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Mein Schlummer war sanft, nicht aber mein Erwachen; ein fürchterliches Gewicht ruhte auf meiner Brust, und etwas Weiches, Ekelhaftes auf meinem Mund verhinderte mich zu atmen. Ich saß nicht mehr, sondern lag auf dem Rücken. Meine Hände und Füße wurden festgehalten, sodaß ich nicht ein Glied rühren konnte. Ich versuchte meine Glieder zu befreien, den Kopf zu heben, zu rufen, alles umsonst. Meine Anstrengungen erhöhten nur das quälende Gefühl.
War es ein entsetzlicher Alp? Nein! darüber war ich sofort im klaren. Halberwürgt wie ich war, begriff ich doch sogleich, daß ich in einen Hinterhalt gefallen war, daß es Menschen waren, die mich überwältigt hatten.
Der Mangel an Luft bewog mich bald, meine Befreiungsversuche aufzugeben; ich sah auch ein, daß sie nutzlos waren.
Ich fühlte kräftige Griffe um meine Fußknöchel und Handgelenke, und eine Stimme tönte in meine Ohren. Der Mund, der die Worte sprach, befand sich so nahe, daß ich seinen, warmen Atem in meinem Gesicht fühlte, er flüsterte, aber mit Nachdruck: »Liegen Sie still, kein Laut, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!« Es waren spanische Laute, und ich zweifle nicht daran, daß das Messer, welches meine Kehle kitzelte, um den Worten Nachdruck zu geben, dem gleichen Lande entstammte.
Jetzt hörte ich mehrere Stimmen murmeln. Man begann meine Hände und Füße zu binden, während das Messer mich dann und wann auf eine sehr überzeugende Weise zur Geduld mahnte. Wie verwünschte ich meine Schläfrigkeit und Nachlässigkeit! Ob wohl Monk und Holt auf gleiche Weise behandelt wurden? Das Gehirn arbeitet schnell und sicher unter solchen Umständen. Einen Augenblick durchfuhr mich der Gedanke: wenn nur der Lärm sie weckt und sie mir zu Hilfe kommen! Aber die nächste Sekunde ließ mich das Gegenteil wünschen: an den Stimmen hörte ich, daß viele Männer um mich waren. Es hätte meinen Kameraden das Leben kosten können, wenn sie zum Entsatz auf Deck gestürzt wären; ich hoffte, daß sie überrascht worden, wie ich.
Es waren übrigens Leute, die ihr Handwerk verstanden: im Laufe weniger Minuten war ich zu einer bewegungslosen Masse zusammengeschnürt. Ein feuchtes, vielfach um meinen Kopf gewickelte Tuch verhinderte jeden Schrei und ließ gerade so viel Luft in meine Lungen, daß ich das Bewußtsein nicht verlor.
Es wurde geraume Zeit stille um mich her. Jetzt vernahm ich wieder Stimmen und Tritte auf der Treppe und auf Deck – diesmal nicht so gedämpft, ich hörte einzelne rohe Gelächterausbrüche, unterbrochen von kurzen Befehlen; aber ich konnte die Worte nicht unterscheiden. Nun wurde ich an den Füßen und Schultern erfaßt, die Kajütentreppe hinabgetragen und dort auf den Boden geworfen, mit einer letzten Warnung mich ruhig zu verhalten, und mit einem scheußlichen Kitzeln an der Kehle, sodaß ich das Blut unter dem Hemd auf die Brust hinabfließen fühlte.
Dann verließ man mich, und einige Zeit nachher hörte ich Schritte auf dem Deck über mir. Die Stricke um meine Handgelenke – denn man hatte mir die Arme auf den Rücken gebunden – und die Fußknöchel schmerzten furchtbar. Ich konnte nicht länger atmen und wurde ohnmächtig.
Als ich wieder zur Besinnung kam, fühlte ich die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Körper, aber ich lag noch immer in dem gleichen hilflosen Zustand. Ich konnte jedoch ohne Mühe atmen, da mein Mund weniger fest verbunden war. Die Sonne, die lange Zeit durch die offene Niedergangskapp geleuchtet, hatte das nasse Tuch getrocknet und erschlafft, sodaß es abglitt, als ich den Kopf am Boden zu reiben begann. Ich lag in der hintern Kajüte und war allein. Es gelang mir, eine sitzende Lage einzunehmen. Im Nu standen die Vorgänge der letzten Nacht deutlich in meiner Erinnerung.
