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Die Letzten Wort Adolf Joffes

Der Personenwechsel und der ganze politische Umschwung, die seit Lenins Tod in der bolschewistischen Regierung eingetreten sind, haben ihren tragischen Ausdruck in Joffes Selbstmord gefunden. Joffe war einer der stärksten und fähigsten Männer, die Lenin in den Tagen der Revolution umgaben. Wie Rakowski hatte er Medizin studiert. Er war ein ernster, entschlossener und mutiger Charakter, der sein ganzes Leben der kommunistischen Bewegung widmete. Er nahm an der Revolution von 1905 tätigen Anteil und erlitt nicht nur Gefängnisstrafen, sondern wurde auch zu schweren Zwangsarbeiten in Sibirien verurteilt. In der Oktoberrevolution und den darauf folgenden Kampftagen spielte Joffe eine bedeutende Rolle. Er befand sich unter den Führern des revolutionären Soldatenausschusses und soll in Petersburg den Übergang der Macht schon vor dem wirklichen Aufstand erreicht haben. Von Lenin wurde er dann für die beiden ersten und damals äußerst wichtigen diplomatischen Posten ausgewählt, die von Bolschewisten eingenommen wurden – für den Vorsitz der Brest-Litowsker Abordnung und für die Gesandtschaft in Berlin. Er war einer der Delegierten auf der Genua-Konferenz und dann russischer Gesandter in Japan. Am 16. November 1927 setzte sich Joffe eine Pistole an die Schläfe und erschoß sich. Er hinterließ, neben sich auf dem Tisch liegend, einen Brief an Trotzki, in dem er seine Tat erklärte. Hier dieser Brief:

 

»An Leo Trotzki.

Lieber Leo Davidowitsch:

Mein ganzes Leben lang bin ich der Ansicht gewesen, daß ein Politiker es verstehen müßte, zur rechten Zeit seiner Wege zu gehen, so wie ein Schauspieler die Bühne verläßt, und daß es besser ist, zu früh, als zu spät zu gehen.

Vor mehr als dreißig Jahren nahm ich die Philosophie in mir auf, daß das menschliche Leben nur so lange und in dem Grade Bedeutung habe, als es im Dienst von etwas Unendlichem stehe. Für uns ist die Menschheit etwas Unendliches. Der Rest ist endlich, und zu arbeiten für diesen Rest, ist daher ohne Bedeutung. Selbst wenn die Menschheit noch eine Bedeutung über sich selbst hinaus haben muß, so wird doch diese Bedeutung erst in einer so fernen Zukunft klar werden, daß für uns die Menschheit als etwas völlig Unendliches betrachtet werden kann. Hierin und einzig hierin habe ich immer den Sinn des Lebens gesehen. Und wenn ich jetzt auf meine Vergangenheit zurückblicke, von der ich siebenundzwanzig Jahre in den Reihen unserer Partei verbracht habe, so glaube ich mit Recht sagen zu können, daß ich mein ganzes bewußtes Leben hindurch dieser Philosophie treu geblieben bin. Ich habe immer nach dem Wahlspruche gelebt: Arbeite und kämpfe zum Besten der Menschheit. Darum glaube ich auch mit Recht sagen zu dürfen, daß kein Tag meines Lebens ohne Sinn gewesen ist.

Aber jetzt scheint es mir, als ob die Zeit kommt, da mein Leben seinen Sinn verliert, und daher fühle ich mich verpflichtet, es zu verlassen, es zu einem Ende zu bringen.

Seit mehreren Jahren haben die jetzigen Häupter unserer Partei, getreu ihrer allgemeinen Politik, den Kommunisten der Opposition keine Arbeit zu geben, mir weder in der Politik, noch im Sowjetwerk eine Tätigkeit erlaubt, deren Zweck und Charakter dem Höchstmaß meiner Fähigkeiten entsprach. Während des letzten Jahres hat ja, wie Sie wissen, das politische Bureau mich als Oppositionsanhänger an jeder politischen Arbeit gehindert.

