drang und Zwang des Sollens, denn es stellt den Endzweck der Welt als erreicht dar und zeigt das Leben im Glanze der Vollkommenheit Was nur eine Vorstellung sein kann und nie eintreffen wird, es dünkt uns im Schönen gegenwärtig: insofern hat die Phantasie hier eine Antizipation im uneigentlichen Sinn vollzogen. Aber es ist doch auch eine Antizipation im eigentlichen Sinn, denn der Tag des Besseren wird und muß kommen. So lernen wir den Glauben an das Hohe von der Kunst. Sie wirft den Schein des Idealen in die Wirklichkeit, auf eine Zeit, einen Ort, ein Individuum. In ihrem reinen Aether fühlen wir uns geheilt von den Wechselstürmen der Furcht und Hoffnung. Da sind die Völker frei; und der Einzelne hat sein Genüge. – Aus älteren Heften, vom Winter 1848/49 und 1853/54.. Selbst Kampf und Leiden verklärt sich im idealen Scheine zum Triumph.

Diese Lösung von der Pein der unerreichten, hastig erstrebten Zwecke ist wesentlich eine Einigung. Die Pein schwindet, weil die Gegensätze als verbunden und ineinandergeglichen dargestellt werden. Die Lösung ist aber ebendaher auch im anschauenden Subjekt eine Einigung der Kräfte. Das Schöne, habe ich gesagt, stellt aus dem geteilten Menschen den ganzen wieder her; es läßt ihn die volle Uebereinstimmung seines Wesens mit sich selbst und mit der Welt genießen. Durch das wirkliche Leben zieht sich der Zwiespalt zwischen Materiellem und Geistigem, Sinnenglück und Seelenfreude, Form und Inhalt, Natur und Vernunft, Selbstliebe und Liebe zur Menschheit, Freiheit und Ordnung. Das Schöne bringt Frieden Hierin liegt insbesondere die Bedeutung für eine in Parteien zerrissene Zeit. – Aus einem Heft vom Anfang des Jahres 1849.. Sein Bilden ist in diesem Sinn ein Binden und Zusammenbauen. Wie die Kraft, woraus es entspringt, harmonisch ist und zum Einklang dringt, so ist es eine allgemein menschliche Angelegenheit und gründet Harmonie im Leben. Es herrscht überall. Jede Sphäre hat einen Bezug zu ihm. Jede hat freilich wieder etwas, das sie von der anderen ausschließt. Alle aber sind im rein Menschlichen versöhnt; und bei der großen Teilung der Arbeit liegt darin eine um so tiefere Erquickung.

Sämtliche Wissenschaften berühren sich mit diesem Reiche. Prüfstein einer philosophischen Weltanschauung ist es, ob sie das Schöne zu erklären weiß. Der Philologe hat es auf der höchsten Stufe mit Poesie zu thun, der Historiker muß in der Kunst den Gipfel des Kulturzustandes erkennen. Der Naturforscher fragt nicht nach Schönheit, aber indem er untersucht, woraus die Dinge bestehen, wie sie zusammenhängen und welchen Gesetzen sie unterliegen, kommt er zuletzt auf einen Punkt, wo die Aesthetik eintritt. Beide Wissenschaften haben sich viel zu sagen. Der Physiologe studiert den Prozeß des Hörens und Sehens; und das führt ihn zur Tonlehre und Musik, führt ihn zur Lehre von den Farben und ihrer Harmonie; womit sich auch der Chemiker befaßt. – Und in der Religion, welch ungeheure Bedeutung hat hier die Phantasie, das Organ des Schönen! Im Gegensatze zu ihr will sie zwar das Sinnliche im Menschen nicht aufheben oder vernachlässigen, sondern verklären und fortbilden; doch ohne sie entstehen weder Religionen noch werden sie verstanden. – Dann weiter! Gehört nicht zu einer tieferen Auffassung des Staates die Einsicht, daß die Pflege der Kunst ein integrierender Bestandteil der Verwaltung ist? Der Jurist begegnet dem Schönen in den sinnbildlichen Rechtsgebräuchen. Im Kriminalrecht wird es ihm zu statten kommen, wenn er dramatisch empfänglich ist. – Endlich die technische Praxis. Wir haben uns schon erinnert, wie sie in Kunst übergeht, auch wo es ihr nicht darum zu thun ist. Und so wird sich auch der Ingenieur nicht immer über die Frage der ästhetischen Wirkung hinwegsetzen können. Sogar die doch gewiß eckige, prosaische, rein auf den Gebrauch angelegte Maschine bleibt dem Schönen nicht ganz entzogen. Sein Band schlingt sich überall durch; und der Mensch sucht es, weil er Harmonie sucht. Es hebt die Trennung der Stände, der Kultursphären, der Berufsarten, der Charaktere auf, es streift allen Beschäftigungen ihre Einseitigkeit ab, denn alle suchen die Mitte der Menschheit, die Einheit der geteilten Kräfte: indem sie sich auf besondere Zwecke werfen, fühlen sie eben hierin ihren Mangel, daher lieben sie den seligen Schein, womit das Schöne das ganze Leben erst zum Einklang bringt.

 

Doch wir sind nicht hier um zu genießen, sondern um einem wissenschaftlichen Zweck zu dienen. Es ist eine schwere Aufgabe, an die wir gehen. Wer sich mit Aesthetik beschäftigen, wer das Schöne und die Kunst auch begreifen will, darf Gegenstand und Erkenntnis desselben nicht verwechseln. Der Gegenstand, nämlich die Welt des Schönen, ist heiter, unmittelbar und mühelos einleuchtend, oder doch wohlthätig anspannend. Der Versuch aber, das Wesen dieses Gegenstandes zu erkennen, ist ernste, mühsame Arbeit, deren Schwierigkeit von Stufe zu Stufe wächst.