Aber wie war es meinen Kameraden ergangen? Ich horchte und glaubte ein schwaches Stöhnen aus der andern Kajüte zu vernehmen. Ich zerrte an meinen Fesseln; aber sie widerstanden allen Anstrengungen, schnitten nur tiefer in das Fleisch ein und verursachten mir fürchterliche Schmerzen. Mein umherirrender Blick fiel auf die Türschwelle mit dem abgenutzten Messingbeschlage; er war halb abgerissen und die scharfen Ränder des Bleches standen hervor – einer von uns war am vorigen Tag darüber gestrauchelt.
Durch einige verzweifelte Körperdrehungen gelangte ich dorthin und drückte den Rücken mit den gebundenen Händen dagegen. Aber es ist nicht so leicht, sechs bis acht Windungen einer starken Leine durchzufeilen. Dann und wann ging ein wenig Haut und Fleisch mit und das Blut rann über den Kajütenboden. Nur der Gedanke, daß meine Kameraden vielleicht dem Ersticken nahe waren, gab mir die Kraft, meine Anstrengungen fortzusetzen. Endlich sprang das letzte Band, meine Hände waren frei, wenn auch geschunden und kraftlos.
Ich hatte ein Federmesser in der Tasche, aber meine Hände waren so unbrauchbar, daß es mehrere Minuten dauerte, bis meine Füße von ihren Bänden befreit waren.
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, wenn ich an die Erscheinung denke, die mir draußen in der Borderkajüte begegnete: mitten auf dem Boden lag Holt in dem gleichen kläglichen Zustand wie ich vorhin. Er war ursprünglich in einen der Verschläge geworfen worden, hätte sich aber durch die offenstehende Türe heraus in die Kajüte gearbeitet. Auch er kannte natürlich weder Hände noch Füße gebrauchen, sondern hüpfte über den Boden wie ein Tangfloh, als er meine Schritte hörte. – Ein paar Schnitte meines Messers gaben ihm die Freiheit wieder.
In einem der Verschläge fand ich auch Monk. Er lag ganz still. Einen Augenblick durchzuckte mich ein fürchterlicher Gedanke – war er tot? Indessen erholte er sich bald, als ich seine Fesseln durchschnitten und einen Eimer Wasser über ihn ausgegossen hatte. Der Sicherheit halber spendete ich auch Holt einen Eimer voll; aber er schien keinen Wert darauf zu legen, als er da auf dem Boden hockte und seine Fuß- und Handgelenke befühlte.
Er war der erste von uns, der seinen Mund öffnete; er sah mich mit einem unsichern Blick an: Woher kommst du? Ich glaubte, sie hätten dich umgebracht. Gottlob, daß wir alle am Leben sind!
Ich lag gebunden dort drüben, schob mich aber gegen die Türschwelle hin und feilte die Leine an einer scharfen Kante durch.
Und Monk lag dort drinnen?
Jawohl!
Aber wo ist denn – – – das kranke Mädchen?
Weiß nicht, habe sie nicht gesehen.
Was sagst du? Ist sie denn nicht dort drinnen? Haben die Schurken sie mitgenommen?
Holt versuchte aufzuspringen; aber die Füße versagten ihm den Dienst. Er kroch nun auf allen Vieren in die Kajüte hinein und kehrte auf gleiche Weise zurück: Sie ist fort; aber ich werde sie wieder holen, und wenn ich sie auf dem ganzen Atlantischen Ozean suchen müßte! Und die Halunken sollen ihre Strafe erhalten, so wahr, als –
Die Halunken! Weißt du, wo sie sind? Monk sprach zum erstenmal. Sind sie noch hier an Bord? Weißt du etwas, Frederik?
Nein, ich habe die Kajüte nicht verlassen, seit – – seit – – seit ich dort niedergeworfen wurde.
