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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Der Schleier fällt.

Mit großer Herzlichkeit wurden Edgar und seine Schwester in Fort Mulder von dem Kommandanten und seiner Frau empfangen, die mit wachsendem Staunen der seltsamen Kunde lauschten, welche sie aus des Grafen Munde vernahmen. Daß die Verlorene gefunden war, wußten sie ja bereits, aber nicht die näheren Umstände, unter welchen es geschehen war; mit der innigsten Teilnahme erfuhren sie, in welchem Zustande des Geistes sich Luise befand.

Die Gattin des Kommandanten, eine ältere Dame, schloß sie mit mütterlicher Zärtlichkeit an ihr Herz.

Seit drei Jahren war es das erste Mal, daß Luise ein europäisches Heim betrat und einer Dame begegnete.

Augenscheinlich machte das einen gewaltigen Eindruck auf sie.

Der Gegensatz zwischen ihrer bisherigen Umgebung und der jetzigen war ein gar großer.

Während sie bei der Begrüßung sich durchaus als Weltdame benahm, der eine Störung des Geistes nicht anzumerken war, und sich im Austausch von Höflichkeiten wie in alten Zeiten erging, faßte sie, während sie neben der Frau des Kommandanten auf dem Sofa saß, mehrmals mit verzweifelter Gebärde mit beiden Händen nach dem Kopfe und schaute mit angstvollen Blicken um sich. Doch hielt das nicht lange an, sie beruhigte sich bald wieder.

Notiz wurde hiervon nicht genommen, sie ward ganz als geistig normale Erscheinung behandelt.

Man unterhielt sich mit ihr über gleichgültige Gegenstände, worauf sie auch in durchaus passender Weise einging.

Sehr erfreut war sie, als Willy in seiner indianischen Tracht, die sie selbst gefertigt hatte, soviel Beifall fand und geliebkost wurde. Dann verfiel sie inmitten der Gesellschaft wieder in ernstes Nachdenken.

In solch wechselvollen Aeußerungen verriet sich die Tätigkeit dieses in Unordnung gebrachten Geistes.

Edgar hatte beschlossen, einige Tage im Fort zu bleiben, damit für die Toilette seiner Schwester gesorgt werde und auch Wilhelm passende Kleidung erhalten konnte.

Unter Aufsicht der Damen und der Mitwirkung einiger Unteroffiziersfrauen wurden eilig Kleider und Wäsche gefertigt, und der Militärschneider machte für Willy einen blauen Anzug, wie er ihn gewünscht hatte.

Für die Huronen kaufte Edgar aus den Vorräten reiche Geschenke ein, wie sie diesen Leuten die wertvollsten dünkten, und schwer beladen zogen seine indianischen Begleiter, denen er auch das Pferd als Saumtier geschenkt hatte, unter großen Dankesbezeigungen zu ihren Wigwams zurück.

Athoree, der große Zuneigung zu Edgar gewonnen hatte, blieb im Fort bis zur Abreise.

Johnson hatte sich Haar und Bart schneiden lassen und sah trotz deren schneeiger Farbe nun bedeutend jünger aus.

Sein bisher so ruhiges, von einzelnen Momenten abgesehen, fast apathisches Benehmen war einer bemerkbaren Energie gewichen, welche sich in Gang, Haltung und seinen Worten kundgab.

Die beiden Wilsons benutzten das erste Boot, welches hinunter fuhr, um sich nach Traverse City zu begeben, die Trauerbotschaft vom Tode des Vaters dorthin zu bringen und sich dann in die Wälder aufzumachen, um dessen sterbliche Ueberreste der Erde zu übergeben.

Den unermüdlichen Weller trieb es auch fort, und am Tage nach ihrer Ankunft verabschiedete er sich von dem Grafen.

Die beiden Männer gingen im Hofe des Forts auf und ab.

