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Es war Nacht – sternenklar und mild; aber ein tiefes Dunkel brütete auf den Wassern. Dann und wann drang das langgezogene Geheul eines Schakals vom Lande zu uns herüber, oder das scharfe Geschrei eines Wasservogels auf dem See.
Der »Fram« war aus seinem Versteck zwischen den Weidenbäumen herausgeholt und lag nun etwa zehn Meter vom Lande entfernt klar zum Hissen. Die Schleife einer dünnen Trosse war um den nächsten Baumstrunk geworfen. Man hatte nur das Ende an Bord loszuwerfen, und der Kutter konnte auf die Fläche des Sees hinausgleiten.
Wo wir lagen, war fast gar kein Windhauch zu verspüren, aber in den Baumkronen rauschte der Nachtwind und verkündete, daß wenn wir erst aus dem Schutz der Bäume wären, der »Fram« seine vier bis sechs Knoten laufen könne.
In der Kajüte war Licht angezündet, aber die Gardinen waren sorgfältig vor alle Oeffnungen gezogen. Der Schatten der Bäume senkte sich so tief, daß der »Fram« jedem, der in die Nähe kam, verborgen bleiben mußte.
Monk und ich saßen aus Deck. Wir konnten uns gerade noch mit Mühe gegenseitig im Dunkel unterscheiden. Manchmal stand einer von uns auf und lauschte und spähte in die Nacht hinaus.
Haben wir nicht vielleicht doch unrecht getan, als wir ihm seinen Willen ließen – hörst du, Monk?
Konnten wir anders? Wir taten doch unser Bestes, um ihn zu hindern; aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich, heißt es; und wie du weißt, ist Holt gegenwärtig heftig von einer Krankheit ergriffen, die jeden vernünftigen Disput mit ihm unmöglich macht.
Dein Spaß ist gut; aber mir wird allmählich bange um ihn. Sie werden ihn gefangen nehmen.
Ohne Kampf läßt er sich nicht fangen, und dann hätten wir seinen Revolver gehört. Uebrigens ist sein Plan bei näherem Nachdenken nicht so dumm – zwar kühn, aber nicht dummdreist.
Wenn man das Plan nennen kann: sich mit der Jolle nach dem Schlupfwinkel zu schleichen und es dann dem Zufall zu überlassen, ob er sich mit dem Mädchen ins Einvernehmen setzen kann!
Es war doch ein gut Teil Berechnung mit dabei im Spiel. Die Dame ist sicher allein in dem gestreiften Zelt; wir sahen sie ja mehrmals dort aus und ein gehen, ehe es dunkel wurde. Um elf Uhr wurde es still drüben und die Lichter erloschen, sodaß dort aller Wahrscheinlichkeit nach jedermann schläft.
Aber wenn sie Wachen ausgestellt hatten?
Wachen! Meinst du, die Leute gehen zu ihrem Vergnügen auf Wache? Weshalb sollten sie Wache halten, da sie nicht ahnen können, daß jemand nach ihnen sucht? Hier, wo sie sich ebenso sicher vor Menschen wähnen müssen, als ob sie am Nordpol oder im Paradies wären!
Aber einer von uns hätte ihn doch in der Jolle begleiten sollen, zwei Mann sind besser als einer.
Nein, damit bin ich nicht einverstanden. Ein mutiger Mann richtet oft mehr aus als zwei, besonders, wo es sich um Schnelligkeit und Ruhe handelt. Holt ist wie ein Indianer auf dem Kriegspfad und stark wie ein Bär. Aber es hat keinen Zweck, darüber zu reden. Er wollte ja das Abenteuer allein bestehen und keine Ueberredung würde geholfen haben; wir hätten Gewalt anwenden müssen, um ihn zurückzuhalten.
Wie spät ist es?
Halb zwei Uhr. –
Ich erhob mich spähend und lauschend; doch nichts ließ sich hören, und die Nacht brütete stumm wie vorher.
Wir bemerkten einen leichten Stoß gegen den Steven des Bootes und ein Scheuern längseits, aber es war nur ein Baumstamm, den die Strömung mit sich trug; er verschwand im Dunkel.
Noch eine Stunde verstrich. Selbst Henriksen schien unruhig zu werden. Er sagte nichts, sondern kroch im Dunkel umher, ordnete ein Ende hier und eine Schoot dort und brummte etwas davon, »daß es gut sei, wenn man alles klar habe«.
