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13

Tracy ging zum Abendessen nach Hause. Die Gerüche dieses Mahls kamen ihm durchdringender und entsetzlicher vor als je, und er war glücklich in dem Gedanken, daß er nun bald davon befreit sein werde. Als das Abendessen vorüber war, wußte er kaum, ob er etwas davon genossen hatte oder nicht, aber von der Unterhaltung hatte er entschieden nichts gehört. Sein Herz hatte während der ganzen Zeit ungestüm geklopft, seine Gedanken waren weit weg von allen diesen Dingen, und vor seinem Innern stiegen die prächtig ausgeschmückten Räume seines väterlichen Schlosses auf. Selbst der herausgeputzte Diener, dieses wandelnde Symbol einer rechtlosen Ungleichheit, war seinem traumbefangenen Blick nicht unangenehm erschienen.

Nach dem Essen sagte Barrow:

»Kommen Sie mit mir, ich will Ihnen einen vergnügten Abend verschaffen.«

»Sehr gern; wohin gehen Sie?«

»In meinen Klub.«

»Was für ein Klub ist das?«

»Der Arbeiterdebattenklub.«

Tracy fühlte einen leichten Schauder. Er sagte nicht, daß er diesen Ort schon besucht habe; die Erinnerung an diese Zeit war ihm einigermaßen unangenehm. Die Gefühle, die seinen Besuch dort so genußreich gemacht und ihn mit so warmer Begeisterung erfüllt hatten, waren allmählich andre geworden und so zusammengeschmolzen, daß er einem zweiten Besuche nicht mit Vergnügen entgegensehen konnte. Er schämte sich sogar ein wenig und hätte es gern vermieden, dahin zu gehen und durch das Abstoßende, das die Gedanken dieser Leute jetzt für seinen erneuerten Gemütszustand haben mußten, darauf hingewiesen zu werden, wie groß die mit ihm vorgegangene Veränderung war. Er erwartete dort, nur von Ansichten und Gefühlen sprechen zu hören, die ein Vorwurf für seine veränderte innere Haltung waren, und er wäre am liebsten von dem Besuche entbunden worden. Und doch wollte er das nicht sagen, er wollte nicht zeigen, wie es ihm ums Herz sei und daß er keine Lust zu dem Besuch habe. Und so zwang er sich, Narrow zu begleiten, sich heimlich vornehmend, die erste Gelegenheit zum Verlassen des Klubs zu ergreifen.

Nachdem der Redner des Abends seinen Vortrag gehalten hatte, zeigte der Vorsitzende an, daß nun die Debatte über den Gegenstand der letzten Versammlung, »Die amerikanische Presse«, beginne. Es machte den abgefallenen Jünger traurig, diese Ankündigung zu vernehmen; es rief zu viele Erinnerungen in ihm wach; er wünschte, es wäre ein andrer Gegenstand zur Besprechung gekommen. Aber die Debatte begann, und er verhielt sich still zuhörend. Im Laufe der Verhandlung klagte einer der Redner, ein Grobschmied namens Tompkins, alle Monarchen, alle Lords und Grafen der Welt wegen der kalten Selbstsucht an, mit der sie ihre unverdienten Würden beibehielten. Er sagte, kein Monarch und kein Monarchensohn, kein Graf und kein Grafensohn könne eigentlich seinen Nebenmenschen ins Angesicht sehen, ohne Scham zu empfinden: Scham darüber, daß er unverdiente Titel, Besitzungen und Vorrechte auf Kosten andrer Leute innehabe; Scham darüber, daß er unter allen Umständen im unehrenhaften Besitz dieser Dinge bleibe, welche von ehemals dem Volke zugefügtem Unrecht und am Volke verübtem Raube herrührten.