Meine Gesundheit hat sich andauernd verschlechtert. Um den zwanzigsten September herum forderte mich aus mir unbekannten Gründen die Ärztekommission des Zentralausschusses auf, mich durch Spezialärzte untersuchen zu lassen. Diese teilten mir dann kategorisch mit, mein Gesundheitszustand sei viel schlechter, als ich angenommen hätte, und ich dürfte keinen Tag mehr länger zwecklos in Moskau, noch eine weitere Stunde ohne Behandlung bleiben, sondern müßte sofort ins Ausland reisen und ein geeignetes Sanatorium aufsuchen.

Auf meine direkte Frage: ›Welche Chancen habe ich, im Ausland gesund zu werden, und kann ich mich nicht in Rußland behandeln lassen, ohne meine Arbeit aufzugeben?‹ antworteten mir die Ärzte und Assistenten, der praktische Arzt des Zentralausschusses, Genosse Abrossow, ein anderer kommunistischer Arzt und der Leiter des Kremlkrankenhauses einstimmig, russische Sanatorien könnten mir durchaus nicht helfen, ich müßte mich einer Behandlung im Westen unterziehen. Sie fügten noch hinzu, daß ich, wenn ich ihrem Rate folgte, zweifellos noch für eine lange Zeit arbeitsfähig sein würde.

Zwei Monate hindurch unternahm dann die Ärztekommission des Zentralausschusses, trotzdem sie mich doch aus eigener Initiative zu der Untersuchung befohlen hatte, keine Schritte, weder für meine Überführung ins Ausland, noch für meine Behandlung im Inland. Im Gegenteil wurde der Kremlapotheke, die mir bisher immer die mir vorgeschriebenen Heilmittel geliefert hatte, verboten, es zu tun. Ich war so tatsächlich der freien Medizin beraubt, die ich bisher noch immer erhalten hatte. Dies geschah, scheint es, zu der Zeit, als die in Macht befindliche Gruppe anfing, gegen die Genossen von der Opposition ihre Losung anzuwenden: ›Schlagt die Opposition zu Boden!‹

Solange ich noch wohl genug war, um zu arbeiten, machte ich mir wenig aus alledem, aber als es mir immer schlechter ging, wandte sich meine Frau an die Ärztekommission des Zentralausschusses und persönlich an Dr. Semaschko, der vor der Öffentlichkeit immer bis zum äußersten gegangen ist, um seine Losung durchzusetzen: ›Rettet die alte Garde!‹ Die Angelegenheit wurde trotzdem fortwährend hinausgeschoben, und meine Frau war nur imstande, einen Auszug aus der Entscheidung des Ärztekollegiums zu bekommen. In diesem Auszug zählte das Kollegium meine chronischen Krankheiten auf und erklärte, ich müßte auf etwa ein Jahr ›in ein Sanatorium von der Art des Professors Friedländer‹ gehen.