Wir blickten durch die Türe auf der Vorderseite der Hütte; aber das Deck war öde und kein Laut hörbar außer dem gewöhnlichen Rasseln im Takelwerk und dem leisen Plätschern der Wellen an der Seite. Es war windstill und die Segel schlappten gegen die Masten.
Wir kletterten auf das Halbdeck hinten. – Die Sonne stand hoch am Himmel und die Meeresfläche dehnte sich aus wie eine große geriffelte Glasplatte.
Holt zeigte stumm nach hinten über das Heck hinaus: das große Boot war fort.
Monk blickte auf seine Uhr: Wie weit können sie in sechs Stunden rudern?
O – es sind wenigstens 6–8 Mann. Sie können um diese Zeit 15-20 Meilen weit gerudert sein. Ueberdies haben wir Windstille und können ihnen nicht nachsegeln. Wir wissen auch nicht, ob sie nach Süd, Ost, Nord oder West gerudert sind. Es ist nichts von ihnen zu sehen; aber doch – – –
Aber doch?
Holt antwortete nicht und eine Weile beschäftigte sich jeder von uns mit seinen eigenen Gedanken. Aber bald machten andere Forderungen sich geltend: unsere Fußknöchel und Handgelenke waren in einem traurigen Zustand. Die Leine hatte ins Fleisch geschnitten und die Haut war bei der Anstrengung, loszukommen, in großen Stücken, abgerissen worden. Es war ein tragikomischer Anblick, als wir drei mutlos auf dem Deck saßen und unsere Schrammen pflegten. Monk hatte am wenigsten gelitten; er hatte vernünftigerweise die Sache ruhig hingenommen. Er war sogar imstande, uns passende Verbände anzulegen.
Unterdessen tauschten wir unsere Meinungen über die Ereignisse dieser Nacht aus, die freilich ziemlich gleichartiger Natur waren. Alle drei waren wir im Schlaf überrascht und mit der gleichen Gewandtheit und Sachkenntnis behandelt worden, sodaß von Widerstand keine Rede sein konnte. Monk war, nachdem man ihn gebunden hatte, hinaus in die vordere Kajüte geschleppt worden, vermutlich, um nicht Zeuge des Gespräches mit dem spanischen Mädchen zu sein. Er konnte nur gerade soviel verstehen, daß sie darum bat, an Bord bleiben zu dürfen, doch ohne Erfolg.
Wenn sie es nur übersteht, murmelte Holt; so schwach wie sie ist, in einem Boot auf das offene Meer hinausgeschleppt zu werden.
Aber was sagt ihr dazu, daß ich auf meinem Posten eingeschlafen bin? Ich war tief beschämt, versuchte aber die Sache von der spaßhaften Seite zu betrachten.
O, das hätte uns andern auch widerfahren können, und dann glaube ich, daß es am besten war, keinen Widerstand zu leisten. Es würde uns das Leben gekostet haben.
Ich griff in die Tasche: Mein Revolver ist fort.
Der meinige auch.
Der meinige ebenfalls; doch das ist nun gleichgültig; wir treffen sie doch nicht so bald wieder.
Nach und nach kehrte der Humor zurück; wir genossen etwas und nahmen eine gründliche Untersuchung des Schiffes vor.
Drunten in der Taukammer zeigte es sich, daß hinter einigen großen Taurollen mehrere Bretter in der Wand auf der Hinterseite gelöst und dadurch eine Verbindung mit dem großen Raum hergestellt worden war. Im Sand, der den Ballast bildete, fanden sich die Spuren mehrerer Menschen und am Abhang des Sandhaufens zwischen dem Fockmast und dem großen Mast waren die Ueberreste des »Lagers«: mehrere wollene Decken, Proviantreste, leere Konservenbüchsen u. s. w.
Monk zeigte uns mehrere Spuren, die nach hinten zum Keller unter der Kajüte führten. Hier waren ebenfalls einige Bretter in der Wand gelöst und es war klar, daß die Männer eine Leiter benützt hatten, die nach den Kajütenräumen im Hinterteil führte; man konnte auf diese Weise in die Speisekammer steigen. Die Klappe über der Luke war von unten leicht zu heben; oben wurde sie durch den Linoleumteppich verborgen, der den Boden bedeckte. Wir gingen den gleichen Weg.