»Wäre ein Lord oder der Sohn eines Lords hier,« fuhr der Sprecher fort, »so würde ich gern mit ihm darüber diskutieren und ihm zu beweisen suchen, wie unredlich und selbstsüchtig seine Stellung ist. Ich würde versuchen, ihn zu überreden, daß er dieselbe aufgebe und seinen Platz ohne Vorrechte unter den Nebenmenschen einnehme, das Brot verdiene, das er ißt, und wenig Wert lege auf die Ehrerbietung, die ihm wegen seiner unnatürlichen Stellung und nicht als gerechter Lohn für persönliche Verdienste erzeigt wird.«

Es war Tracy, als höre er seine eignen Äußerungen, die er in Gesprächen mit radikalen Freunden in England getan hatte. Es war, als ob ein heimlich lauschender Phonograph seine Worte aufgespeichert und über den Atlantischen Ozean getragen hätte, um ihn in der Stunde der Niederlage und des Rückzuges damit anzuklagen. Jedes Wort, das dieser Fremde sprach, ließ eine Wunde in Tracys Gewissen zurück, und als der Redner zu Ende war, fühlte er, daß er nur noch Gewissen und dieses eine einzige Wunde war. Dieses Mannes tiefes Mitleid mit den bedrückten und geknechteten Millionen in Europa, welche die Verachtung der über ihnen stehenden kleinen Klasse ertragen müssen, und denen die Wege zu den glänzenden Höhen, auf welchen jene thronen, versperrt sind, war ganz dasselbe, das er oft selber geäußert hatte. Die Teilnahme in der Stimme und den Worten dieses Mannes war derjenigen zum Verwechseln ähnlich, die in seinem Herzen gewohnt hatte und von seinen eignen Lippen erklungen war, wenn er an diese bedrückten Menschen dachte.

Der Nachhauseweg wurde in tiefem Schweigen zurückgelegt. Dieses Schweigen war wohltuend für Tracys Empfinden; er hätte es um alles in der Welt nicht unterbrechen mögen, denn er schämte sich seiner selbst bis ins Innerste seiner Seele. Er sagte sich immer wieder:

»Wie unverantwortlich doch das alles ist – ganz unverantwortlich! Es ist niedrig, selbstsüchtig, entwürdigend, diese unverdienten Ehren und Würden zu behaupten und – oh, zum Henker auch – nur ein ver– was für eine verdammt blödsinnige Rede dieser Tompkins hielt!«

Der Ausbruch kam von Barrow. Er überströmte Tracys niedergedrückte Seele wie mit erfrischendem Wasser. Das waren ihm die liebsten Worte, die der arme, junge, schwankende Abtrünnige je gehört hatte, denn sie übertünchten seine Schmach, und damit wird einem ein guter Dienst geleistet, wenn man den besten aller Urteilssprüche – die eigne Freisprechung – nicht erlangen kann.

»Kommen Sie mit in mein Zimmer und rauchen Sie dort eine Pfeife!«

Tracy hatte diese Einladung erwartet und die Absicht gehabt, sie abzulehnen; jetzt nahm er sie gern an. Konnte man möglicherweise der trostlosen Rede dieses Mannes mit vernünftigen Gründen entgegentreten? Er brannte darauf, Barrow das versuchen zu hören. Er wußte recht gut, wie er ihn antreiben und im Gang erhalten konnte. Man mußte sich nur den Anschein geben, seine Stellung angreifen zu wollen – ein Verfahren, das bei den meisten Menschen seine Wirkung tut.

»Was haben Sie an Tompkins' Rede auszusetzen?«

»Daß er den Faktor der menschlichen Natur außer acht läßt: von einem andern fordern, was man selbst nicht tun würde.«

»Meinen Sie – –«

»Sie sollen gleich hören, was ich meine, 's ist sehr einfach. Tompkins ist Grobschmied, hat eine Familie, arbeitet um Lohn und das recht hart, denn müßiges Umherlaufen schafft kein Brot. Nehmen wir an, es stelle sich heraus, daß er durch den Tod irgendeiner Person in England plötzlich ein Lord würde mit einem Einkommen von einer halben Million Dollar jährlich. Was würde er wohl tun?«

»Nun, ich vermute, er würde ablehnen – –«

»Aber, lieber Herr! Zugreifen würde er, und zwar sofort.«

»Glauben Sie wirklich, daß er das tun würde?«

»Glauben? Ich glaube gar nichts, ich weiß es sicher.«

»Wieso?«

»Wieso? – Weil er kein Narr ist.«

»So meinen Sie also, wenn er ein Narr wäre, so – –«

»Nein, das nicht. Narr oder kein Narr, er würde auf jeden Fall zugreifen. Jeder würde das tun, jeder Mensch auf der Erde ohne alle Ausnahme. Ja, ich kannte Leute, die schon unter der Erde liegen und die vom Tode auferstehen und danach rennen würden. Ich selbst würde es tun.«

Das war Balsam, Heilung, war Ruhe, Frieden und Trost.

