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Ein Urteil französischer Kommunisten über die Lage in Rußland

Wie in allen Ländern der Welt, so lehnen sich auch in Frankreich immer mehr ehrliche Kommunisten gegen den Terror der Stalinistischen Gewaltherrschaft auf. Schon bestehen in Frankreich drei revolutionäre Zeitungen, die von ausgeschlossenen Kommunisten gegründet sind. Aus einer dieser Zeitungen, dem »Contre le Courant«, seien die folgenden Abschnitte eines von der sog. Loriotgruppe ausgehenden Manifestes zur Beleuchtung der augenblicklichen russischen Zustände hier aufgeführt:

»Seit Lenins Tode ist die Partei von Krisis zu Krisis geschritten und schließlich bis zu einer Spaltung gelangt. So stehen die Dinge, wir dürfen uns keiner Täuschung hingeben. Nicht um Maßregeln gegen diesen oder jenen undisziplinierten Genossen oder um einen persönlichen Streit handelt es sich mehr, sondern um den Beschluß, den ganzen linken Flügel der Partei auszuschließen. Was jetzt in Rußland vorgeht, ist ein unversöhnlicher Kampf zwischen dem maskierten Revisionismus der Stalinschen Gruppe und dem durch die Opposition verteidigten Kommunismus. Und in diesem Kampfe dreht es sich um die ganze Zukunft der Oktoberrevolution.

Schon kennt der Kampf der in der Macht befindlichen Gruppe gegen ihre Gegner keinerlei Rücksicht mehr. Der Knüppel, die geheime Diplomatie, der Terror herrschen jetzt in der Partei, und sie erfährt nicht einmal mehr die Wahrheit über die Dinge, die mitten in ihrem Schoße vorgehen. Als einzige geistige Nahrung erhält die Partei ›offizielle‹ Literatur, ›offizielle‹ Leitsätze, ›offizielle‹ Gesichtspunkte. Wer diese unbesehen annimmt, ist ein ›Bolschewist‹, wer auch nur darüber diskutiert, ist ein Menschewist, ein Konterrevolutionär, ein Weißgardist. Und weil man nur zu gut weiß, welche unüberwindliche Macht die Opposition besäße, wenn die Parteimitglieder ihre Meinung sagen dürften, hat man ein Schreckensregiment eingeführt. Arbeiter, die zur Opposition gehören, werden aus ihren Stellungen entfernt, dem Verhungern überlassen, der G.P.U., der politischen Polizei, ausgeliefert. Man verhört sie und wirft sie ins Gefängnis. Zu Hunderten werden die besten Bolschewisten aus der Partei ausgeschlossen. Aufopferungsvolle Kämpfer für die Partei werden verfemt und in die Verbannung geschickt. Die Führer der Opposition sind aus den amtlichen Stellungen entfernt und aus der Partei hinausgejagt worden. Schon ist ihr Leben in Gefahr ...

In einem agrarischen Staate wie der Sowjetunion ist es unvermeidlich, daß die reichen Bauern, die Kulaks, einen Druck auf die Staatsgewalt und auf die einzige, gesetzlich erlaubte Partei, die kommunistische, ausüben. Dieser Druck kann durch eine richtige Agrarpolitik vermindert werden, wenn der Staat, gestützt auf die armen Bauern und im Bündnis mit den mittleren Bauern, einen Kampf gegen die Kulaks beginnt. Wenn aber dagegen der Staat, wie es in Rußland der Fall ist, die schnell anwachsende Klassendifferenzierung verschleiert, wenn er sich mit ›den Bauern‹ im allgemeinen zu verbünden sucht und seine engere Verbindung mit den armen Bauern verliert, dann verliert er auch immer mehr das Vertrauen des mittleren Bauern, der dann seinerseits ganz dem Klasseneinfluß des Kulaks verfällt.

