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Ein unvergleichlich schöner Morgen glänzt über den ländlichen Gefilden Englands. Auf einem mäßigen Hügel erhebt sich ein majestätisches Gebäude, die efeubewachsenen Mauern und Türme von Schloß Cholmondeley, einem großartigen Überbleibsel und Zeugen der herrschaftlichen Gewalt des Mittelalters. Das ist einer der Landsitze des Grafen von Roßmore, Ritter und so weiter, der zweiundzwanzigtausend Acker englischen Bodens besitzt, ein Londoner Kirchspiel mit zweitausend Miethäusern sein eigen nennt und sich mit einem jährlichen Einkommen von 200 000 Pfund, so gut es eben geht, durchschlägt. Der Vater und Begründer dieser stolzen alten Linie war kein Geringerer als Wilhelm der Eroberer; die Mutter derselben ward in der Geschichte nicht namentlich verzeichnet, da ihr Erscheinen nur eine zufällige Episode und ebenso ohne weitere Folgen war wie das der Gerberstochter von Falaise.
In einem Frühstückszimmer des Schlosses waren an diesem schönen frischen Morgen zwei Personen und die erkalteten Überreste eines verlassenen Mahles zu sehen. Eine von diesen Personen ist der alte Lord; groß, aufrecht, mit breiten Schultern, weißem Haar und einer finstern Stirn ist er ein Mann, der in jedem Zug, jeder Stellung und Bewegung Charakter verrät und seine siebzig Jahre so leicht trägt, wie die meisten Männer ihre vierzig. Der andre ist sein Sohn, ein träumerisch blickender junger Mann, dem man ungefähr sechsundzwanzig Jahre geben würde, der aber den Dreißigen näher ist. Es ist nicht schwer herauszufinden, daß Offenheit, Herzensgüte, Redlichkeit, Einfachheit und Bescheidenheit die Hauptzüge seines Charakters sind; daher kommt es, daß er, mit der ganzen Wucht seines Namens bekleidet, einigermaßen an ein in einer Rüstung steckendes Lamm erinnert. Sein Name und Titel lautet: der erlauchte Kirkendbright Llanover Marjoribanks Sellers, Viscount Berkeley von Cholmondeley.
Er steht an einem großen Fenster; in seiner Haltung liegt achtungsvolle Aufmerksamkeit auf das, was sein Vater sagt, aber auch achtungsvoller Widerspruch gegen die von demselben vorgebrachten Behauptungen und Argumente. Der Vater geht redend auf und ab, und sein Ton zeigt, daß die Temperatur seines Gemütes bereits Sommerhitze erreicht hat.
»So sanftmütig du auch bist, Berkeley, so weiß ich doch sehr gut, daß, sobald du den Entschluß gefaßt hast, zu tun, was deine Begriffe von Ehre und Gerechtigkeit von dir fordern, alle Beweise und Vernunftgründe dir gegenüber verschwendet und ebenso wirkungslos auch Spott, Überredung, Bitte und Befehl sind. Meiner Ansicht nach –«
»Vater, wenn du die Sache ohne Vorurteil und Leidenschaft ansehen wolltest, müßtest du zugeben, daß ich durchaus keine übereilte, unüberlegte, eigenwillige Handlung begehen will, die nicht durch Tatsächliches zu rechtfertigen wäre. Ich habe den amerikanischen Prätendenten auf die Grafschaft Roßmore nicht ins Leben gerufen, ich habe weder nach ihm gespürt, noch fand ich ihn oder zwang ihn deiner Beachtung auf. Er fand sich selbst und drängte sich in unser Leben –«
»Und hat mir das meinige seit zehn Jahren zur Hölle gemacht mit seinen langweiligen Briefen, seinen wortreichen Betrachtungen und ackerlangen Beweisen –«
»Die du dich nie herbeiließest zu lesen. Und doch wäre es nicht mehr als billig, daß man ihm Gehör schenkte. Es würde sich dann entweder zeigen, daß er der rechtmäßige Graf Roßmore ist – in welchem Fall das von uns einzuhaltende Verfahren klar zutage läge – oder es stellte sich heraus, daß er keine Ansprüche hat, in welchem Fall unser Weg ebenso klar vor uns liegen würde. Ich habe seine Beweisstücke gelesen, Vater. Ich habe sie aufmerksam geprüft, geduldig und gründlich studiert. Es scheint, daß die Kette vollständig ist, und daß kein wichtiges Glied in derselben fehlt. Ich glaube, er ist der rechtmäßige Herr des Besitzes –«