»Habe Euch lieb gewonnen. Fremder, seid ein Mann, wie mir sie hier gern haben, ist ein Fakt. Hätte nicht leicht einer von jenseits des Wassers das ausgeführt, was Ihr hier getan habt, kalkuliere, hätte es nicht. Ist der liebe Gott Euch gnädig gewesen, habt die Schwester gefunden, müßt dankbar dafür sein.«

»Das bin ich auch. Wäre nicht die schwere Erkrankung vorhanden, so dürfte man mich den glücklichsten der Menschen nennen.«

»Habe die Lady beobachtet, Sir, ist da vor ein paar Jahren durch einen furchtbaren Ruck die Maschine in Unordnung geraten, kalkuliere, kann ein andrer starker Anstoß alles wieder ins Gleiche bringen. Scheint nichts entzwei zu sein, was nicht wieder repariert werden könnte, ist alles da, fungiert nur falsch. Kommt mir die Lady vor wie jemand, der sich an eine ihm einst bekannte Melodie nicht erinnern kann – er sinnt und sinnt, und quält sich und kann sie nicht finden – bis sie ihm mit einemmal und ganz unerwartet einfällt. Kalkuliere, ist so mit Eurer Schwester.«

»Ihr seid ein scharfer Beobachter, und ich glaube, Ihr habt recht. Sie ist doch bereits eine wesentlich andre als zu der Zeit, wo wir die Arme fanden.«

»Was gedenkt Ihr denn nun vorzunehmen, Fremder?«

»Ich gehe nach meiner Heimat zurück und hoffe, daß in der zärtlichsten Pflege dort –«

»Ist ganz falsch, Fremder,« unterbrach ihn Weller in seiner derben Manier, »findet Eure Schwester drüben nur Fäden, die schon zu lange abgerissen sind, um sich leicht wieder verknüpfen zu lassen. Müßt die Lady in eine Umgebung bringen, in welcher sie lebte, ehe das Unglück über sie hereinbrach, wird sich da am ehesten zurechtfinden.«

»Ihr mögt da ganz recht haben,« entgegnete der Graf, den die scharfsinnigen Bemerkungen des schlichten Mannes in Erstaunen setzten.

»Kalkuliere, habe es. Will Euch sagen, Fremder, was ich zunächst tun würde an Eurer Stelle. Ginge mit der Schwester an den Muskegon zu Joe Baring. Findet niemand auf der Welt, die Eure Schwester mit größerer Liebe aufnehmen, als Joe und sein altes Weib. Ist ein Fakt. Läßt sich, denke ich, dort leichter die Vergangenheit mit der Zukunft verknüpfen.«

»Ja, Konstabel,« sagte Edgar, der mit lebhafter Freude diese Idee aufgriff, »das ist wahr. Daran habe ich nicht gedacht. Ihr habt ganz recht, ganz recht. Dort findet sich vielleicht die Brücke, über welche der Weg aus dem Dunkel ins Licht führt.«

»Würde so tun, schaden kann es nicht.«

»Es soll geschehen, mein nächster Weg führt zu Baring. Kommt Ihr in die Gegend?«

»Gehe an den Muskegon.«

»Wollt Ihr mir einen Brief an Baring mitnehmen?«

»Gebt ihn mir, soll an seine Adresse gelangen.«

Als Weller ihm nun die Hand zum Abschied reichte, sagte der Graf: »Mister Weller, Sie haben dem Fremden Wohlwollen erzeigt und aufrichtige Teilnahme erwiesen –«

»Nicht der Rede wert, Sir.«

»Ich werde es nie vergessen. Wollen Sie mich noch mehr verpflichten, so geben Sie mir Gelegenheit, Ihnen einen Wunsch zu erfüllen. Ich bin reich – und –«

»Will Euch sagen. Fremder, habe genug für mich – ist das auch reich – aber, na, wenn Ihr mir eine Freude machen wollt – hm – na, wenn Ihr das Ding, Euer Fernrohr, nicht mehr braucht, ist ein vorzügliches Glas, würde es gern haben.«

»Aber mit Freuden, Mister Weller, mit Freuden – nehmt mehr –«

»Gerade genug,« entgegnete trocken der Konstabel, »wird mich an Euch erinnern. Ist ein Fakt.«

Am Mittage segelte der so biedere als energische Beamte davon. –

Die Damen waren eifrig mit den Arbeiten beschäftigt, und die Kommandantin zeigte eine Feinfühligkeit und einen Takt im Verkehr mit Luisen, die bewundernswert waren.

Mit Freuden konnte Edgar bemerken, daß immer mehr und mehr Erinnerungen an Entlegenes aus dieser Geistesnacht emportauchten, aber stets, unter bemerkbarer Erschütterung aller seelischen Kräfte, vor der Katastrophe, welche der Umnachtung dieses Geistes vorherging, Halt machten. Eine instinktive Scheu vor dem Berühren des Furchtbaren, dem Gespenste der Vergangenheit, schien hier hindernd zu walten.