So üben die wohlhabenden und reichen Bauern einen immerzu anwachsenden Einfluß auf die Staatsgewalt aus und sie drücken mit all ihrem Gewicht auf die Partei. Sie suchen die vorteilhaften Stellen in ihre Hände zu bekommen und können sich dadurch die reichen Gewinnmöglichkeiten, die ihnen das jetzige Wirtschaftssystem bietet, sichern. Natürlich arbeiten diese Bauernschichten in erster Linie darauf hin, die linksstehenden Elemente aus der Partei zu entfernen, alle diejenigen, die gegen ein Paktieren mit den Kulaks sind und eine proletarische Politik verteidigen. In diesem Bestreben werden die reichen Bauern durch die ungeheure Armee der Sowjetbureaukratie unterstützt, die ebenfalls gewaltige Interessen zu verteidigen hat.

Die reichen und wohlhabenden Schichten der Bauern, das Kleinbürgertum und die Bureaukratie bilden die sozialen Kräfte, die mit Hilfe der Parteileitung einen erbarmungslosen Krieg gegen die Opposition begonnen haben.

Daher ist es für uns und für jeden Arbeiter, der sich über die Grundelemente des Konflikts ein richtiges Bild machen will, eine ganz nebensächliche Frage, ob die Opposition nun ›zu hundert Prozent recht hat‹. Es handelt sich vielmehr um das Erkennen der Tatsache, daß in diesem Augenblicke die Opposition für das Recht der Kommunisten eintritt, in ihrer eigenen Partei ihre Meinung zu äußern, für das Recht der Arbeiterklasse, ihre politischen Ziele in ihrer eigenen Klassenpartei selbst zu bestimmen. Es handelt sich darum, einzusehen, daß die Eroberungen der Oktoberrevolution bedroht sind, daß man die Opposition deswegen unterdrückt, weil sie diese Eroberungen verteidigt, weil sie auf die Verschiebung des politischen Schwergewichts hinweist, das jetzt nicht mehr auf dem Proletariat und den armen Bauern beruht, sondern auf dem Kleinbürgertum, den Ingenieuren, Bureaukraten und Kulaks.

Mit diesem Kampfe der russischen Opposition erklären wir uns ohne jeden Rückhalt einig ... Es gibt nur eine Möglichkeit, siegreich und auf normale Weise dem Drucke der nichtproletarischen Kräfte in der Sowjetunion zu widerstehen, nämlich ein freies Spiel der Klassenkräfte in der Partei.

Eine kommunistische Partei, in der ein allmächtiges Beamtentum seine Diktatur über die Parteimitglieder ausübt, ist von selbst schon eine solche, in der das Proletariat bereits eine schwere Niederlage erlitten hat, eine Niederlage, die unfehlbar weitere Niederlagen erwarten läßt ... Eine bureaukratische Parteiherrschaft ist nur ein Vorspiel zu einer opportunistischen Politik, selbst wenn die Männer, die sich an die Stelle der Arbeitermitglieder gesetzt haben, noch so wertvoll sind. Die Politik solcher Männer mag eine gewisse Zeitlang mit den proletarischen Interessen zusammenfallen, aber sie wird unvermeidlich, da sie ja aufgehört hat, eine Politik der Arbeiterklasse zu sein, einen schwankenden Kurs einnehmen und sich unter dem Drucke der verschiedenen sozialen Kräfte nach dem Opportunismus hin entwickeln ...

Mit einem Worte, die herrschende Gruppe im ersten proletarischen Staate betreibt eine Politik, die in der Theorie und im Handeln unaufhörlich nach rechts abgleitet. Und um diese Politik zu verheimlichen, schlägt sie immerfort nach links und benutzt dabei alle Mittel, die ihr die Staatsgewalt geben kann – Presse, Politik, Terror.

Was soll nun in einer solchen Lage geschehen? Wie kann man wirkungsvoll gegen diese unmittelbare Gefahr ankämpfen?