»Und ich ein Usurpator – ein namenloser Bettler – ein Landstreicher! Bedenke, was du sagst! –«
»Vater, wenn er der rechtmäßige Graf ist, wolltest und könntest du – wenn die Tatsache einmal fest stände – einwilligen, ihm seinen Titel und sein Eigentum einen Tag, eine Stunde, eine Minute lang vorzuenthalten?«
»Du redest Unsinn – Unsinn – hellen Blödsinn. Höre mich an! Ich will ein Geständnis ablegen, wenn du es mit diesem Namen bezeichnen willst. Ich las diese Beweisstücke nicht, weil ich dazu keine Veranlassung hatte. Sie sind mir schon aus der Zeit des Vaters dieses Prätendenten und meines eignen, also seit vierzig Jahren bekannt. Die Vorfahren dieses Menschen haben die meinigen seit fast hundertfünfzig Jahren fortwährend mit ihren Angelegenheiten bekannt gemacht. Die Wahrheit ist, daß der rechtmäßige Erbe nach Amerika auswanderte, mit dem der Familie Fairfax oder ungefähr zu derselben Zeit – in den Wildnissen von Virginia ging seine Spur verloren; er verheiratete sich und züchtete Wilde für den Prätendentenmarkt, schrieb aber nicht nach der Heimat, und wurde schließlich für tot gehalten: sein jüngerer Bruder trat in den Besitz der Erbschaft. Dann starb der Amerikaner wirklich, und augenblicklich machte sein ältester Sprößling seine Ansprüche geltend – in einem noch vorhandenen Brief – starb aber, ehe sein im Besitz befindlicher Oheim Zeit – oder vielleicht Lust – gehabt, zu antworten. Der unmündige Sohn dieses ältesten Sprößlings wuchs heran – es entstand eine lange Pause, wie du siehst – und nun legte er sich auf das Briefeschreiben und Beweiseliefern. Von den Nachkommen hat nun einer nach dem andern dasselbe getan bis auf den gegenwärtigen Narren. Es war eine ganze Reihenfolge von Bettlern, nicht einer von ihnen war je in der Lage, die Kosten der Überfahrt nach England oder eines anzustrengenden Prozesses zu bestreiten. Die Fairfax hielten doch ihre Rechte und Titel aufrecht und haben sie bis auf den heutigen Tag nicht verloren, obgleich sie in Maryland leben; ihr Freund büßte die seinigen durch eigne Nachlässigkeit ein. Du siehst nun wohl ein, daß die in dieser Angelegenheit vorliegenden Tatsachen uns unweigerlich zu folgendem Ergebnis führen: Vom moralischen Gesichtspunkte aus ist der amerikanische Landstreicher der rechtmäßige Graf von Roßmore; nach dem Gesetz aber hat er nicht mehr Recht auf das Erbe als sein Hund. So! Bist du nun befriedigt?«
Es entstand eine Pause, dann blickte der Sohn auf das in die eichene Täfelung geschnitzte Wappen und sagte mit einem wehmütigen Ton seiner weichen Stimme: »Seitdem heraldische Symbole eingeführt sind, ist der Wahlspruch dieses Hauses gewesen: Suum quique – jedem das Seine. Nach deinem eignen, rückhaltlos aufrichtigen Bekenntnis, mein Herr und Vater, ist das Motto ein Sarkasmus geworden. Wenn Simon Lathers –«
»Behalte diesen verwünschten Namen für dich! Seit zehn Jahren verletzt er mein Auge und quält mein Ohr, bis zuletzt meine eignen Schritte sich im Takte des hirnverwirrenden ›Simon Lathers – Simon Lathers‹ bewegen. Und nun bist du, um sein Dasein unvergänglich, unsterblich in meinem Innern zu erhalten, entschlossen zu – – zu – – ja, wozu hast du dich nun eigentlich entschlossen?«
»Ich werde nach Amerika zu Simon Lathers gehen und den Platz mit ihm tauschen.«
»Was? Das Recht auf die Grafschaft in seine Hände geben?«
»Diese ungeheure Verzichtleistung willst du ausüben, ohne nur den abenteuerlichen Fall vom Parlamente prüfen zu lassen?«
»Ja,« antwortete der Sohn, aber nicht ohne ein verlegenes Zögern.
