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Nach Lenins Erkrankung

Die Fälschungen und Erfindungen über die letzte Lebenszeit Lenins sind besonders zahlreich. Man könnte aber Stalin nur raten, besonders vorsichtig über jene Zeit zu sein, in der Wladimir Iljitsch zu gewissen endgültigen Schlüssen über Stalin kam.

Es ist natürlich schwierig, die innere Geschichte des politischen Bureaus während Lenins aktiven Lebens zu schildern. Es gab keine stenographischen Berichte und nur die Beschlüsse wurden aufgeschrieben. Deshalb ist es auch so leicht, einzelne ganz unwesentliche Episoden herauszunehmen, sie zu verdrehen und aufzublasen oder auch einfach »Meinungsverschiedenheiten« zu erfinden, wo auch nicht die Spur einer solchen vorhanden war.

Wirklich lächerlich in ihrer Dummheit ist die Legende vom »Kuckuck«, durch die man nachträglich meinen angeblichen Pessimismus beweisen will. Der »Kuckuck« ist die letzte Ausflucht Stalins und Bucharins, wenn sie durch Vernunftsgründe oder Tatsachen an die Wand getrieben werden. Der »Kuckuck« ist aus einer Unterredung zwischen mir und Lenin entnommen, aus der ersten Zeit der Nep, der Gestattung des Privateigentums im Wirtschaftsleben. Der Verzicht auf gewisse staatliche Hilfsquellen erweckte in mir eine starke Besorgnis sowohl wegen der Schwächung unserer Staatsgewalt als auch wegen einer schnellen Ansammlung von Privatkapital in jenen kritischen Tagen. Ich sprach darüber mehr als einmal mit Wladimir Iljitsch. Um die industrielle Entwicklung in einen Fortschritt für das Land umzuwandeln, organisierte ich damals den Allgemeinen Moskauer Trust. In einer meiner Unterredungen mit Lenin nun wies ich auf einige auffällige Beispiele von sinnlosem Verkaufen hin und sagte etwa folgendes: »Wenn wir so weiter machen, wird der Kuckuck bald unser Todeslied singen.« Dies oder etwas Ähnliches sagte ich, wie wir alle damals solche Redewendungen gebrauchten. Wie oft hat nicht Lenin gesagt: »Wenn es auf diese Weise weiter geht, ist es mit uns endgültig vorbei.« So etwas war ein scharfer Ausdruck, aber durchaus keine pessimistische Voraussage.

Dies ist also so ungefähr die interessante Geschichte des »Kuckucks«, mit der Stalin und Bucharin die Aufmerksamkeit von ihren Fehlern in der chinesischen Revolution, im anglo-russischen Ausschuß, in der Wirtschaftsführung und in der Parteileitung abzulenken suchen.

Sicherlich sind im politischen Bureau oft genug Meinungsverschiedenheiten praktischer Art entstanden und darunter auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Wladimir Iljitsch und mir. Die Frage ist nur, welche Stellung nahmen diese Meinungsverschiedenheiten in der allgemeinen Arbeit ein? Darüber verbreitet nun die Stalingruppe mit einem außerordentlichen Mangel an Vorsicht verächtliche Legenden, die bei der ersten Berührung mit wirklichen Tatsachen einfach zerplatzen und sich letzten Endes durchaus gegen Stalin wenden.

Um diese Legenden zurückzuweisen, ist es notwendig, zunächst einmal die Periode von Lenins Erkrankung vorzunehmen – es war, genauer gesagt, die Periode zwischen zwei heftigen Anfällen seines Leidens –, als ihm die Ärzte erlaubten, an der Arbeit teilzunehmen und als viele wichtige Fragen durch Korrespondenz erledigt wurden. Aus dieser Korrespondenz – also aus ganz unzweifelhaften Dokumenten – kann man ersehen, über welche Fragen im Zentralausschuß gestritten wurde, zwischen welchen Mitgliedern Meinungsverschiedenheiten herrschten, und zum Teil auch, welche Haltung Wladimir Iljitsch einzelnen Genossen gegenüber einnahm. Ich will ein paar Beispiele anführen.


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