Heinrich beschäftigte sich viel in diesen Tagen mit Wilhelm, er ging mit ihm in die Wälder, lehrte ihn zu dessen großer Freude die Büchse handhaben und erzählte ihm vom fernen Vaterlande, vom Großvater und vom großen Kriege der Deutschen gegen die Franzosen.

Der kleine Wilde begann sich rasch an die Zivilisation zu gewöhnen und seine indianische Haut abzustreifen.

So war der Tag der Abreise gekommen. Es war beschlossen, in einem Kutter nach Traverse City hinüberzusegeln, dort den nächsten nach Süden gehenden Dampfer zu besteigen, am White-River zu landen und von da den Weg nach dem Muskegon zu nehmen.

Alle die Personen, welche solch große Fährlichkeiten mit ihm geteilt hatten, standen dem Herzen des Grafen nahe, und nicht zum wenigsten der ernste, bescheidene Johnson.

Noch vor ihrer Abreise suchte ihn Edgar auf.

»Was haben Sie, mein werter Freund, über Ihre Zukunft beschlossen?«

»In meinem Inneren, Herr Graf, kreuzen sich wirr Gedanken und Gefühle. Sie kennen das große Unglück meines Lebens. – Es hatte mich zermalmend getroffen, so schwer, daß selbst die Empfindungsfähigkeit gemindert war und ich unter dem Druck der Erinnerung mehr vegetierte als lebte. Die letzten Wochen haben mich zu neuem Leben erweckt, die Lethargie ist abgeschüttelt, ich fühle wieder Kraft und Mut zu handeln.«

»Das freut mich von Herzen.«

»Ich werde die Gräber meiner Lieben aufsuchen und nach meinem Eigentum sehen, ob ich gleich fürchte, nichts mehr davon zu finden, selbst das Land des Verschollenen wird der Fiskus genommen haben.«

»Recht, Johnson, beginnen Sie ein neues Leben voll Tatkraft und Energie, und die Zeit, die alles lindert, wird auch das tiefe Leid Ihres Herzens minder schmerzlich machen. Bedürfen Sie Geld zum Anlauf einer Farm, es steht Ihnen zu Gebote.«

»Will es mit Dank annehmen, Herr, wenn mein Eigentum verloren ist; soll redlich jeder Cent zurückgezahlt werden.«

»Reden Sie nicht davon, das findet sich mit der Zeit.«

»Kann am Kalamazoo nicht bleiben, ist die Erinnerung eine zu traurige. Will nur beten am Grabe meines Weibes und meiner Kinder und Ihnen dann an den Muskegon folgen, höre, soll gutes Land dort sein.«

»Und gute Menschen, unter denen Sie sich wohl fühlen werden.«

So war auch dies geordnet.

Der sonst so gutgelaunte Michael war jetzt, da die Abreise nahte, oftmals trübe gestimmt, so daß es dem Grafen auffiel.

»Nun, mein guter Bursche aus Leitrim, wo bleibt denn dein irischer Humor?«

»Wo soll ich denn Humor herhaben, jetzt, wo ich von Euer Gnaden fort muß?« entgegnete Michael.

»Die Trennung tut dir also leid?«

»Das fragen Euer Gnaden noch? Ich habe in Euer Gnaden Gesellschaft mich mit Bären und Wilden herumgeschlagen, und wir haben redlich zusammen gefochten und sind durch die Wälder gewandert trotz aller Marterpfähle, und Euer Gnaden sind ein Herr nach meinem Herzen, und da soll es mir nicht leid tun, zu scheiden?«

»Was denkst du denn nun zu beginnen, Michael?«

»Nun, meiner Mutter Sohn wird arbeiten.«

»Sehnst du dich nicht nach deiner Heimat zurück?«

»Nach Leitrim?« und Michaels Augen strahlten in der Erinnerung an die Heimat, »ja, da ist es doch am schönsten auf der Welt.« Er liebte seine arme, reizlose Heimat von ganzem Herzen.