»Aber ich glaubte, Sie wären gegen den Adel?«

»Gegen den erblichen, ja. Aber das heißt gar nichts. Ich bin auch gegen die Millionäre, aber es wäre gewagt, mir eine solche Stellung anzubieten.«

»Sie würden sie annehmen?«

»Ich würde sogar das Begräbnis meines teuersten Feindes im Stich lassen, um schnell diese Last und Verantwortung auf mich zu nehmen.«

Tracy bedachte sich einen Augenblick, dann sagte er:

»Ich weiß nicht, ob ich Ihre Auffassung ganz verstehe. Sie sagen, Sie sind ein Gegner des erblichen Adels, und doch, wenn Sie in die Lage kämen, würden Sie – –«

»Ihn annehmen? In der Minute. Und es gibt keinen Arbeiter in dem ganzen Klub, der es nicht tun würde. Es gibt keinen Advokaten, keinen Doktor, Buchhändler, Schriftsteller, Kesselflicker, Eisenbahnpräsidenten, keinen Heiligen – überhaupt kein menschliches Wesen in den Vereinigten Staaten, das nicht vor Freude hüpfen würde bei einer solchen Aussicht.«

»Ich ausgenommen,« sagte Tracy sehr ruhig.

»Sie ausgenommen« – Barrow konnte die Worte kaum herausbringen, der Zorn erstickte ihn fast. Er kam auch nicht über diese zwei Worte hinaus, sie schienen ihn ganz aus der Fassung zu bringen. Er stand auf und starrte Tracy an, als ob dieser ihn auf das tiefste und unversöhnlich beleidigt hätte, und sagte wieder: »Sie ausgenommen.« Er ging um ihn herum, musterte ihn von einem Standpunkt aus und dann von einem andern und verschaffte sich von Zeit zu Zeit Luft dadurch, daß er ihm die zwei Worte zuschleuderte: »Sie ausgenommen.« Endlich warf er sich in einen Stuhl mit der Miene eines Mannes, der die Sache aufgibt, und sagte:

»Er strengt alle Kräfte an und bricht sich das Herz über dem Versuch, irgendeine niedrige Arbeit zu finden, die ein guter Hund nicht einmal haben möchte, und doch will er mir weismachen, daß, wenn er in die Lage käme, eine Grafenkrone zu erwischen, er sie nicht nehmen würde. Tracy, muten Sie mir nichts dergleichen zu, ich bin nicht mehr so stark wie früher.«

»Ich hatte gar nicht die Absicht, Ihnen damit etwas zuzumuten, Barrow; ich wollte nur zu verstehen geben, daß, wenn mir jemals eine Grafschaft zufallen sollte – –«

»Lassen Sie es gut sein – ich würde mir darüber an Ihrer Stelle keinen Kummer machen; überdies kann ich Ihnen genau sagen, was Sie tun würden. Sind Sie ein andrer Mensch als ich?«

»O nein.«

»Sind Sie besser als ich?«

»O – hm, ich – gewiß nicht.«

»Sind Sie ebenso gut? Gestehen Sie's.«

»In der Tat – ich – Sie fragen das alles so plötzlich –«

»Plötzlich? Was ist dabei Plötzliches? Es sind doch keine schwierigen Fragen. Ist da auch nur ein Zweifel möglich? Messen Sie uns doch nur nach dem einzigen richtigen Maßstab – dem des Verdienstes – und Sie werden zugeben, daß ein Stuhlflechter, der seine zwanzig Dollar wöchentlich verdient und gute, wahre Bildung durch die Berührung mit den Menschen gewann, der Sorgen und Plagen, Erfolge und Mißerfolge ertrug und vom Schicksal hinauf- und hinunter-, hinunter- und wieder hinaufgeworfen wurde, doch ein wenig über einem jungen Burschen wie Sie steht, der nichts Nützliches zu leisten versteht, seinen Lebensunterhalt nicht in irgendeiner sicheren und dauernden Weise erwerben kann, keine Erfahrung vom Leben und von dessen Ernst hat und keine Bildung besitzt als die künstlich aus Büchern erlangte, die wohl schmückt, aber nicht erzieht. – Nun, wenn ich eine Grafschaft nicht verschmähen würde, woher zum Teufel, nehmen Sie das Recht, es zu tun?«