Streng denken ist wohl die höchste unter allen Leistungen des menschlichen Geistes. Aber wer verschlösse sich der Einsicht, daß das Schöne an sich nicht ganz zu erkennen ist? Du wirst ein echtes Kunstwerk nie ganz analysieren können, es bleibt ein unauflösbares Geheimnis zurück. Könnte man alles in Begriffe fassen, wofür brauchten wir dann noch das Kunstwerk? Dann wären ja Worte ein Ersatz dafür. Das sagen wir uns selbst; und ein radikaler Gegner aller Aesthetik behauptet nun einfach: Wissenschaft des Schönen ist also unmöglich.

Er wird sich auch darauf berufen, daß wir selbst, wenn wir das Schöne anschauen oder erzeugen, in einer Stimmung sind, deren letzte Gründe sich nicht angeben lassen. Wer will erklären, warum z. B. eine Landschaft diese oder jene Gemütsstimmung in uns hervorruft? Das Schöne entsteht nicht durch Reflexion, sondern durch Begeisterung, θεία μανία. Im ersten Wurf schon kommt das Bild dem Künstler ganz plötzlich, gleich einem Traumgesicht steigt es ihm auf aus den Tiefen des Unbewußten. Wie will man mit dem Senkblei des Begriffs dahinabreichen? Du wirst das Geheimnis der Kraft, die das Schöne schafft, nie und nimmer ergründen.

Und endlich wird der Gegner sagen: das Schöne wirkt auch auf verschiedene Menschen verschieden. Gibt es nun keine gemeinsame Ansicht über das, was schön ist, so können wir das Objekt ja gar nicht fassen.

Nehmen wir diese Einwände der Reihe nach auf!

Gegen die Möglichkeit einer Wissenschaft des Schönen wird vor allem angeführt die Unergründlichkeit des Kunstwerks. Sie hat, sagt man, ihren Grund darin, daß es unersetzlich ist; Worte, Begriffe können kein Surrogat dafür sein; für das Schöne kann es keinen Ausdruck geben als das Schöne selbst. Aber folgt denn daraus, daß ich das, was der Künstler schafft, nicht begriffsmäßig untersuchen kann? Wir haben hier doch etwas, woran sich Verhältnisse, Teile, Grenzen, Farben, Tonstufen, bestimmte Wirkungen wahrnehmen lassen. Und wir dürfen uns doch besinnen, wie es möglich ist, daß man, statt in Worten, in Formen denken und sprechen kann. – Gewiß, es ist ja wahr: wir gelangen da zu keinem Ende; das Schöne läßt sich mit Gedanken nicht ganz einholen und wird immer inkommensurabel sein. Es kann einer meinen, er habe ein Kunstwerk erschöpft und auf Begriffe zurückgeführt, die sich in Worten aussprechen lassen. Kommt er dann wieder, so muß er finden, daß eine ganze Fülle von Gesichtspunkten noch unbegriffen ist. Allein gerade das ist jetzt unsere Aufgabe, das Suchen. Wenn auch nicht alles am Gegenstand faßbar ist, so läßt uns doch der Drang nach ästhetischer Erkenntnis nie in Ruhe. Unsere Aufgabe bleibt also auf jeden Fall das Suchen. Und das, was wir finden, sollen wir auch schätzen. Denkendes Analysieren eines Kunstwerks bringt ja doch nicht nichts zu Tage, sondern sehr etwas. Wenn wir auch Faust und Hamlet nie ganz ergründen, so können wir doch bis zu einer gewissen Tiefe diesem und jenem darin beikommen, sofern wir uns nur recht Mühe geben. Wir können uns z. B. über die Komposition klar werden, können klar werden darüber, warum der Dichter seine Charaktere so und eben so gestellt hat, können Licht gewinnen über die Scenenfolge, über die Grundidee, über die Hauptpersonen. Gewiß, alles auf einmal wird der suchende Betrachter nicht finden, aber doch jedesmal etwas. Immer wieder von neuem wird er ganze Lichtbündel von Schönheit herausziehen.

Der zweite Einwurf betrifft das Unbewußte in der Empfindung des Schönen. Natürlich ist das so, und wir können den Nebel, worin dies Geheimnis schwimmt, nie ganz erhellen. Aber wir können doch Lichtlinien darin ziehen und dieser nicht wenige. Das ist doch etwas.

Ein ganz einfaches Landschaftsgemälde, z. B. eine trübe, regnerische Heide, warum reizt sie uns als etwas Schönes? Jede Farbe stimmt in ihrer Art. Darf man da nun hoffen, daß die Nuancen der Stimmung sich jemals in Begriffe bringen lassen? – Auch die Töne haben seelische Bedeutungen für uns. Es knüpft sich an eine bestimmte Reihe von Klängen eine bestimmte Stimmungsqualität. Etwas Ideales ist darin. Das kann man wohl nicht in Worten fassen. Man wird nie ganz fertig damit. Aber etwas Licht gibt uns eine eigenartige Symbolik, vermöge welcher unsere Seele unbewußt gewissen Farben, Tönen etwas unterlegt, als brächten sie uns eine Stimmung entgegen, die sie an sich nicht haben. In dieser intimen Symbolik muß das Geheimnis liegen. In ihr Wesen eingeweiht, wissen wir doch etwas mehr, als wenn wir nichts wüßten. Wohl können wir auch damit nicht alles auf Worte reduzieren, aber was wir daran haben, ist doch nicht nichts zur Lösung des Rätsels.