Der Himmel im Osten begann einen helleren Schein anzunehmen, und der Schatten der Bäume schien tiefer zu werden, während die Wasserfläche einen gräulichen Schimmer zeigte.
Da knallte plötzlich ein Schuß – dann noch einer, wieder einer und endlich zwei, die fast zu einem einzigen verschmolzen.
Wir standen alle drei auf dem kleinen Vorderdeck und versuchten trotz des Dunkels gegenseitig auf den Gesichtern zu lesen.
Auf einmal hörte man den fernen Ruf einer menschlichen Stimme, dann mehrere und undeutlichen Lärm – es waren peinliche Augenblicke.
Wir werden nun wohl den Kutter unter Segel bringen müssen – –?
Henriksen zögerte und wartete auf Antwort.
Es ist das beste, antwortete Monk und sprang selbst an das Klüverfall. Nimm das Ruder, Henriksen!
Der Klüver wurde gehißt und die Trosse eingeholt. Die Strömung führte das Boot aus dem Schutz der Bäume heraus. Das große Segel schlug leise, füllte sich dann aber, und der »Fram« glitt aus dem Schatten auf die silbergraue Fläche des Sees hinaus. Gleichzeitig schwebte die prachtvolle Halbkugel des Mondes über die Baumwipfel empor; aber drüben unter der großen Insel, die nun vor uns ausgebreitet lag, war der Schatten so dunkel, daß nichts unterschieden werden konnte. Nur die Mastspitzen der beiden Schiffe hoben sich vom Himmel ab, ihre Rumpfe, der Strand und die Schuppen waren ganz in Dunkel gehüllt, ebenso die kleine Insel, die wir eben verlassen hatten.
Der Wind trug einen undeutlichen Lärm zu uns herüber doch war kein Licht sichtbar.
Wir horchten gespannt auf das Geräusch von Ruderschlägen oder Holts Stimme; aber nichts gab uns Aufschluß über das Schicksal unseres Kameraden.
Wenn er ihnen entwischt ist, flüsterte Monk, so hält er sich im Schatten des Landes und sucht den »Fram« auf seinem früheren Platz. Wir dürfen deshalb nicht zu weit hinüber kreuzen.
Nein, wir wollen lieber wenden und ein wenig zurückfahren.
Der Klüver wurde übergeholt und das Ruder niedergelegt; der Kutter schoß in den Wind. Wir wurden wieder von dem Schatten der Bäume auf der kleinen Insel eingehüllt.
Monk bog sich vorwärts gegen die Wasserfläche und rief: Holt! Holt! Hier sind wir – –
Keine Antwort!
Es verstrichen fünf Minuten – unsere Spannung war groß. Abermals wandte sich der Bug des »Fram« südwärts gegen den mondbeleuchteten See, während unsere Augen den Schatten längs des Landes zu durchdringen suchten. Von dorther mußte er kommen.
Da drang ein schwacher Ruf an unser Ohr; er schien draußen vom See hereinzukommen.
Henriksen war der erste, der etwas entdeckte:
Dort! quer aus! ein paar Kabellängen entfernt! ,… Er zeigte unter dem Großsegel an Steuerbord hinaus – Hol mich dieser und jener, wenn das nicht die Jolle ist! Aber etwas Wunderliches ist dort am Achterende.
Auf mit dem Ruder! Gerade darauf los gehalten! Monk und ich hißten das Segel. Der Kutter fiel ab, während Henriksen die Schooten steuerbords anholte. Wir blieben auf dem Vorderdeck stehen und starrten über den Bug hinaus.
Ja, es war die Jolle – sie trieb schnell vor Strömung und Wind heraus und wir hörten das Geräusch unregelmäßiger Ruderschläge. Man konnte eine Gestalt auf der mittleren Ruderbank und eine andere rückwärts unterscheiden. Doch war nicht festzustellen, wer es war; denn das Boot kehrte uns bald die Seite, bald den Steven zu. Es sah aus, als wenn Kinder sich unterhalten und mit einem Riemen bald auf der einen, bald auf der andern Seite rudern.
Es nützt nichts, daß wir uns zu verstecken suchen, sagte Monk; wir sind mitten im Mondschein und von der Bucht aus sehen sie uns deutlich. Am besten ist es, ich rufe ihn an. Und mit aller Kraft seiner Lunge rief er: Holt! hörst du? Siehst du uns nicht? – Wir kommen schon – rudere nicht von uns fort!