Es ist ihnen leicht gewesen, unsere Bewegungen zu beobachten und den passenden Augenblick zu wählen, um uns ohne Kampf in ihre Gewalt zu bringen, bemerkte Monk. Was man nun auch von dem Verfahren dieser Herren denken mag, so ist es doch klar, daß sie kein Blutvergießen gewünscht haben. Wären es blutdürstige Räuber gewesen, so würden sie uns verhindert haben, an Bord zu kommen oder hätten sofort einen Angriff auf uns gemacht; ich sehe, daß sie sieben Mann zählten.
Aber in des Himmels Namen, was ist der Grund, daß diese Leute an Bord dieses Schiffes sind, daß sie sich bei unserer Ankunft verbergen und uns an Händen und Füßen gebunden zurücklassen, daß die übrige Besatzung des Schiffes fort ist, daß ein spanisches Mädchen an Bord sich befindet, und daß – daß Karl Henriksen verrückt wird und mit dem »Fram« vor unsern Augen fortsegelt, mitten auf dem Meer – fuhr Holt fort.
Die Erklärung kommt wohl noch, antwortete Monk mit Ueberzeugung. Aber sagt mir doch vor allem, wißt ihr sicher, daß unsere angenehmen Wirte an Bord dieses Schiffes Spanier gewesen sind?
Ich kann nur sagen, daß die Worte, die ich von ihnen hörte, spanische gewesen sind – echtes, unverfälschtes Spanisch, soviel ich verstehe.
Mehr kann ich auch nicht sagen, bemerkte Holt. Daß die Dame eine Spanierin war, ist sicher.
Ja, daran zweifle ich nicht, antwortete Monk; doch ich möchte gern etwas ganz Sicheres haben, um daraus meine Schlüsse zu ziehen. Bemerkte jemand von euch, ob ihre Sprache gebildete Leute verriet?
Mir kam es vor, als ob ich wenigstens eine Stimme unter ihnen hörte, welche sich der Sprechweise der höheren Klassen bediente.
Die junge Dame erzählte, daß ihr Vater mit an Bord gewesen sei, bemerkte Holt; und sie gehörte doch jedenfalls der gebildeten Gesellschaftsklasse an.
Du hast recht, sagte Monk, wir sind also so weit gekommen, zu wissen, daß sich bei unserer Ankunft eine Schar Männer, wahrscheinlich Spanier, hier an Bord befunden hat, von denen wenigstens einer kein gewöhnlicher Seemann ist; daß sie Gründe hatten, nicht mit uns in Verkehr zu treten, ja, nicht einmal von uns gesehen zu werden, und daß sie das Schiff zu verlassen wünschten – ich stieß Holt leise an und flüsterte: unterbrich ihn jetzt nicht, er ist im rechten Geleise.
Aber es war bestimmt, daß Monk seine Schlüsse auf ein andermal verschieben sollte.
* * *
Während unseres Gesprächs, das wir in der Kajüte geführt hatten, begann nämlich das Schiff plötzlich überzukrängen, während der Sonnenschein verschwand und der Raum düster wurde. Wir eilten auf Deck. Das Schiff war in den Wind aufgeluvt, weil das Ruder in Lee gesorrt war und die Segel back standen. Mit vieler Mühe braßten wir um und erhielten volle Segel. Ich darf nicht weiter südöstlich steuern, sagte Holt; wir nähern uns allzusehr der afrikanischen Küste. Ueberdies sind wir ganz ohne Besteck; ich kann auf die nächsten zwanzig bis dreißig Meilen nicht sagen, wo wir sind.
So beschlossen wir, zu wenden – auch keine leichte Arbeit für drei Invaliden. Monk stand am Ruder.
Halt ein wenig! Nicht zu heftig luven, wir könnten sonst zu viel Wasser herüber bekommen! rief Holt nach hinten, als das Schiff den Bug in eine See rannte. Wir erhielten übrigens nur Sprühregen herüber, da das Fahrzeug ballastet war und hoch auf dem Wasser lag; aber der Rumpf erlitt nichtsdestoweniger eine ordentliche Erschütterung und ein Knall ließ sich hören, als wenn hinten etwas quer durchbräche.