»Bei allem, was wunderbar ist, ich glaube, du bist wahnsinnig. Gewiß hast du wieder mit jenem Esel beratschlagt – oder mit dem Radikalen, wenn du diese Bezeichnung vorziehst, obgleich die Worte gleichbedeutend sind – mit Lord Tanzy von Tollemache?«
Der Sohn antwortete nicht, und der alte Lord fuhr fort:
»Ja, du gestehst es ein. Dieser Laffe, eine Schande für seine Familie und seinen Stand, hält alle Standesprivilegien und den ererbten Rang für eine Usurpierung, den Adel für lügnerischen Flitter, und alle aristokratischen Institutionen für Betrügerei; Rangunterschiede sieht er wie gesetzlich gestattete Verbrechen und Schurkereien an und achtet kein Brot für ehrliches Brot, das ein Mann nicht durch seine eigne Arbeit erwirbt. – Arbeit – bah!« – Der alte Patrizier schüttelte bei diesen Worten eingebildeten Arbeitsstaub von seinen weißen Händen. – »Du bist zu denselben Ansichten gelangt, wie ich vermute?« fügte er mit spöttischem Lächeln hinzu.
»So ist es. Ich sage das ohne Scham, denn ich fühle keine. Und dadurch ist auch mein Entschluß, mein Erbe ohne Widerstreben abzutreten, erklärt. Ich wünsche mich aus einer mir falsch erscheinenden Stellung und Existenz zurückzuziehen und mein Leben von neuem zu beginnen – es im rechten Sinn zu beginnen, auf der Grundlage bloßer Männlichkeit, ohne die Unterstützung eingebildeter Vorzüge; zum Ziel will ich gelangen oder fallen nur durch wirkliches Verdienst oder den Mangel eines solchen. Ich werde nach Amerika gehen, wo alle Menschen gleich sind und alle gleiche Aussichten auf Erfolg haben; ich will leben oder sterben, schwimmen oder sinken, gewinnen oder verlieren, einzig nur als Mann, ohne daß mir der Schein eines unrechtmäßigen Glanzes zu Hilfe kommt.«
»Hört! Hört!« – Die beiden Männer sahen einander einige Sekunden fest in die Augen, dann fügte der ältere nachdenklich hinzu: »Entschieden verrückt, ent–schie–den.«
Nach einem kurzen Schweigen sagte er, wie wenn er das bis dahin hinter Wolken verborgene Sonnenlicht plötzlich hervorbrechen sähe: »Nun, eine Genugtuung wird mir bleiben – Simon Lathers wird hierher kommen, um sein Eigentum zu übernehmen, und ich – werde ihn in die Pferdeschwemme stürzen. Dieser arme Teufel ist in seinen Briefen immer so demütig, so mitleidsbedürftig, so ehrerbietig, so erfüllt von heiliger Scheu für unsre große Abkunft und hohe Stellung, so besorgt, uns zu versöhnen und als Verwandter anerkannt zu werden, der in seinen Adern etwas von unserm berühmten Blute hat; und bei alledem so armselig, so kahl und abgerissen, so verlacht und verachtet von dem liederlichen und gemeinen Volk um ihn her; der kriechende, unerträgliche Landstreicher! Schon einen seiner knechtischen, ekelhaften Briefe zu lesen – – Nun?«
Diese Unterbrechung galt einem stattlichen Diener, dessen Rumpf mit farbigem Plüsch, glänzenden Metallknöpfen und Kniehosen geschmückt war, während sein Kopf ein künstliches, sorgfältig gepudertes Lockengebäude trug. Er stand mit geschlossenen Hacken und vorgebeugtem Oberkörper an der Türe und hielt einen silbernen Teller in der Hand.
»Die Briefe, Mylord.«
Mylord nahm sie, und der Diener verschwand.
»Unter andern auch ein amerikanischer Brief. Von dem Landstreicher natürlich! Doch beim Zeus, da ist eine Veränderung vor sich gegangen! Diesmal ist es kein Briefumschlag von braunem Papier, der, in irgendeinem Laden gestohlen, noch die Firma des Kaufmanns trägt; o nein, ein ganz anständiges Kuvert mit einem auffallend breiten Trauerrand – für seine Katze vermutlich, da er Junggeselle war – und mit rotem Lack geschlossen, mit einem Klumpen von der Grütze einer halben Krone und – wahrhaftig mit unserm Wappen als Siegel! Auch der Wahlspruch fehlt nicht. Die ungeübte, gespreizte Handschrift ist nicht mehr zu sehen; erhält sich wohl einen Sekretär – einen Sekretär, der mit einem kühnen Schwung und Zug schreibt. O wahrhaftig, unsre dortigen Verhältnisse scheinen sich zu verbessern, unser bescheidener Landstreicher hat eine Umwandlung erfahren!«
»Bitte, lies den Brief!«
»Ja, diesmal will ich ihn lesen, der Katze wegen!«
»
Washington, 2. Mai.