Zum dritten können sich die Gegner auf das Unbewußte im künstlerischen Schaffen berufen. Wohl sagt J. Paul mit Recht: »Das Genie ist in mehr als einem Sinne ein Nachtwandler; in seinem hellen Traum vermag es mehr, als der Wache, und besteigt jede Höhe der Wirklichkeit im Dunkeln.« Der begeistertste Freund des Schönen wird vor allem diesen Einwurf machen. Aber soll etwas darum unerforschlich sein, weil es dem Nacht- und Dämmergebiet im Seelenleben angehört? Dann wäre überhaupt nichts Psychisches erforschlich. Alles, was im Lichte des Geistes liegt, ist ja zuerst in verhüllter Form des Instinktes dagewesen; alles Geistsein ruht ja im Grunde der Natur; und seine Entwickelung verbirgt sich daher dem Blick. Es gibt keine Sphäre des Lebens, des Staates, der Wissenschaft, deren Anfänge nicht im Unbewußten liegen würden. Das Recht z. B. hat lang, ehe es in Begriffe und Gesetze gefaßt wurde, dunkel im Menschen gewaltet. Was ist heller als die Erkenntnis selbst? Aber auch sie tritt immer zuerst im Flor der Ahnung auf. Alles Sittliche fängt mit Empfindung an und gelangt erst dann zu klaren Grundsätzen. Wenn also etwas darum unbegreiflich ist, weil es vom Unbewußten ausgeht, dann fahre wohl alle Wissenschaft des Geistes! Denn das ist ja eben ihr Geschäft, Unbewußtes ins Bewußtsein zu erheben; sie ist ja gerade die Leuchte im Schattenland der Triebe. – Es verhält sich da, wie wenn man in eine große Wassertiefe hineinblickt; anfangs sieht man nichts, dann tiefer und tiefer, den Boden nie. Man wird den Meeresgrund auch im Schönen nie sehen. – In früheren Zeiten, da freilich glaubte ich in die Tiefe dringen zu können; man wird mit dem Alter bescheidener. – Aber schon das ist Erkenntnis, wenn wir erkennen, warum wir die Phantasie nicht ganz erkennen. –

 

Mit Grübeln kann kein Kunstwerk entstehen. Ein scharfes und gründliches Denken muß zwar seine Entstehung begleiten, das Talent jedoch muß angeboren sein, es kommt aus einem dunkeln Naturschoß. Unbewußtes waltet hier noch mehr als in allen anderen Gebieten. Trotzdem muß auch diese Nacht sich erleuchten lassen. Wagen wir es nur einzudringen; es gibt keine absolute Finsternis. Das Vermögen, wodurch Schönes entsteht, die Natur der Phantasie und des in sie aufgehenden Ganzen der geistigen Kräfte werden wir doch so weit zu erkennen vermögen, daß sich uns gewisse Unterscheidungslinien darin bilden. Wir finden ihr Schaffen gewissen Gesetzen unterworfen. Der Künstler glaubt frei zu handeln und ist doch auf sie angewiesen. Nun treten freilich in jedem einzelnen Akte der künstlerischen Schöpfung diese Gesetze zu einem ganz neuen und nur sich selbst gleichen Werke zusammen. Irgend ein Stoff gibt irgend einem, vorher nicht zu bestimmenden Individuum den Anstoß. Allein die Normen, wonach die Phantasie wirken muß, sind, obwohl in jedem neuen Fall in einer neuen Kombination, doch jedesmal dieselben. Wir unterscheiden ferner im allgemeinen Wesen der Phantasie besondere Richtungen, Begabungsarten, und erkennen, wie hierauf die Verschiedenheit der Künste und ihrer Zweige beruht, wie sich die Phantasie des einzelnen einem oder mehreren dieser Zweige zuordnet und wie er den Bestimmungen dient, die von Natur darin liegen. Das Werden der Künste scheint zwar ein Spiel des Zufalls, ein sinnloses Durcheinander von Willkürlichkeiten zu sein, aber ihr fertiger Bestand gleicht einem Bau von klarem Gefüge. Aus dem Wesen der Bildhauerei z. B. haben sich auf langem Erfahrungswege gewisse Regeln hervorgesichtet, erste Grundlagen und Bedingungen plastischen Schaffens, die keiner ungestraft mißachtet.

Weiter! Der eine ist mehr für Menschendarstellung, der andere mehr für Landschaftsmalerei begabt u. s. w. Die Gebiete nun, worauf sich die verschiedenen Talente verteilen, haben ihre festen Grenzen, die nicht ohne Schaden überschritten werden. Wenn z. B. ein Dichter Episches und Dramatisches mischt, so geschieht es nur auf Kosten der Harmonie und des Erfolgs. Damit ist freilich noch nichts gesagt über das Individuelle, unendlich Eigne, wie es im einzelnen Fall zu verwerten ist. Wir müssen uns begnügen, seiner allgemeinen Bedeutung bewußt zu sein. Die Erkenntnis der Gesetze und Schranken ermöglicht nicht von vornherein festzustellen, wie es sich gestalten wird. Die Aesthetik kann jedoch nicht von der Bedingung abhängig sein, daß sie alle möglichen Stilcharaktere und Kunstwerke im voraus müßte nachweisen können. Weiß denn der Staatsrechtlehrer, welche Formen des Gemeinwesens noch auftauchen werden? Uebrigens gibt uns die Wissenschaft doch Schlüssel für jedes Künftige. Wer die verschiedenen Arten und Richtungen der natürlichen Begabung überhaupt unterscheiden gelernt hat, der wird auch besser sehen, aus welchen Fäden das Neue, noch nie Dagewesene geschlungen ist. Steht es dann vor Augen, so bleibt zwar sein individuelles Wesen als solches ein Rätsel; niemand kann definieren, worin es an sich besteht, warum es gerade so und nicht anders ist, aber wir erkennen doch die allgemeinen Züge, woraus es sich zusammensetzt. Und sobald dadurch, daß sich die Künstlerindividuen entwickelten, eine Anzahl von Kunstwerken und überhaupt eine Kunst da war, ließen sich stets wiederkehrende Grundmotive in ihrem Thun erkennen und unbewußt befolgte Gesetze, die über dem Individuum stehen.