Ich habe es längst befürchtet – es ist unsere Steuervorrichtung. Holt sprang nach hinten und ich folgte. Richtig, unsere mühsame Arbeit war vernichtet; die Spaken waren gebrochen und die Leinen gesprengt. Das Ruder war locker und schlug fürchterlich.
Das verheißt eine frohe Weihnacht, sagte Holt. Er stand hinten auf der Hütte und sah bekümmert auf die schweren Seen, die brüllend gegen die Schiffsseite schlugen.
Es war ein harter Tag für uns: die Steuervorrichtung in Ordnung zu bringen, daran war nicht zu denken. Wir mußten uns darauf beschränken, den beschädigten Teil des Takelwerkes zu kappen und so viele Segel als möglich zu setzen, um das Fahrzeug zu stützen, das tot – quer auf den Seen lag.
Bald fiel es wieder mehrere Striche ab und fuhr weiter, lief auf in den Wind, bis die See den Bug wieder nach der Leeseite zurückwarf. Glücklicherweise blies kein eigentlicher Sturm, sondern nur eine Kühlte, wie die Seeleute sagen, und wie sie dieser Gegend im Sommer eigen zu sein pflegt. Wir hegten keine Besorgnisse um das Schiff; es war dicht und gut. Dagegen begannen wir uns in bedenklichem Grad der Küste Afrikas zu nähern – soviel wir erkennen konnten.
Wir hatten keine Beobachtungen gemacht, seit wir an Bord des »Ozean« gekommen waren, mit Ausnahme einer Mittagshöhe am zweiten Tage. Es fanden sich zwar Instrumente und Tabellen an Bord; aber der Chronometer war fort, sodaß Längenbestimmungen unmöglich waren. Holt hatte wohl eine Art Besteck geführt, so gut er konnte; aber wie der Leser bemerkt haben wird, war unser Leben an Bord des »Ozean« etwas wechselreich und nicht gerade zur regelmäßigen Führung eines Besteckes geeignet.
Während der Nacht nahm der Wind ein wenig ab, und es wurde klar und sternenhell. Als der Morgen anbrach, kam im Südosten Land in Sicht – hohe Berge und eine tiefere Küste davor. Wir mußten ungefähr unter dem 34. Breitegrad sein, und das Land gehörte jedenfalls zur afrikanischen Küste von Kap Mazighan nordwärts.
Wie weit sind wir von der Küste? fragte ich.
Kaum zwanzig Meilen vom Strande, antwortete Holt; wir sehen noch nicht einmal die äußerste Küstenlinie, sie ist in dieser Gegend stets niedrig.
Aber dann laufen wir Gefahr, am Land zu stranden!
Ja, das ist sicher, und zwar noch vor Abend, wenn nicht, der Wind umschlägt oder sich ganz legt.
Wir müssen ein Boot aussetzen, schlug Monk vor. Wenn wir mit der Barkasse zustande kamen, so werden wir wohl auch eines der beiden andern regieren können, die auf den Galgen liegen.
Bei dieser See bringen wir es nicht ganz aufs Wasser, antwortete Holt; aber du magst wenigstens den Donkey heizen, Frederik!
Was willst du tun?
Wir werden die Anker klar machen und sie fallen lassen, sobald das Wasser seichter wird. Der Nordwind nimmt am Abend immer ab, sodaß noch Hoffnung ist, daß das Schiff vor den Ankern liegen wird.
Gibt's hier einen Hafen?
Nein; jedenfalls können wir nicht nach einem solchen steuern; aber in dieser Gegend fällt der Meeresboden gleichmäßig vom Lande ab, sodaß in einer Entfernung von ein paar Meilen vom Ufer auf passendere Tiefe und Sandgrund gerechnet werden kann; ich will jedoch nicht verhehlen, daß die Kette schwerlich halten wird, wenn die See sich nicht legt.
Und dann?
Ja – dann stranden wir, und das Fahrzeug scheitert auf den Felsen oder wird im Sand begraben.
Und wir?
Wir müssen uns retten, so gut wir können, oder das Leben einbüßen, wenn es nicht anders geht.
Wir wollen hoffen, daß ein Dampfer vorüber kommt.