Diesmal antwortete eine Stimme, aber ganz schwach; ich glaubte sie als diejenige unseres Kameraden unterscheiden zu können. Die Ruderschläge hörten auf. Der Wind war frisch, und der Kutter glitt schnell durch das Wasser, aber die Augenblicke erschienen uns furchtbar lange.
Endlich waren wir dicht neben der Jolle. Die Gestalt an den Rudern hatte die Mittelbank verlassen und bog sich über das Achterende des Bootes.
Nicht zu schnell, Henriksen! Aber Henriksen bedurfte keiner Ermahnung. Seine Hand lag auf der Ruderpinne, sein geübtes Auge maß den Abstand.
Wie ein Pferd, das dem Zügel gehorcht und seinen Lauf mäßigt, so glitt der »Fram« sachte auf die Luvseite des kleinen Bootes, so nahe, daß er sich an dessen Seite rieb. Starke Hände griffen zu und hielten es fest.
Um Gottes willen, meine Herren, vorsichtig – er ist verwundet und kann nicht ins Boot kommen. –
Erst beim Klang dieser Stimme wußten wir, wie es um das Fahrzeug stand. Es war eine Frau, welche Spanisch redete. Sie wandte uns ihr Gesicht zu, und nun erkannten wir die junge Dame vom »Ozean«. Sie stand im Hinterraum der Jolle und lehnte sich über das Achterende. Dort hing ein Mann mit dem Körper im Wasser, nur Schultern und Kopf befanden sich in gleicher Höhe mit dem Bootsrand. Die eine Hand klammerte sich krampfhaft an den Rand; der Kopf war hintenüber gebogen und die Augen waren geschlossen. Der Mondschein fiel auf sein totenbleiches Gesicht: es war Holt.
Jetzt erst wurden wir gewahr, daß die Fangleine des Bootes unter den Armen hindurch um seinen Leib geschlungen und an dem Steven der Jolle festgebunden war.
Henriksen hatte seinen Platz auf der Steuerluke verlassen. Er lehnte sich gleich uns über die Reling hinaus.
Gott bewahre, ist da nicht ein Weib im Boot und der Leutnant hängt außer Boot – tot!
Halt einstweilen dein Maul! Hol lieber einen Ströpp, damit wir ihn fangen und an Bord ziehen können.
Henriksen eilte nach vorn und kam in unglaublich kurzer Zeit mit einem Segeltuchströpp zurück.
Ist er tot, Signorita? fragte ich, sobald ich mich von meinem Schrecken erholt hatte.
Nein, ich glaube nicht. Er sprach noch vor kurzer Zeit. Er antwortete, als Sie riefen und bat mich, das Rudern einzustellen. Sie bog sich wieder über ihn und versuchte ihr Taschentuch um seine linke Schulter zu knüpfen. Das Hemd war aufgerissen und mit Blut befleckt. Der Arm hing schlaff herab.
Erlauben Sie, daß ich Ihnen an Bord helfe, Fräulein. Nachher holen wir ihn herauf.
Nein, nein, lassen Sie mich hier bleiben und ihn stützen, während Sie ihn ins Schiff heben!
Sie gehört nicht zu jenen Damen, die ohnmächtig werden, wenn sie ihres Verstandes am meisten bedürfen, flüsterte Monk mir zu. Lasse sie nur in der Jolle bleiben, bis wir Holt herüber befördert haben.
Endlich brachten wir den breiten Segeltuchströpp um den leblosen Körper Holts und hißten ihn vorsichtig wie einen kostbaren Warenballen an Bord. Dann streckten Monk und ich uns über die Reling hinaus und hoben das Mädchen auf das Deck des »Fram«. Wir führten sie in die Kajüte, wohin wir auch unseren bewußtlosen Kameraden trugen.
Er ist nicht tot, sagte Monk; ein Glas Kognak wird ihn wieder zum Leben bringen. Er hat eine Schußwunde in der Schulter und eine Menge Blut verloren; aber es hat nun aufgehört zu fließen.
Ein paar Sekunden später schlug Holt die Augen auf und die Röte kehrte in seine Wangen zurück.
Na, wie geht es?
Danke, – jetzt geht es besser. Ich glaube, ich wurde ohnmächtig – er führte seine rechte Hand suchend nach der linken Schulter – ja, das ist wahr, einer der Halunken feuerte alle fünf Schüsse seines Revolvers auf uns ab, – aber ist nicht – war nicht – –?