Ueberblicken wir nun aber die Vergangenheit, so wird uns klar, wie jeder Künstler, trotz dem Eignen und Eigensten an ihm, ein Kind seiner Zeit und seines Volkes ist. Er muß dem allgemein herrschenden Stil sich unwillkürlich fügen; diese historische Macht hat mehr Stärke als das einzelne Wesen. Und auch die Epochen und Nationen ordnen sich dem Ganzen unter. Jede arbeitet in ihrem Geiste für sich und geht doch, ohne es zu ahnen, mit dem großen Weltstrome der Menschheit. So offenbart sich im scheinbar Zufälligen Notwendigkeit, im scheinbar Vereinzelten Zusammenhang; und wir sehen: die Natur des Schönen ist eine geschichtliche. Wir folgen ihm durch die Zeiten, forschen nach den Ursachen und Bedingungen seines Gangs, erwägen den Wert seiner Erscheinungen, die Gewalt der besonders zu ihm berufenen Männer, die Art, wie es durch die obwaltende Gesamtstimmung modifiziert wird, sein Verhältnis zum Leben, zur Religion, zum Staat, zur Gesittung. Und dabei haben wir es immer wieder mit seinen Elementen zu thun. So stellt sich z. B. heraus, wie die Verzweigung der Phantasie in verschiedenen Arten mit den Kulturperioden der Menschheit zusammenhängt, warum es ein klassisches, ein romantisches Ideal gibt und ein modernes (wenn man ein solches annehmen will). Der Unterschied zwischen den großen Künstlern wird uns dabei klarer; und allmählich erhellt sich die Nacht, die zuvor undurchdringlich schien.

Die Gegner berufen sich auch auf die Ungleichheit des Eindrucks, den das Schöne macht. Die Urteile divergieren ja. Wir haben keine Maßstäbe. Doch gehen wir von den einfachsten Erfahrungen aus! Wenn einer die Parthenonskulpturen von Phidias, die sixtinische Madonna von Raphael, die Deckengemälde der sixtinischen Kapelle von Michelangelo nicht schön findet, werden wir dann mit dem lange Umstände machen und ihm einräumen: ja, du hast eigentlich recht, ein Gesetz gibt es nicht: das ist ganz dem Zufall der Individualität anheimgegeben? Nein, wir werden ihn stehen lassen und denken: du bist ein Esel, denn wir halten die Richtigkeit unserer Ansicht hierüber für so gewiß, als zweimal zwei gleich vier ist. Es gibt genug verstümmelte Menschen; und sie bestimmen hier nicht. Chinesen und Irokesen werden uns darin so wenig irre machen als Räuber in unseren Begriffen von Recht und Unrecht. Es gibt doch ein allgemeines ästhetisches Urteil.

Das Schöne ist unmittelbar und absolut einleuchtend. Kant sagt: »Schön ist, was ohne begriffmäßiges Denken allgemein und notwendig gefällt.« Es ist das übersinnliche Substrat in der Menschennatur, das vom Schönen erfaßt wird. Der Mensch soll werden, was er ist. Er soll alle Eigenschaften in sich entwickeln und jene volle Uebereinstimmung von Geist und Sinnlichkeit erreichen, von der die Rede war. Wir sind Krüppel, wenn wir nicht unsere Sinnlichkeit erziehen. Vom Bande des Geistes getrennt, verwildert sie; und ohne sie verdorrt der Geist. Wer sich mit dem Schönen gar nicht vertraut macht, ist ein Barbar. Des Menschen Natur ist Bildung, Kultur, wodurch die ursprünglich in ihm liegende reine Menschlichkeit sich entfaltet. In der Kultur wird nur fertig, was in der Natur liegt. Besäße einer die Sinnesanlage für das Schöne überhaupt gar nicht, so wäre er nur ein Bruchstück von einem Menschen.

Das Volk freilich hat bei seiner groben Arbeit keine Zeit, diese Uebereinstimmung von Sinnlichkeit und Geist zu entwickeln. Seine Innerlichkeit ist nicht so ausgebildet, daß aus Farben, Gestalten, Tönen all das Tiefe zu ihm spricht, was der Künstler in sie gelegt hat. Nicht daß es dem Volke ganz erspart wäre, aber vor großen Werken wird es mehr oder weniger stumpf dastehen.

Das ursprünglich Reinmenschliche kann in einem Volke durch äußere Ungunst von leichter Entwickelung abgehalten, es kann aber auch verbildet und durch falsche Kultur verdreht werden. Man denke z. B. an China, wo die verstümmelten Frauenfüße für schön gelten. Oder blicken wir nach unserer eignen Vergangenheit. Die deutsche Malerei, wie lange hat sie gebraucht, um die normale Menschengestalt zu begreifen! Selbst Albrecht Dürer schuf unwillkürlich manche verfehlte. Er trug in seinem Inneren noch nicht den Kanon, den wir mitbringen müssen, um zu beurteilen, daß eine Menschengestalt schön oder nicht schön ist, und doch war er ein so meisterhafter Zeichner. Unser nordisches Gefühl hat lange gebraucht, bis ihm das Ideal der schönen Menschengestalt aufging und hat es erst lernen müssen bei den Alten, an der antiken Kunst und an der italienischen. Das Reinmenschliche muß also durch Kultur entwickelt sein.