Das würde der reinste Zufall sein. Denn hier ist die ungastlichste Küste der Welt. Wohl laufen einzelne Dampfer der großen Routen die marokkanischen Küstenstädte Tanger, El Arich, Magador und wie sie heißen mögen – alles scheußliche Löcher – an aber es vergehen oft mehrere Tage zwischen jedem Anlauf:
Es blieb nichts anderes übrig, als sich aufs neue an die Arbeit zu begeben – trotzdem wir ermüdet und überanstrengt waren. Um sechs Uhr nachmittags war alles klar; bis dahin hatten wir uns aber auch der Küste soweit genähert, daß wir den Schaum der fürchterlichen Brandung am Ufer sehen konnten. Sie war nicht mehr als fünf bis sechs Meilen entfernt. Wir warfen das Lot und fanden auf 50 Faden Grund. Glücklicherweise legte sich der Wind nach und nach, je mehr die Sonne sank, und die See nahm merklich ab. Um sieben Uhr hatten wir 30 Faden Wasser und eine halbe Stunde später ließen wir die Anker fallen.
Das Fahrzeug erhob den Bug, wie ein schnaubendes Pferd seinen Kopf erhebt; dann aber tauchte es so in die nächste See hinab, daß das Wasser über Back hereinstürzte – die Ankerketten wurden gespannt, es gab einen Ruck, sodaß wir auf Deck durcheinander taumelten, aber sie hielten. Vorläufig waren wir gerettet; denn der Wind legte sich, und die See glättete sich mit jeder Minute. Todmüde und keuchend warfen wir uns auf die große Luke.
Wenn man doch jetzt ein Glas Wein oder Branntwein hätte! Es müssen lauter Temperenzler an Bord gewesen sein. Denn außer der einen Flasche Genever, die wir geleert haben, ist kein Tropfen Alkohol zu finden.
Halt! Monk erhob sich mit nachdenklichem Gesicht. Jetzt hab ich's! Unten in dem Räuberlager auf dem Ballasthaufen habe ich Flaschen gesehen, die nicht alle leer zu sein schienen.
Er verschwand eilig im Raum und kehrte alsbald triumphierend zurück. Eine ganze Flasche Rum und eine halbe Portwein hatten die Halunken übrig gelassen.
Ich glaube nicht, daß je ein Trunk einem sterblichen Menschen besser geschmeckt hat, als uns jener Tropfen auf der großen Luke des »Ozean«. Er gab uns Humor und Kraft wieder, und schon wenige Minuten später hantierte Holt so ruhig in der Kombüse, als ob er in seinem Leben nichts anderes getan hätte, als Ragouts zu kochen.
Die Gefahr einer Strandung war einstweilen beseitigt. Die Ankerketten hingen schlaff aus den Klüsen und streckten sich nur dann, wenn die schwere Dünung den Bug hob. Es war beinahe still und die südliche Nacht senkte sich auf drei matte und dankbare Männer, die den Schlaf des Gerechten schliefen. Von einer Wache war in dieser Nacht keine Rede. Das Schiff stampfte und rollte schwer in der Dünung, was uns aber nur um so besser schlafen ließ.
* * *
Heraus und nimm deinen Kaffee! Wir müssen versuchen, das Boot auszusetzen und davon zu kommen, je eher, desto besser. – Holt stand vor meiner Koje.
Na, das war ein angenehmes Erwachen! Ich träumte gerade, daß ich durch die Karl-Johannstraße und an der Universität vorüber ginge und – – – was ist denn los?
Nichts anderes, als daß es wieder zu blasen begonnen hat und ein Unwetter droht – diesmal aus Nordwest.
Da soll doch gleich – – – ich stürzte schlaftrunken aus der Koje.
Holt hatte leider recht – das sah ich, als ich auf Deck kam. Die Sonne schien, aber durch einen unangenehmen, zähen Dunst, und im Nordwesten war die Luft gelbgrau und schmutzig. Es blies schon eine Brise gerade nach dem Lande.
Monk und Holt machten eben die Bootsdavits hinten an Backbord klar.