Wir müssen zunächst einmal das Proletariat in den Besitz der Tatsachen stellen und ihm dadurch erst ermöglichen, gegen die ungeheure Abweichung nach rechts anzukämpfen (gegen eine um so gefährlichere Abweichung, weil sie sich unter der Marke des Leninismus verbirgt), in der die kommunistische Bewegung in der Gefahr des Zugrundegehens ist ... Wir schlagen daher vor, die von den Parteibeamten vor der Arbeiterklasse verheimlichten Dokumente zu veröffentlichen, die großen Probleme des proletarischen Kampfes zu studieren, Tatsachen zu enthüllen und den kommunistischen Standpunkt den in den offiziellen Organen vertretenen opportunistischen oder demagogischen Gesichtspunkten entgegenzustellen. Wir schlagen mit einem Worte vor, ein Zentrum proletarischer Erneuerung zu schaffen. Dieses sind die einzigen Mittel zum Kampfe für die Partei und die Internationale. Wir werden uns über keines der Hindernisse, die wir auf unserem Wege finden, hinwegzutäuschen suchen. Wir kennen jetzt schon alle Beschuldigungen, die man uns entgegenschleudern wird. Vor allem wird man uns Parteispaltung vorwerfen. Aber welchen Wert kann eine solche Anklage in den Augen eines Arbeiters haben, der nachdenkt? Er wird verstehen, daß die wirklichen Parteispalter die Leiter der Partei sind, die die Parteipresse zum Besten ihrer Gruppe mit Beschlag belegen, die die Partei verachten, betrügen und verwirren, die jede Stimme, die von unten kommt, ersticken und die Politik der arbeitenden Klasse durch eine Politik ihrer persönlichen Interessen ersetzen ...

Man wird auch nicht verfehlen, von uns zu sagen, wir gingen Hand in Hand mit der Bourgeoisie und handelten in deren Interesse, indem wir die inneren Parteikonflikte an die Öffentlichkeit brächten. Aber wer hat denn eigentlich ganz bewußt diesen Konflikt aus dem Innern der Partei auf den öffentlichen Markt gebracht? War es nicht die Prawda, das offizielle Blatt der Sowjetunion, die schon vor vier Jahren öffentlich erklärte, die Partei hegte an ihrem Busen Menschewisten, Verbündete der Bourgeoisie, Spießgesellen Chamberlains, Schmarotzer, Renegaten?

Übrigens ist die Aufdeckung einer opportunistischen Politik niemals von Nutzen für die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie mag sich im Augenblicke darüber freuen, sie freut sich über alles, was nach Zwistigkeiten in unseren Reihen aussieht, aber der Nutzen, den die Partei von einem Einspruch hat, der unseren Klassencharakter stärken will, ist unendlich größer als die Ungelegenheit, die eine Aufdeckung der Parteifehler mit sich bringt.

Die Schwierigkeiten des Kampfes, die tragische Natur der Ereignisse, sie erinnern an einen nicht weniger düsteren und gefährlichen Wendepunkt in der Geschichte der Arbeiterklasse – an den Krieg. Die Ähnlichkeit ist seltsam. Heute wie vor dreizehn Jahren verwirren und betrügen Führer, die unwürdig der ihnen anvertrauten Aufgabe sind, die Massen. Heute wie damals sehen wir Verwirrung, Lüge, Fanatismus. Und auch heute wieder eine Handvoll von Männern im Kampfe gegen alle Verleumdungen und alle Angriffe, aber entschlossen, der Gefahr entgegenzutreten.

Gegen den Strom! So, wie die Bolschewisten im Jahre 1914 standen! Gegen den Strom! Mit derselben Kraft wie im Jahre 1914! Wie man die Zimmerwalder als ›Boches‹ denunziert hat, so wird man uns als Konterrevolutionäre denunzieren ... Was liegt daran? Wir werden auf den Augenblick warten, da die Massen wieder zu sich kommen. Dieser Augenblick wird unfehlbar eintreten.«


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