Aber auch wer sich wirklich zum Menschen gebildet hat, auch der wird gegenüber dem Schönen nicht immer übereinstimmen mit anderen, die mit ihm auf gleicher Höhe stehen. Das Kunstwerk wirkt eben auf unendlich viele und unendlich verschieden geartete Individualitäten. Jede hat ihre Grenzen, ihre bestimmt angeborenen Neigungen. Es ist ganz natürlich, daß dem einen rnehr der romanische und gotische und weniger der griechische Stil gefällt, den der andere vorzieht. Aber von dem, welcher zum Menschen, d. h. zur Harmonie seines Sinnes- und Seelenlebens sich entwickelt hat, ist doch wenigstens zu verlangen, daß er etwas wirklich Schönes, das ihm persönlich weniger zusagt, nicht schlechtweg geringschätze und einfach verwerfe. Er soll wenigstens begreifen, daß andere es für schön halten können.

Man hört da oft: de gustibus non est disputandum. Damit werden wir auf einen anderen Punkt geleitet, auf den Begriff Geschmack.

Früher wurde für Aesthetik das Wort Geschmackslehre gebraucht, so noch von Kant. Das ist aber falsch. Geschmack und Schönheitssinn ist zweierlei. Geschmack bezieht sich zunächst auf das bloß Angenehme und findet seine wahre Anwendung nur in untergeordneten Sphären, für die keine Gesetze aufzustellen sind. Ganz frei geben wir das Geschmacksurteil nur im engsten Sinne, als Zungenempfindung. Nur hierin ist reine Zufälligkeit und Unbestimmbarkeit. Der eine mag Fische, der andere nicht. Nun wird aber die Bezeichnung Geschmack auch auf Gebiete übertragen, wo die Kunst hineinragt; und da lassen wir das Urteil nicht ganz frei. Kleider, Möbel, Geräte sind zunächst Sachen des Bedarfs und der Bequemlichkeit. Aber es bekundet sich darin der persönliche Geschmack des einzelnen. Für Kleiderfarben, Zimmerausstattungen gibt es keine Polizei. Wir lassen darin jedem seine Art und richten nicht strenge. Dennoch sagen wir von einem Menschen über seinen Anzug und Hausrat: er hat keinen Geschmack. Und damit geben wir zu, daß es auch hierin feste Normen gibt, daß sich die Gesetze der rein ästhetischen Sphäre, der Kunstwelt auch auf dieses Gebiet erstrecken. Das Farbengesetz ist etwas Objektives. Wer dagegen geht, von dem sagen wir: er hat keinen Geschmack.

Nun wieder von der selbständigen Kunst. Es kann ein Kunstwerk in seinen wesentlichen Teilen schön sein und doch Geschmacklosigkeiten enthalten an gewissen Stellen der Peripherie, in relativ untergeordneten Nebenpartien, bis in die hinein des Künstlers Phantasie nicht reicht.

Der Geschmack schafft kein Kunstwerk, aber er hält, wenn es entsteht, das Ungeziemliche ab von ihm. Das Wort bezieht sich nur auf den Saum am Gewande des Schönen. Durch Geschmack ist z. B. nie eine großartige Komposition, nie ein erhabenes Monument entstanden, aber wo es in den Einzelheiten auszuführen war, da war auch Geschmack notwendig. Wir erkennen es wohl, wo ein Künstler von genialem Schöpfungstrieb gegen den Geschmack fehlt; und das thut das Genie nicht selten.

Darauf bezieht sich ein Distichon Schillers:

»Warum will sich Geschmack und Genie so selten vereinen?«
Jener fürchtet die Kraft, dieses verachtet den Zaum.

So verachten Michelangelo und Rubens den Zaum; und es geht bei ihnen nicht ab ohne allerlei Verstöße gegen den Geschmack. In ihrer Urgewalt, was kümmert sie's, wenn sie Takt und Zartsinn befremden! Shakespeares manierierte Vergleiche sind zuweilen positiv abgeschmackt. Er zahlt darin der Mode seiner Zeit Tribut. Abgeschmackt ist stärker als geschmacklos, jenes das konträre, dieses nur das kontradiktorische Gegenteil von Geschmack. Geschmacklosigkeit ist bloß der Mangel an Geschmack. Für das eine wie für das andere sind wir auch im Element des Genius nicht blind. Kinderpietät gehört in keine Welt, wo es heißt: »reif sein ist alles.«

Nun mag aber schließlich der Gegner sagen: ja, wenn du am End' auch manches erkennen kannst: zu was soll nun das gut sein? Was nützt mich das? Es verderbt, es zersetzt nur die reine Lust am Schönen und die Fähigkeit, es zu schaffen. Man reflektiert und mäkelt zu viel. Alles Schöne ist naiv und will naiv aufgefaßt und hervorgebracht sein. Mit eurer Wisserei und Gescheitheit nehmt ihr dem Menschen das Restchen Natur, das in seinem Geist noch übrig ist.