Ich zweifle daran, daß wir das Boot und uns selbst heil und ganz aufs Wasser bringen, bemerkte Holt, und zum erstenmal vernahm ich etwas wie Ungeduld aus seiner Stimme. Aber es bleibt nichts anderes übrig, und wir müssen uns beeilen. Fängt erst der Nordwest zu blasen an, so werden wir einen ganz andern Seegang erleben als gestern.
Das Schiff, das den Vorderteil gegen den Wind kehrte, blieb quer auf der Dünung liegen und schlingerte auf eine Weise, die unsere Arbeit fast unausführbar machte.
Nach vieler Mühe hatten wir endlich das Boot unter die Davits gebracht. Wir wollten gerade Proviant, Decken und andere Sachen in dasselbe tragen, als es eine ordentliche Ueberholung gegen Backbord machte; die Bootsleine sprang. Das Schiff erhob sich und fiel dann gegen Steuerbord herüber. Das Boot schwang zurück wie ein Perpendikel und – zerschmetterte wie Glas an der Schiffsseite.
Holt sprach kein Wort, sondern warf einen Blick ringsum auf das Meer. Der Wind nahm immer mehr zu und die Seen wälzten sich haushoch an der Schiffsseite entlang. So trat er stumm zu dem andern Boot und begann es klar zu machen. Es war ein langer, schmaler Kahn, größer als der erstere; aber er schien tief auf dem Wasser zu liegen und nicht zu Fahrten auf offener See gebaut zu sein.
Nützt es eigentlich etwas, sich mit diesem Scheusal von einem Boot zu beschäftigen? fragte Monk. Selbst wenn wir es aufs Wasser bringen könnten, so vermöchten wir es in solcher See nicht zu regieren, wie? – Wir wollen das verfluchte Boot aufgeben! Wir rackern uns nur ohne Nutzen damit ab. Ueberdies scheinen ja die Ketten halten zu wollen. –
Sie halten so lange, bis sie springen, antwortete Holt. Sieh dort! und er zeigte auf das Meer hinaus, wo eine mächtige, grüne See herangezogen kam, gefolgt von zwei andern – sie kommen immer zu dreien, diese Ungeheuer.
Die See näherte sich brüllend und schäumend und schloß den Bug des Schiffes in ihre Arme, sodaß das Wasser über die Back hereinstürzte bis hinten zum Halbdeck, dabei an den Ketten reißend, daß die Masten von unten bis oben zitterten.
Dann kam die zweite und machte es ebenso; aber die dritte reichte nicht herauf – der Schiffsbug leistete keinen Widerstand mehr; er fiel ab und die See mußte in ihrer ohnmächtigen Wut sich damit begnügen, ihn hoch emporzuheben und dann in den Abgrund hinabzuwerfen.
Die Ankerketten waren gesprengt, und das Fahrzeug trieb schnell dem Strande zu. Die Veränderung in den Bewegungen des Schiffes war kenntlich genug, und niemand von uns war im Zweifel, was geschehen war – wenn auch nichts gesprochen wurde.
Holt schwang sich in die Besanswant und stieg einige Webeleinen empor. Dann starrte er nach der Küste hinüber.
Ich folgte ihm; aber Monk blieb auf der Hütte stehen.
Es war nichts anderes zu sehen als das Meer auf der einen und Klippen, Sand und Brandung auf der andern Seite, soweit das Auge reichen konnte.
Wie lange wird es dauern, bis das Schiff strandet? fragte ich.
Eine halbe Stunde, war die Antwort. Wir wollen hinab gehen und die kleine Jolle des »Fram« aus die Hütte tragen. Wenn das Schiff glücklich stranden sollte, so ist Aussicht auf Rettung für uns. –
Aber was ist das? rief ich plötzlich. Ist das eine Möwe oder ein Boot? Die Strahlen der Sonne spielten auf einem schimmernden Fleck auf der Höhe eines Wellenkamms zwei bis drei Meilen entfernt. – Nun ist es fort! nein, da ist es wieder.
Es ist ein Boot! schrie Holt. So wahr ich lebe, es ist ein Boot!
Monk hörte unsere Ausrufe und im nächsten Augenblick stand er in der Want neben uns.
Sonderbar hörte ich Holt murmeln; – – ein Lotsenboot in diesem Fahrwasser!