Gewiß, sie war im Boot und ist nun hier. Monk zeigte auf das junge Mädchen, welches neben Holts Kopfkissen im Schatten saß. Er versuchte sich zu erheben, aber sie trat hervor und ergriff seine Hand. – –
Ein großes Boot voller Leute kommt gegen uns, brüllte in diesem Augenblick Henriksen von der Treppe herab.
Holt machte einen neuen Versuch aufzustehen; ich drückte ihn jedoch sanft auf das Sofa nieder.
Helfen Sie ihm die Wunde verbinden, Fräulein, – ich wies auf den Medizinkasten, den Monk hervorgenommen und geöffnet hatte. Dann stürzten wir auf Deck.
Henriksen hatte recht. Gerade dort, wo der Schatten der Bäume aufhörte und vom Mondschein abgelöst wurde, kam ein Boot zum Vorschein. Es fuhr rasch vorwärts, von sechs bis acht Rudern auf jeder Seite getrieben. Der Wind trug das Geräusch der schnellen Ruderschläge und die Stimmen der Männer zu uns herüber. Sie mochten vier oder fünf Kabellängen von uns entfernt sein.
Henriksen saß schon an der Steuerluke. Er hatte das Ruder aufgeholt und das Großsegel übergelegt. Der Kutter fiel ab und der Wind füllte seine Segel.
Geh hinab und hol das Gewehr und die Revolver. mit der Munition herauf; Henriksen und ich steuern einstweilen den Kutter.
Monk sprang in den Steuerraum zu Henriksen. Ich eilte in die Kajüte. Holt lag, mit halbgeschlossenen Augen und einem verlegenen Lächeln auf dem kräftigen Gesicht, zurückgelehnt auf den Kissen. Neben ihm kniete die junge Dame, eifrig beschäftigt, die verwundete Schulter mit einem Verband zu versehen. Sie hatte ihren Anzug in Ordnung gebracht und das reiche schwarze Haar in einen glänzenden Knoten gebunden. Gott mag wissen, woher sie die Zeit dazu genommen hatte! Sie wandte mir das schöne, kräftige Profil zu. Ihre Stirne war bleich; aber über Wangen und Hals war die lebhafteste Röte verbreitet. Niemand würde geglaubt haben, daß sie noch vor wenigen Minuten für ihr Leben und dasjenige eines andern gekämpft hatte. Ich mußte an Monks Worte über sie denken.
Später vernahmen wir von Holt, wie sich alles zugetragen hatte. Er war unbemerkt unter die große Insel gerudert und östlich von den Schuppen und dem Zelt gelandet. Dort ging er an Land. Ein paar Stunden mußte er am Waldsaum warten, ehe er sich nähern durfte, denn am Ufer verkehrten noch immer Leute. Endlich erschien ihm alles still und er näherte sich dem Zelt. Das junge Mädchen war glücklicherweise noch nicht zur Koje gegangen, und nachdem er wiederholt leise ihren Namen gerufen, hatte sie seine Stimme erkannt. Mit großer Geistesgegenwart hatte sie das Licht gelöscht und war aus dem Zelt getreten. Was sie bewog, so schnell das Anerbieten Holts anzunehmen, ihm an Bord des »Fram« zu folgen und mit uns nach Europa zu fahren, das wird aus meiner späteren Erzählung hervorgehen. Genug – sie holte ein kleines Bündel mit Kleidern aus ihrem Zelt und folgte ihm nach der Jolle.
Aber ob nun Schildwachen ausgestellt waren oder der Zufall jemand von der Bande zur Stelle geführt hatte, gerade als sie das Ufer erreichten, wurden sie angerufen. Holt brachte schnell das Mädchen ins Boot und stemmte die Schulter gegen den Steven, um dasselbe hinauszuschieben. Da stürzte ein Mann hervor und feuerte seinen Revolver gegen ihn ab. Holt fühlte sich getroffen, riß aber eines der Ruder an sich, wandte sich um, sprang auf den Mann los und fällte ihn durch einen tüchtigen Schlag mit dem zähen Eschenholz. Er hatte auch Kraft genug, das Boot hinauszuschieben, aber mit dem gelähmten Arm war es ihm unmöglich, in dasselbe zu steigen. Das junge Mädchen verlor jedoch nicht einen Augenblick die Besinnung. Sie schlang die Fangleine unter seinen Armen durch und begann nun mit dem einen Ruder die Jolle fortzubewegen; das andere hatte Holt fortgeworfen.
Wind und Strömung unterstützten sie, bis wir sie dahertreiben sahen.