Naivität ist im Schönen Grundbegriff, Grundgesetz. Wie steht es damit in der heutigen Generation? Befindet sie sich etwa doch im Zustand jener edlen Unmittelbarkeit, die für den Genuß des Schönen vorausgesetzt wird? Ich glaube nicht. Zu sagen, daß man heute nach dieser Seite mehr oder weniger verbildet sei, wäre wohl stark, denn die Barbarei des Publikums in Kunst, Musik, Poesie geht meist ins ganz Grobe. Aber man hat andererseits so viel gehört und gelesen von Kritik, von Kennerschaft u. dergl., daß man kaum widerstehen kann, auch den Kenner und Kritiker zu spielen, statt sich einfach zu freuen. Da liegt ein großes Uebel. Wir sind weit hinausgekommen über ein kindlich harmloses Betrachten des Schönen. Mit aufgeklemmtem Zwicker, vorgehaltener Lorgnette bringt man im Anblick eines Kunstwerks allerlei Weises vor. Wie sieht es doch aus mit der Kritik in der Tageslitteratur! Wie oberflächlich und krumm sind oft die Urteile. Es meint so mancher, der noch feucht hinter den Ohren ist, er sei zum Richter und Führer berufen. Die Not ist groß. –

Wenn ich darin nicht zu schwarz sehe, so werden wir unserem Gegner sagen, da ist an uns durch Wissenschaft nichts mehr zu verderben, drum heilen wir uns lieber durch Homöopathie und gehen auf den Grund. Wir müssen uns hineinstürzen und tüchtig schwimmen. Da kann doch geholfen werden durch klare, gesunde Kunstanschauungen, die sich auf richtige, durchgreifende Prinzipien gründen. Das Halbwissen muß ergänzt werden. Kritik soll und kann nur üben der Berufene, der weiß, welche Maßstäbe anzulegen sind, nur der, welcher seine Begriffe geläutert hat durch ernste Studien, welcher z. B. Lessings Laokoon und hamburgische Dramaturgie gelesen hat. –

Wenn es auch wahr bleibt, daß das ästhetische Genießen ein Wohlgefallen ohne Begriff ist, da es mit einem Schlag und ganz unbewußt eintritt, so schließt das nicht aus, daß darin eingehüllt eine Welt von Begriffen liege. Ganz ohne Vermittlung ist im geistigen Leben gar nichts; auch das Gefühl bewegt sich ja immer durch Denken hindurch. Nehmen Sie an, es handelt sich um Baustile. Da wird nun der Laie nur verwirrt, weil er sich nicht bewußt ist, daß das Schöne eine Geschichte hat und daß kein Komparativ unbedingt gilt, wo einer fragt: was ist schöner: gotische oder griechische Architektonik? In der Malerei verfolgen z. B. Raphael und Rubens zwei sehr verschiedene Richtungen. Ein Laie wird nun ganz konfus, er meint, er müsse sich jetzt unbedingt entscheiden; und er muß es doch eigentlich nicht. – Was schickt sich am meisten in Bezug auf die Grenzen der verschiedenen Kunstgattungen? Welche Bedeutung hat das Material für die Form? Und welche der Ort? Alle diese Erwägungen setzt der echt ästhetische Genuß voraus.

Wenn nun einer in einem Gemälde Komposition, Zeichnung, Farbe, Gesamt- und Lokalton unterscheiden, und beurteilen kann, ob die räumlichen Verhältnisse richtig und angemessen sind, wenn er sich dann besinnt, was ist der Ausdruck in dem allem, so ist das freilich eine Reihe von Reflexionen. Aber nachher wird er doch zur Einheit zurückkehren und zu einem Ergebnis, das er ganz leicht in Gefühl umsetzen kann; sein Empfinden wird davon gesättigt sein; was er erst nur dachte, ist nun seine Gewohnheit, sein Besitz. So wird er sich auch überzeugen, daß es gar nicht so schrecklich ist mit dem Denken über das Schöne. Es ist keine Säure, von der »die Milch der frommen Denkart« verderbt wird; es greift die Naivität nicht wie ein ätzender Stoff an.

Dabei wollen wir übrigens nicht den Wert der praktischen Erfahrung unterschätzen. Es wird ohne Frage gut sein, das Verständnis durch selbständige Uebung zu schulen. Denn nur der erfaßt ein Kunstwerk ganz, der es versucht hat, die Technik, wodurch es entstanden ist, bis zu einem gewissen Grade zu lernen. Ich werde die Farben in einem Bilde viel besser beurteilen, wenn ich es selber erprobt habe, wie es beim Malen zugeht. Der Genuß selbst ist ein vollerer, wenn man die Kunst, die ihm gilt, von solchen Uebungen kennt. –

Fragt man aber: liegt es im Zwecke des Künstlers, daß er sich streng psychologisch ins Schöne vertiefe und mit der Litteratur darüber bekannt mache, so ist zu erwidern: die Aesthetik gibt keine Anleitung zur Kunstpraxis; sie ist in diesem Sinne nicht Theorie. Dem Künstler muß es, wie schon gesagt, die Intuition eingeben, was er machen soll; eine Art von Hellsehen muß es ihm zeigen. Bei der Aesthetik kann er nicht Kunst lernen. Mit allem Denken kommt kein Kunstwerk zu stande. Schiller sagt einmal, er gebe alles, was er auf dem Wege ästhetischer Forschung gefunden habe, dahin um einen einigen schwierigen Kunstgriff beim Komponieren. Das ist wohl stark, aber es ist viel Wahres daran.

In dem Augenblick des Erfindens, des Greifens nach einem Motiv und seiner lebensvollen Realisierung, da hilft dem Künstler unsere Wissenschaft nichts. Aber im Ganzen seiner Seelenbewegungen, seines Sinnens und Waltens, sollte es da so sehr vom Argen sein, wenn er über die Stilarten, über Komposition etc. durch Denken etwas Klarheit besitzt; – und gehört zur Bildung nicht am Ende auch Bildung zum Denken über die Kunst? Man könnte nur einwenden, daß ihm darin Maßhalten zu raten ist. Indessen das rät sich ihm von selbst, eben weil er auf einen so großartigen Instinkt angelegt ist. Diesem widerstrebt zwar nicht allgemein wissenschaftliche Bildung, wohl aber ein philosophisches Eindringen in die letzten Gründe.