Mittlerweile habe ich mich vor neun Tagen endgültig zu Bett legen müssen, weil meine chronischen Leiden unter solchen Umständen sich natürlich stark verschlimmerten, und vor allem das schrecklichste, meine eingewurzelte Polyneuritis, die wieder akut wurde, mir fast unerträgliche Schmerzen bereitete und mich sogar am Gehen hinderte. Neun Tage bin ich nunmehr ohne jede Behandlung geblieben, und die Frage meiner Reise ins Ausland wurde nicht wieder aufgenommen. Nicht einer der Ärzte des Zentralausschusses hat mich besucht. Professor Davidenko und Dr. Levine, die an mein Bett gerufen wurden, verschrieben ein paar Kleinigkeiten, die offensichtlich nicht helfen konnten, und gaben dann zu, ›es könne nichts geschehen‹, und eine Reise ins Ausland sei dringend notwendig. Dr. Levine erzählte meiner Frau die Angelegenheit zöge sich deswegen hinaus, weil die Ärztekommission offenbar annehme, meine Frau wolle mitgehn, ›was die Geschichte zu teuer mache‹. Meine Frau antwortete, sie bestände trotz des schlimmen Zustandes, in dem ich mich befände, bestimmt nicht darauf, daß sie oder sonst jemand mich begleite, worauf Dr. Levine uns versicherte, daß unter diesen Umständen die Angelegenheit bald geregelt sein werde. Auch heute wiederholte Dr. Levine mir, die Ärzte könnten durchaus nichts tun, die einzige Hilfe läge in einer sofortigen Abreise ins Ausland. Dann teilte gegen Abend der Arzt des Zentralausschusses, Genosse Potiomkin, meiner Frau mit, die Ärztekommission des Zentralausschusses habe sich entschlossen, mich nicht ins Ausland zu schicken, sondern mich in Rußland zu behandeln. Der Grund läge darin, daß die Spezialärzte auf einer längeren Behandlung im Ausland beständen und eine kurze für zwecklos hielten, daß aber der Zentralausschuß für meine Kur höchstens tausend Dollar bewilligen könnte und es für unmöglich halte, mehr zu bewilligen.

Als ich vor einiger Zeit im Ausland war, erhielt ich ein Angebot von zwanzigtausend Dollar für eine Ausgabe meiner Memoiren, aber da diese doch durch die Zensur des politischen Bureaus gehen mußten, und ich weiß, wie man in unserm Lande die Geschichte der Partei und der Revolution fälscht, so wollte ich zu einer solchen Verfälschung nicht noch meine Hand leihen. Die ganze Zensurarbeit des politischen Bureaus hätte ja darin bestanden, mir eine wahrheitsgetreue Schilderung der einzelnen Persönlichkeiten und ihrer Taten zu verbieten – und zwar sowohl der wirklichen Führer der Revolution, wie auch derjenigen, die sich jetzt mit dieser Würde bekleiden. Infolgedessen habe ich heute keine Möglichkeit, mich behandeln zu lassen, ohne mir Geld vom Zentralausschuß geben zu lassen, und dieser glaubt bei all meiner siebenundzwanzigjährigen revolutionären Arbeit mein Leben und meine Gesundheit auf eine Summe von nicht über tausend Dollar bewerten zu können.

Das ist der Grund, warum ich sage, es sei jetzt Zeit, mein Leben zu einem Ende zu bringen. Ich weiß, daß die allgemeine Meinung der Partei den Selbstmord nicht billigt, aber ich glaube doch, daß keiner von denen, die meine Lage verstehen, mich deshalb verurteilen wird. Wäre ich gesund genug, so würde ich auch die Kraft und Energie finden, gegen die in der Partei entstandene Lage anzukämpfen. Aber in meinem gegenwärtigen Zustand kann ich es nicht ertragen, daß die Partei stillschweigend Ihre Ausschließung aus ihren Reihen duldet, obgleich ich fest davon überzeugt bin, daß früher oder später eine Krisis kommen wird, die die Partei zwingt, die Schänder ihrer Ehre davonzujagen. In diesem Sinne ist mein Tod ein Protest gegen diejenigen, die die Partei soweit gebracht haben, daß sie sich nicht einmal mehr gegen eine solche Schmach wehren kann.

Wenn ich etwas Großes und etwas Kleines miteinander vergleichen darf, das heißt, ein so unendlich wichtiges, historisches Ereignis wie Ihre und Sinowjews Ausschließung, eine Ausschließung, die unvermeidlich zu einer Selbstzerstörung der Revolution führen muß, mit der Tatsache, daß ich nach siebenundzwanzig Jahren revolutionärer Tätigkeit auf verantwortlichen Posten in der Partei jetzt in eine Lage gekommen bin, wo mir nichts übrig bleibt, als mir eine Kugel durch den Kopf zu schießen – so illustrieren diese beiden Tatsachen ein und dasselbe Ding, nämlich die gegenwärtige Führung unserer Partei. Und vielleicht werden diese beiden Ereignisse, das kleine und das große zusammen, die Partei aufrütteln und sie auf ihrem Wege in den Abgrund aufhalten.