Tracy verbarg seine Freude, so gern er auch Barrow für diese letzte Bemerkung gedankt hätte. Es kam ihm aber ein neuer Gedanke, und er sagte rasch:

»Aber sehen Sie – ich kann wirklich den Zusammenhang Ihrer Begriffe, Ihrer Grundsätze – wenn es überhaupt Grundsätze sind – nicht völlig fassen. Sie sind nicht konsequent. Ein Gegner des Adels, würden Sie doch eine Grafschaft annehmen, wenn Sie eine bekommen könnten. Soll ich daraus entnehmen, daß Sie einen Lord nicht tadeln, weil er einer ist und es bleibt.«

»Gewiß nicht.«

»Und Sie würden Tompkins nicht tadeln, oder sich selbst, oder mich, oder irgend jemand andern wegen der Annahme einer Grafschaft, wenn sie angeboten würde?«

»Würde mir nicht einfallen.«

»Nun denn, wen wollen Sie eigentlich tadeln?«

»Die ganze Nation – jede Volksmenge irgendwo, in jedem Lande, die eine Beleidigung, eine Erniedrigung, eine Schmach hinnimmt, wie den erblichen Adel, in den sie nicht unter vollständig freien und gleichen Bedingungen eintreten kann!«

»Verdunkeln Sie nicht Ihre eigne Einsicht durch Unterscheidungen, die gar keine Verschiedenheiten sind?«

»Nein, das tue ich nicht. Ich bin mir in dieser Sache ganz klar. Wenn ich ein aristokratisches System dadurch abschaffen könnte, daß ich seine mir angetragenen Ehren ablehnte, dann wäre ich ein Schurke, wenn ich sie annähme. Und wenn eine hinreichende Anzahl aus der Menge sich mir anschlösse, um die Abschaffung zu ermöglichen, dann wäre ich ein Schurke, wenn ich etwas andres täte, als bei diesen Bemühungen mitzuhelfen.«

»Ich glaube Sie jetzt zu verstehen – ja, ich fasse Ihren Gedanken. Sie haben keinen Tadel für die wenigen Glücklichen, die sich naturgemäß weigern, das behagliche Nest zu verlassen, in dem sie geboren wurden; Sie verachten nur die mächtige, aber dumme Mehrheit der Nation, weil sie das Nest fortbestehen läßt.«

»So ist's, so ist's. Sie können also doch eine einfache Sache in Ihren Kopf bringen, wenn Sie lange genug daran arbeiten.«

»Danke!«

»Keine Ursache! Und nun will ich Ihnen noch einen vernünftigen Rat geben: wenn Sie nach Hause zurückkommen und Ihr Volk bereit und willig finden, diese alte Schmach abzuwälzen, dann leihen Sie eine helfende Hand dazu; aber wenn die Dinge noch nicht so weit sind und Sie Aussicht auf eine Grafenkrone haben – seien Sie kein Narr – nehmen Sie sie an.«

Tracy antwortete mit Ernst und Wärme:

»So wahr ich lebe, das will ich tun.«

Barrow lachte.

»Einen solchen Burschen habe ich doch noch nie gesehen. Ich fange an zu glauben, daß Sie ein gutes Teil Einbildungskraft besitzen. Bei Ihnen verdichtet sich das müßigste Phantasiebild im Augenblick zu einer Wirklichkeit. Wahrhaftig, Sie sahen eben aus, als würden Sie sich gar nicht wundern, nächstens in eine Grafschaft hineinzustolpern.«

Tracy errötete.

»Ein Grafentitel, jawohl, nehmen Sie ihn nur, wenn er sich darbietet, aber einstweilen wollen wir uns noch bescheidentlich nach einer Arbeit umsehen, und wenn Ihnen der Zufall eine Stelle als Aufseher beim Wurstfüllen verschafft, so verhandeln sie ruhig den Grafen gegen einen vorjährigen Kalender und halten Sie den Wurstfüller fest.«


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