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Einige Schlußfolgerungen

Alles bisher angeführte ist nur ein kleiner Teil der Tatsachen, Zeugnisse und Zitate, die ich zur Widerlegung des von Stalin, Jaroslawski und Genossen in den letzten zehn Jahren gefälschten Geschichtsbildes hinzufügen könnte.

Dabei muß ich noch bemerken, daß die Verfälschung sich nicht auf diese zehn Jahre beschränkt, sondern sich über die ganze vorhergehende Parteigeschichte ausbreitet und sie in einen ununterbrochenen Kampf des Bolschewismus gegen den Trotzkismus verwandelt. Die Fälscher fühlen sich in jener Epoche besonders frei, denn die Ereignisse liegen schon so weit zurück, daß sie sich nach Belieben passende Dokumente zusammensuchen können. Die Ansichten Lenins werden dabei durch einseitige Auswahl der Zitate in ihr Gegenteil verwandelt. Ich will mich aber jetzt nicht mit der früheren Periode meiner revolutionären Tätigkeit, mit den Jahren 1897 bis 1917 befassen, da die Veranlassung zu meiner jetzigen Verteidigungsschrift die Befragung nach meiner Teilnahme an der Oktoberrevolution und nach meinen Beziehungen zu Lenin sind.

Über die zwanzig Jahre, die der Oktoberrevolution vorausgingen, werde ich mich auf ein paar Zeilen beschränken.

Ich gehörte zu jener »Minorität« (menschinstwo) des ersten Kongresses im Jahre 1901, aus der sich später der Menschewismus entwickelte. Ich blieb politisch und durch Organisation mit dieser Minorität bis zum Herbst 1904 verbunden – ungefähr also bis zur sog. »Landkampagne« von New Iskra, als ich mit dem Menschewismus über die Fragen des bürgerlichen Liberalismus und die Aussichten der Revolution in einen unlöslichen Konflikt geriet. Im Jahre 1904, also vor dreiundzwanzig Jahren, habe ich politisch und organisatorisch mit dem Menschewismus gebrochen. Ich habe mich nie einen Menschewisten genannt oder als einen solchen betrachtet.

 

Auf dem Plenum des Zentralausschusses der Komintern gab ich am 9. Dezember 1926 in bezug auf die Frage des »Trotzkismus« folgende Erklärung ab:

»Allgemein gesprochen, glaube ich nicht, daß man durch biographische Nachforschungen grundsätzliche Fragen entscheiden kann. Es ist zweifellos, daß ich in manchen Fragen Irrtümer begangen habe, besonders während meines Kampfes gegen den Bolschewismus. Aber daraus folgt doch noch nicht, daß man politische Fragen nicht nach ihrem inneren Wert, sondern auf der Grundlage meiner Lebensgeschichte beurteilen darf. Sonst müßte man ja verlangen, daß die Biographien aller Delegierten hier öffentlich bekannt gemacht werden.

Ich persönlich möchte dabei auf einen wichtigen Präzedenzfall hinweisen. In Deutschland lebte und lehrte ein Mann mit Namen Franz Mehring, der nur nach einem langen und energischen Kampf gegen die Sozialdemokratie (bis vor kurzem haben wir uns alle Sozialdemokraten genannt) und erst, als er zu hohen Jahren gekommen war, sich der sozialdemokratischen Partei anschloß. Mehring schrieb die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zuerst als ihr Feind, ihr entschiedener Widersacher, als ein Lakai des Kapitalismus – und später schrieb er sie um in jenes gefeierte Werk über die deutsche Sozialdemokratie als ihr treuer Freund. Auf der andern Seite haben Kautsky und Bernstein niemals offen gegen Marx gekämpft und standen beide lange unter dem Einfluß Friedrich Engels. Bernstein ist sogar berühmt als Herausgeber der Gesamtwerke von Engels. Trotzdem starb Franz Mehring als Marxist und Kommunist, während die beiden andern, Kautsky und Bernstein, noch heute als reaktionäre Reformer leben. Das biographische Moment ist natürlich wichtig, aber in sich beweist es nichts.

Wie ich schon oftmals erklärt habe, war bei meinen Meinungsverschiedenheiten mit dem Bolschewismus über eine Reihe von wichtigen Fragen der Irrtum auf meiner Seite. Um annähernd und in wenigen Worten die Natur und die Ausdehnung meiner früheren Meinungsverschiedenheiten mit dem Bolschewismus zu schildern, möchte ich folgendes sagen:

Während der Zeit, als ich ausseits der bolschewistischen Partei stand, während der Periode, als meine Zwistigkeiten mit dem Bolschewismus ihren höchsten Punkt erreicht hatten, war die Entfernung, die mich von den Ansichten Lenins trennte, niemals so groß wie die Entfernung, die heute zwischen der Haltung Stalins und Bucharins und den wirklichen Grundlagen des Marxismus und Leninismus besteht.