Es hat jemand gesagt: der Bildhauer soll eigentlich nicht Anatomie studieren, sondern studiert haben Michelangelo hat zu viel Anatomie studiert. Weil er aber ein großes Genie war, hat es ihn natürlich nicht verderbt, es ist ihm nur anzuspüren.. So möchte ich allgemein vom Künstler sagen: Er soll über das Schöne nicht nachdenken, sondern nachgedacht haben. Das wird ihm bei seinem Schaffen wenigstens negativ dienlich sein, wird ihn vor Fehlschritten bewahren. Karstens z. B. hat nach Kant die Begriffe von Raum und Zeit gemalt. Dies wäre unterblieben, wenn er auch nur das ABC der Aesthetik in sich aufgenommen hätte. Hetsch hat Maria gemalt, wie sie mit der Gemahlin des Pontius Pilatus wandelt und sie von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt. Auch Witze werden gemalt. Das geht ja doch nicht. Malerisch darstellen, was nur poetisch darstellbar, oder nur poetisch wirksam ist, dies und anderer Unsinn würde nicht so leicht vorkommen, wenn die Künstler weniger Scheue trügen, ihr bewußtes Gedankenleben und dabei ihre ästhetischen Begriffe etwas auszubilden. Sie würden dann auch besser wissen, was eine Kunstgattung leisten kann und was nicht. Die Phantasie des Schaffenden ist nicht so wehleidig, daß ihr Bildung schaden könnte. Kunst und Kunstwissenschaft gehören zusammen. Denken, Forschen ist auch ein Produzieren. Nur in der Wechselwirkung werden beide gedeihen.

 

Ich habe gesagt: unser Gegenstand, das Schöne, ist heiter und sinnenerfreulich. Das aber wird auch immer wieder unser mühevolles Denken über ihn erfrischen. Uns beschäftigt das heitere Reich der reinen Formen, das Reich der zweiten Schöpfung, welche von der fühlenden Menschenseele in die erste hineingezaubert wird.

Die Kunst zeigt uns dieselben Formen, welche die Natur geschaffen hat. Der Mensch kann eine eigentlich neue Gestalt nicht erfinden. Alles, was er z. B. in Karikaturen Erstaunliches hervorbringt, ist nur tolle Zusammensetzung von Naturformen. Aber die Erzeugnisse der Kunst sind frei von dem Druck, der in der Wirklichkeit auf den Naturformen liegt. Sie sind hell, frei, heiter, rein. »Es sind die heiteren Regionen, wo die reinen Formen wohnen.« Die reinen Formen, damit meint Schiller die von Erdenflecken freien Formen. In diese selige Welt führt unsere strenge Wissenschaft.

Das Schöne will gar nichts als erfreuen, edel erfreuen, so daß die Freude eine Erhebung ist. Die Kunst veredelt ungesucht. Es ist uns nie wohl im Gemeinen; und so ist freilich die Kunst auch völkererziehend. Ihre Welt ist angstlos. Auf dem Leben liegt so ein eigentümlicher Druck. Der muß noch nicht lange gelebt haben, der nicht verspürt hat, wie ein Gespensterhauch über dem Leben webt. »Es geht ein finsterer Geist durch dieses Haus«, können wir auch im Leben oft sagen. Das vergessen wir in der Kunst, weil sie uns in einem reinen Schein, der aber nicht inhaltslos ist, sondern Wahrheit ausstrahlt, das Gefühl und die Vorstellung einer vollkommenen, einer harmonischen Welt gibt Vgl. oben S. 4.. Im wirklichen Leben gehen wir keinen Schritt, von dem wir gewiß wissen, daß nicht im nächsten Augenblick ein Konflikt kommt, aus dem wir nicht rein hervorgehen. Das dürfen wir in der Kunst vergessen.

»Nur der Körper eignet jenen Mächten,
Die das dunkle Schicksal flechten;
Aber frei von jeder Zeitgewalt,
Die Gespielin seliger Naturen,
Wandelt oben in des Lichtes Fluren,
Göttlich unter Göttern, die Gestalt.«

Die reine Kunstgestalt ist in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt; sie steht in ihr wie ein seliger Geist. So wirkt aber nur wahre, hohe Kunst. Sie verklärt, was sie in die Hand nimmt.

Goethe sagt in Wahrheit und Dichtung: »Die wahre Poesie kündigt sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen.«

Mit reinen Formen, von Erdenschwere befreiten, von den Flecken des Lebens geläuterten Formen, haben wir es zu thun. In den Künsten, die man nachahmende nennt, gibt es nur die von der Natur gegebenen Formen. Nicht nachahmende Künste sind Architektur und Musik. Sie bilden eigene Formen. Wir wollen nun vorerst eine Ueberschau über das Reich der Künste halten.

 

Die Architektur

 

steht zwar mit ihren Wurzeln im Boden des Bedürfnisses, aber ihr Dienst wird ein freier; und an diesem ihrem Dienst entzündet sich die Künstlerphantasie und wächst, je höher der Zweck steigt. Wenn es gilt, nicht mehr bloß eine Hütte, sondern für den edel gebildeten Menschen Räume herzustellen, da wird es auch gelten, den Adel der Menschenbildung dem Bauwerke aufzudrücken. Und gar, wo man einen Tempel errichtet, das Haus, worin der Gott wohnt! An diesem höchsten Zwecke hat sich überall der Stil der Architektur entwickelt. Wenn Sie nur einen Teil eines künstlerischen Bauwerks, selbst in der Zertrümmerung, sehen, so werden Sie spüren, hier weht Idealgeist. Ein Ausdruck dieser Empfindung ist in Goethes Gedicht »Der Wanderer« enthalten; und man könnte glauben, es sei in Italien entstanden, dort, wo man eine andere Art von Schutt aus dem Boden gräbt als bei uns; allein Goethe hatte nur im Elsaß Reste eines Tempels an der Hütte eines Landmannes gesehen; und davon hingerissen, läßt er seinen Wanderer ausrufen:

»Spuren ordnender Menschenhand
Zwischen dem Gesträuch!
Diese Steine hast du nicht gefügt,
Reich hinstreuende Natur.« –
»Ich erkenne dich, bildender Geist!
Hast dein Siegel in den Stein geprägt.«

Das ist die Kunst; wo Sie nur ein Stück von ihr sehen, ist ein Adel da, eine menschlich durchfühlte Natur mitten in der Natur.