14,042 Sechzehnte Straße.
Mylord!
Ich erfülle die schmerzliche Pflicht, Ihnen anzuzeigen, daß das Haupt unsers erhabenen Hauses nicht mehr ist. Der hoch- und edelgeborene erlauchte Simon Lathers, Lord Roßmore, ist aus diesem Leben geschieden (»Endlich dahin – das ist eine unaussprechlich kostbare Nachricht, mein Sohn!«) auf seinem Landsitz in der Umgebung des Weilers Duffys Corner, im großen alten Staate Arkansas – und sein Zwillingsbruder starb mit ihm, beide wurden durch einen Balken erschlagen beim Richten eines Räucherhauses, ein Ereignis, das durch die Sorglosigkeit aller Anwesenden unter der von übermäßigem Genuß des ›Gemischten‹ hervorgerufenen Heiterkeit veranlaßt wurde. (»Gepriesen sei das ›Gemischte‹, welcher Art es auch sei; nicht, Berkeley?«) Dies geschah vor fünf Tagen, und kein Sproß unsers alten Geschlechts war zugegen, um ihm die Augen zuzudrücken und ihn mit den seinem historischen Namen und seinem hohen Rang gebührenden Ehren zu bestatten – tatsächlich liegt er noch auf Eis, er und sein Bruder; Freunde veranstalteten eine Sammlung – aber ich werde anordnen, daß ihre edlen Überreste so bald als möglich Ihnen zu Schiff zugesendet werden (»Gerechter Himmel!«), damit deren Beisetzung in der Familiengruft unsers Hauses und mit den gehörigen Feierlichkeiten stattfinden kann. Unterdessen werde ich an meinem Hause einige Wappenschilder zum Zeichen der Trauer anbringen lassen, und Sie werden gewiß auf Ihren verschiedenen Gütern dasselbe tun.
Ich habe Sie noch darauf aufmerksam zu machen, daß durch dieses betrübende Ereignis ich als einziger Erbe zur Besitzergreifung sämtlicher Titel, Würden, Ländereien und Güter unsrer aufrichtig betrauerten Verwandten berechtigt bin und daß ich, so peinlich mir diese Pflicht auch ist, in Kürze von dem Oberhause die Einsetzung in die Würden und das Eigentum beanspruchen muß, die sich gegenwärtig in Ihrem, des Titularlords, unrechtmäßigen Besitz befinden.
Mit der Versicherung ausgezeichneter Hochachtung und warmer verwandtschaftlicher Ergebenheit verbleibe ich
Ew. Titularlordschaft
gehorsamer Diener
Mulberry Sellers, Graf Roßmore.«
»Ungeheuerlich! – Nun, dieser ist wirklich interessant. Seine Unverschämtheit ist kolossal – ja geradezu erhaben. Findest du nicht, Berkeley?«
»Nein! Er scheint wenigstens nicht kriechen zu wollen.«
»Kriechen? – Er kennt die Bedeutung des Wortes nicht einmal. Trauerschilder! Zur Erinnerung an diesen Landstreicher und seinen brüderlichen Doppelgänger. Und mir will er die irdischen Überreste schicken! Der vorige Prätendent war ein Narr – aber dieser hier ist entschieden ein Wahnsinniger. Und was für einen Namen er führt! Mulberry Sellers – da liegt Musik drin! Simon Lathers – Mulberry Sellers – Mulberry Sellers – Simon Lathers – das klingt wie Maschinengerassel und Sägen. Simon Lathers – Mulberry Sel– Gehst du schon?«
»Wenn du erlaubst, Vater!«
Der alte Edelmann blieb, nachdem sein Sohn ihn verlassen hatte, eine Weile sinnend am Fenster stehen. In Worte gekleidet, würden seine Gedanken gelautet haben: »Er ist ein guter Junge und liebenswert: mag er seinen eignen Weg gehen! Es würde doch nichts nützen, ihm entgegenzutreten, im Gegenteil die Sache vielleicht verschlimmern. Meine Beweisgründe und das Zureden seiner Tante haben nichts ausgerichtet; wir werden nun sehen, was Amerika für uns tut, welchen Einfluß Gleichheit und Brüderlichkeit und harte Zeiten auf die geistige Gesundheit eines überspannten englischen Lords auszuüben vermögen. Seiner Grafschaft entsagen und ein Mann sein! Ja wohl!«