Ja, wenigstens ein Fahrzeug von dieser Sorte, ungefähr wie der »Fram«.
Dann ist es wohl der »Fram«, bemerkte Monk trocken; es ist wahrscheinlicher als etwas anderes.
Ja, gewiß ist es der »Fram«. Holt ließ sich auf Deck hinabgleiten, stürzte dann in die Kajüte und kam wenige Sekunden später mit dem Fernrohr zurück: Ja, es ist der »Fram« und Henriksen an der Steuerluke mit seinem gelben Südwester und schwarzen Bart.
Siehst du niemand sonst an Bord?
Nein, keine Seele!
Es war auch die höchste Zeit – wenn es überhaupt noch Zeit war. Der »Ozean« trieb schnell gegen die Klippen, Der donnerähnliche Lärm der Brandung füllte bereits unser Ohr.
Der »Fram« schoß wie ein Vogel von einem Wellenkamm zum andern, während der Schaum sich in einem dichten Kranz vor dem Bug wälzte und der kurze, stattliche Mast unter dem hellen Himmel hin und her schwang. Nun ist er so nahe, daß wir das Angesicht des Mannes unterscheiden können, der in der Steuerluke steht.
Ja, es ist Henriksen, kein anderer – er reißt den Südwester vom Kopf und schwingt ihn. Wir winken wieder mit unsern Mützen und erheben ein Hurrageschrei, das aber nicht bis zu ihm dringt, der Wind entführt es auf halbem Wege.
Wer kommt zuerst an – der »Fram« zu uns, oder wir zur Brandung?
Wir haben nur noch ein paar Kabellängen vor uns, während die doppelte Entfernung uns vom Kutter trennt.
Rock und Schuhe abwerfen! ruft Holt. Er selbst tut das Gleiche; er schneidet drei Rettungsbojen vom Geländer um die Hütte und legt sie auf Deck zu unseren Füßen. Wir werden über Bord springen müssen; Karl Henriksen kann uns bei solcher See nicht aufnehmen.
Nun ist der »Fram« nicht mehr weit entfernt; aber die Brandung ist noch näher.
Klar zum Springen! ruft Holt. Wir dürfen nicht warten, bis das Schiff auf dem Grund sitzt. Springt aber erst dann, wenn das Hinterende niedertaucht.
Der »Ozean« wippt mit dem Sterz wie ein Vogel auf einem Zweig. Unterdessen nähert sich die See dem Geländer bis auf wenige Fuß, dann senkt sich der Wellenberg und wir blicken von einer Höhe hinab wie vom dritten Stock eines Hauses. Wir stehen alle drei nebeneinander mit unserer Rettungsboje in der Hand.
Wartet einen Augenblick! wir wollen die Jolle auswerfen!
Die Jolle des »Fram« fährt von starken Händen geschwungen von der Schiffsseite hinaus. Sie schwimmt wie Kork auf dem Wasser.
Der Kutter ist bloß ein paar hundert Ellen entfernt; es ist nicht schwer für schwimmkundige, kräftige Männer, sich über Wasser zu halten, bis er kommt, besonders, weil jeder seine Rettungsboje hat.
Bei der nächsten See springen wir, sagt Holt. Ich fürchte, daß der »Ozean« bald auf den Grund stößt. Aber springt so weit von der Schiffsseite ab als möglich.
Die See steigt fast bis an unsere Füße herauf, und wir springen. Aber mein linker Fuß will nicht mitfolgen – es ist, wie wenn mich etwas mit unheimlichem Griff am Knöchel erfaßte; ich will mich losreißen, – vergebens, mein Kopf hängt nach unten und das Blut strömt mir zum Gehirn, sodaß es in meinen Ohren rauscht und Tausende von Sternen vor meinen Augen tanzen – – – – die See weicht zurück, ich hänge frei in der Luft, doch jetzt kommt sie wieder und schleudert mich gegen die harten Planken am Hinterteil des Schiffes. Ich weiß, daß ich unter Wasser bin; dennoch muß ich meinen Mund öffnen – ich fühle, wie das Wasser in einem dicken Strahl in mich hineinströmt – dann schwindet mir jedes Bewußtsein.