 

In der Skulptur

 

will sie die Rundheit, die Gediegenheit, die Formenharmonie im organischen Gebilde des menschlichen und tierischen Körpers wiedergeben. Um dies ganz zu erschöpfen, verzichtet sie auf die Darstellung der Farben und auf den Versuch, die Bewegungen wirklich nachzuahmen. Der Verzicht hierauf befähigt sie, alle Reize auszuatmen, welche in dieser wunderbaren Flächen- und Kurvenwelt liegen. Diese Kunst wird dann aber auch wahrhaft verewigend.

 

In der Malerei

 

vollzieht die Kunst den Schritt, die Farbe aufzunehmen. Will sie aber erreichen, was sie mit der Farbe sagen kann, so muß sie verzichten auf die Raumausfüllung. Sie wirft einen bloßen Schein von Körpern auf eine Fläche und gewinnt durch diese Beschränkung an Darstellungsreichtum. Sie kann sich so fast über den ganzen Umkreis des Sichtbaren erstrecken; die Welt des Seelenausdrucks, des Furchtbaren und Komischen ist ihr in weit größerem Maße erschlossen als der Skulptur.

Je mehr die Kunst bloßer Schein ist, um so höher wird sie stehen und um so mehr kann sie darstellen. Die Künste zeigen sich als stufenmäßig aufsteigend, aber diejenige, welche beziehungsweise die ärmere ist, behauptet dann wieder einen Vorzug nach anderer Seite. Malerei und Skulptur haben nicht den Ton und nicht die wirkliche Bewegung. Sie fesseln einen Moment in einer Reihe von Bewegungen. Dieser Moment ist der einzig dargestellte, wird nun aber im höchsten Grade anschaulich.

An die bildenden Künste schließt sich das Kunstgewerbe. Es ist dies ein Gebiet, worin sich das Schöne mit Dingen verbindet, die dem Zwecke der Notdurft und Bequemlichkeit dienen, also ein anhängendes Gebiet. Auch in ihm erkennen wir die Macht des Schönen. Es zieht sich so kräftig hinein in die empirische Welt, es umschlingt sie so innig, daß wir geradezu vergessen, wie alles, was uns umgibt, einen Bund des Schönen mit dem Nützlichen darstellt. Und wie arm das Leben ohne das Schöne wäre, können wir nur ahnen.

 

Die Musik

 

kann als solche keine Gegenstände darstellen, außer mit Zuhilfenahme von Text und Bühne. Wir reden aber von reiner, d. h. von Instrumentalmusik. Sie kann nicht die Sache selbst geben, sondern nur ihr Echo in der menschlichen Seele. Die Außenwelt ist weg, der Geist der Kunst webt hier nur im Geheimnis des Gefühlslebens. Dieses ist im gewöhnlichen Leben so gedrückt und belastet, so unaufhörlich affiziert von Verdrießlichkeiten, daß es einer Kunst bedarf, wodurch es harmonisiert wird. Die Musik bringt zwar auch Dissonanzen, nicht aber ohne sie zu lösen; und so erhebt sie uns in eine himmlische Sphäre, durch Töne idealisiert sie die Stimmung.

Mit dem unendlichen Reichtum ihrer Reize ist aber auch eine unendliche Armut da. Denn eigentlich soll die Kunst doch ein erhöhtes Bild der Welt geben. Die Welt ist aber sichtbar und im Raum; und diese ganze sichtbare Welt des Raumes haben wir verloren in der Musik. Darum hat die Menschheit müssen

 

die Dichtkunst

 

erfinden, die auch im Tone thätig ist, aber im artikulierten Ton, im Wort, in der Sprache. Hiemit ist der letzte, höchste Schritt geschehen. Die Kunst spricht, und jetzt erst kann sie alles darstellen, was ist. Sie weckt die Phantasie zu Vorstellungen. Jetzt erst ist die ganze Welt erschlossen, weil hier eigentlich auf alles Material verzichtet ist. Denn das Wort ist für die Poesie nicht Material wie Stein und Erz für die Plastik, wie die Farbe für die Malerei; es ist nur elektrischer Draht, durch welchen das Phantasiebild des Dichters hinüberläuft in die Phantasie des Lesers oder Zuhörers. Gar nichts mehr wird eigentlich sichtbar, selbst auf das Hören kann verzichtet werden. Nur an den Geist wendet sich der Dichter.

Der Wert der anderen Künste soll nicht verkannt werden. Jede hat ein Gebiet, worin es ihr eine andere nicht nachthun kann, aber die Dichtkunst ist doch die reichste unter allen, und sie ist die tiefste. Sie erschließt das Reich des Sichtbaren wieder und mit dem Wort offenbart sie zugleich das geistige Leben. Und indem sie so die ganze Welt gewinnt, gibt sie ihr das ideale Licht einer höheren Harmonie. Darin hat sie einen Umfang und eine Tiefe wie keine andere Kunst.



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