Lieber Leo Davidowitsch, wir sind durch zehn Jahre gemeinsamer Arbeit und, wie ich hoffe, persönlicher Freundschaft verbunden, und das gibt mir das Recht, Ihnen im Augenblicke des Abschieds sagen zu dürfen, was mir als eine Schwäche an Ihnen erscheint.

Ich habe nie daran gezweifelt, daß der von Ihnen vorgezeichnete Weg der richtige ist, und ich bin, wie Sie wissen, seit mehr als zwanzig Jahren, seit dem Beginn der ›ewigen Revolution‹, auf Ihrer Seite gewesen. Aber ich war auch immer der Ansicht, daß es Ihnen an einem fehle, an der Unbeugsamkeit, der Unnachgiebigkeit Lenins, an seinem Entschluß, im Notfalle allein bei seinem begonnenen Werk zu bleiben und nicht von dem eingeschlagenen Wege zu weichen, weil er sicher war einer zukünftigen Mehrheit, einer zukünftigen Anerkennung der Richtigkeit seines Weges. Sie haben von 1905 an politisch immer Recht gehabt, und auch Lenin gab zu – ich erzählte Ihnen ja oft, daß ich es mit eigenen Ohren von ihm hörte –, im Jahre 1905 seien Sie, und nicht er im Recht gewesen. Im Angesicht des Todes lügt man nicht, und ich wiederhole es Ihnen heute.

Aber Sie sind oft von dem richtigen Standpunkt zugunsten einer Einigung, eines Kompromisses, deren Wert Sie überschätzten, abgewichen. Das war falsch. Ich wiederhole: Politisch haben Sie immer recht gehabt, und jetzt sind Sie mehr als jemals im Recht. Eines Tages wird die Partei das verstehen, und die Geschichte wird gezwungen sein, das anzuerkennen.

Fürchten Sie sich auch nicht, wenn verschiedene Sie verlassen und besonders, wenn die vielen nicht so schnell kommen, als wir alle es wünschen. Sie sind im Recht, aber die Gewißheit eines Sieges Ihrer Wahrheit liegt einzig in einer festen und strengen Unnachgiebigkeit, in einer Zurückweisung jedes Kompromisses, wie dies ja stets das Geheimnis der Siege Wladimir Iljitschs gewesen ist.

Ich habe Ihnen dieses schon oft erklären wollen und mich erst jetzt dazu gebracht in dem Augenblick, da ich Ihnen Lebewohl sage.

Ich wünsche Ihnen Kraft und Mut, wie Sie sie immer gezeigt haben, und einen schnellen Sieg. Ich umarme Sie. Leben Sie wohl.

Ihr
A. Joffe.

P.S. Ich schrieb diesen Brief in der Nacht vom fünfzehnten zum sechzehnten, und heute, am sechzehnten, ging Marie Michailowna zur Ärztekommission, um auf meine Entsendung ins Ausland, wenn auch nur für einen oder zwei Monate, zu dringen. Man antwortete ihr, daß nach der Ansicht der Spezialärzte ein kurzer Aufenthalt im Ausland vollständig nutzlos sei. Man teilte ihr auch mit, daß die Ärztekommission beschlossen hätte, mich sofort ins Kremlkrankenhaus zu überführen. So verweigern sie mir sogar eine kurze Reise ins Ausland zur Hebung meiner Gesundheit, obgleich alle Ärzte sich darin einig sind, daß eine Kur in Rußland keinen Wert hat und mir nicht helfen kann.

Leben Sie wohl, lieber Leo Davidowitsch. Seien Sie stark. Sie werden es sein müssen, und energisch auch. Und tragen Sie mir keinen Groll nach.

A.«


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