Jede neue Stufe in der Entwicklung der Partei und der Revolution, jedes neue Buch, jede neue Modetheorie hat Bucharin zu einer neuen Schwankung und zu einer neuen Dummheit veranlaßt. Seine ganze wissenschaftliche und politische Biographie ist eine Kette von Irrtümern, die äußerlich im Rahmen des Bolschewismus begangen wurden. Die Irrtümer Bucharins haben seit Lenins Tod in ihrer Zahl und besonders in ihren politischen Konsequenzen bei weitem alle seine früheren Irrtümer übertroffen. Dieser Scholastiker, der den Marxismus aller konkreten Wirklichkeit beraubt und ihn, oft in einfachen Wortklügeleien, zu einem Kinderspiel mit Ideen macht, hat sich natürlich als ein höchst geeigneter »Theoretiker« in dieser Zeit erwiesen, da die Parteiführerschaft vom proletarischen zum kleinbürgerlichen Geleise hinübergleitet. Ohne spitzfindige Wortspielereien ist das natürlich nicht möglich. Man versteht, warum Bucharin jetzt diese »theoretische« Rolle spielt.

In allen Fragen – es sind nur ganz wenige –, in denen Stalin versucht hat, eine selbständige Haltung einzunehmen, oder auch nur ohne direkte Leitung Lenins wichtige Fragen selbst beantwortet hat, hat er sich immer und unveränderlich – sozusagen aus seiner Natur heraus – auf einen opportunistischen Standpunkt gestellt.

Den Kampf Lenins gegen Menschewismus und Versöhnungspolitik denunzierte er aus dem Exil heraus als eines Emigranten »Sturm in einem Wasserglas«.

Andere politische Dokumente über Stalins Gedankenart existieren, so viel ich weiß, überhaupt nicht, ausgenommen ein vielleicht korrekter, aber schuljungenartiger Artikel über die nationale Frage.

Die selbständige Haltung Stalins (vor der Ankunft Lenins) im Beginn der Februarrevolution war durch und durch opportunistisch.

Die selbständige Haltung Stalins gegenüber der deutschen Revolution von 1923 war durchaus passiv und zu Kompromissen geneigt.

Die selbständige Haltung Stalins gegenüber den Problemen der chinesischen Revolution ist weiter nichts als eine billige Neuausgabe von Martinows Menschewismus aus den Jahren 1903 bis 1905.

Die selbständige Haltung Stalins gegenüber den Problemen der englischen Arbeiterbewegung ist eine zentristische Kapitulation vor dem Menschewismus.

Man kann mit Zitaten jonglieren, die Berichte seiner eigenen Reden unterschlagen, die Verbreitung der Briefe und Aufsätze Lenins verbieten, ganze Meter fälschlich zusammengestellter Zitate fabrizieren. Man kann historische Dokumente unterdrücken, verhehlen und verbrennen. Man kann die Zensur sogar auf die photographischen und filmischen Wiedergaben revolutionärer Ereignisse ausdehnen. Alles dieses tut ja Stalin. Aber die Ergebnisse werden seine Hoffnungen nicht erfüllen. Nur ein beschränkter Geist wie der Stalins konnte sich einbilden, daß man über solchen kläglichen Verheimlichungsmanövern die gewaltigen Ereignisse der modernen Geschichte vergessen würde.

Im Jahre 1918 fand Stalin, der damals noch in den ersten Anfängen seines Feldzuges gegen mich war, es notwendig, wie wir alle wissen, die folgenden Worte zu schreiben:

»Das ganze vorbereitende Werk des Aufstandes wurde unter der unmittelbaren Leitung des Präsidenten der Petersburger Sowjets, des Genossen Trotzki, durchgeführt. Wir können mit Gewißheit sagen, daß die Partei den schnellen Übergang der Garnison auf die Seite der Sowjets und die kühne Durchführung der Arbeit des revolutionären Soldatenausschusses in der Hauptsache und vor allem andern dem Genossen Trotzki verdankt.«

In voller Verantwortung für meine Worte bin ich nun gezwungen zu sagen, daß die Partei die grausame Niedermetzlung des chinesischen Proletariats und der chinesischen Revolution, die Stärkung der Gewerkschaftsagenten des englischen Imperialismus nach dem Generalstreik von 1926 und die allgemeine Schwächung der Stellung der kommunistischen Internationalen und der Sowjetunion, in der Hauptsache und vor allem dem Genossen Stalin verdankt.

Am 21. Oktober 1927.
L. Trotzki.


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