»Aber,« fuhr er traurig fort, »'s geht nicht, mir sind zu viele dort, die Bursche müssen in die Welt, um ihr Brot zu verdienen.«

»Nun sag mir einmal, Michael, was würde dich auf der Welt am glücklichsten machen?«

»Ach, Euer Gnaden, wenn ich so manchmal sitze und Luftschlösser baue, da denke ich, 's wär' am herrlichsten auf der Welt, wenn ich in Leitrim ein Häuschen, ein Stück Land, eine Kuh und ein paar Schweine hätte, dann heiratete ich die Jane Crickletigg, wenn sie jetzt noch zu haben ist, sie hatte immer ein Auge auf mich, und dann tauschte ich mit keinem großen Lord.«

»Und was könnte ein solches Heimwesen kosten, Michael?«

»Ja, Euer Gnaden, das kostet viel Geld, das wird der arme Michael O'Donnel wohl nie zusammenbringen – das kann so siebzig bis achtzig Pfund kosten.«

»Nun, Michael, ich will dir das Geld geben und dich so zum ›glücklichsten der Menschen‹ machen.«

Der Irländer starrte ihn an mit einem so grenzenlosen Erstaunen, daß der Graf herzlich lachen mußte.

»Das ist – – das wäre,« stotterte Michael, der ganz blaß geworden war, »das – o, Gott – Gott – heiliger Michael – das ist doch nur Spaß von Euer Gnaden?«

»Nein, mein guter Michael, es ist mein Ernst, du hast dich meinethalben selbst den Gefahren des Marterpfahles ausgesetzt, ich bin dir Revanche schuldig. Du fährst mit mir zurück nach Southampton, und ich gebe dir das Geld, damit du Grundbesitzer werden kannst. Hoffentlich harrt Jane Crickletigg deiner noch.«

Das stürmte so gewaltig auf den guten Jungen aus Leitrim ein, daß er immer noch keine Worte für seine Gefühle fand.

»Dann wäre ich ja– Euer Gnaden – dann wäre ich ja – mit einemmal ein reicher Mann.«

»Gut, wenn du dich dafür hältst.«

»Und es ist wahr, wirklich wahr. Euer Gnaden?«

»Willst du es bezweifeln?«

»Nein! Nein!« schrie jetzt Michael, wie besessen umhertanzend, lachte, weinte und stieß dann seinen irischen Jubelruf mit einer Lungenkraft aus, daß das Haus erbebte.

»Ruhig! Willst du wohl ruhig sein!«

»'s geht nicht, Euer Gnaden, 's geht nicht, ich muß schreien, sonst ersticke ich.« Und er stürmte hinaus und füllte das Fort mit seinem Jubel, so daß die ganze Garnison zusammenlief.

Für Athoree hatte der Graf zwei schöne Büchsen, Messer, Pulver und wollene Decken angekauft, für Sumach Schmucksachen, bunte Tücher, Zeuge aller Art, und außerdem die Anordnung getroffen, daß dem Huronen durch Vermittlung des jeweiligen Befehlshabers des Forts eine lebenslängliche Rente von einhundertzwanzig Dollar ausgezahlt würde, wodurch er bei seinen einfachen Bedürfnissen zu einem reichen Manne unter seinem Volke wurde.

Am Abend kam Athoree, um sich zu verabschieden.

Edgar sah in das braune, ernste Gesicht des ärmlichen Sohnes dieser Wälder, dessen große Eigenschaften er schätzen gelernt hatte, und ergriff dann nicht ohne Bewegung seine Hand.

»Mein wilder, tapferer Häuptling, du hast dich in der Gefahr als echter Freund bewährt, als ein Freund, der selbst das Leben hinzugeben bereit war. Ich habe in dir die Leute deiner Rasse achten gelernt. Der Ozean wird bald zwischen uns rauschen, Athoree, aber er hat nicht Wasser genug, um die Erinnerung an dich und die aufrichtigste Dankbarkeit für deinen Beistand auf schwierigen Pfaden aus meinem Herzen fortzuspülen. Der große tapfere Häuptling der Wyandots wird fortleben im Gedächtnis seines Freundes.«

»Gut,« erklang die tiefe Stimme des Indianers, »Athoree und Sumach werden des weißen Kriegers gedenken. Athoree danken. Du ihn und Sumach, alte Mutter, reich machen, dafür danken; du Gutherz. Roter Mann seine Art, weißer Mann seine Art. Wenn Herz gut und Zunge gerade, kommen auf Farbe nicht an, Manitou sehen durch die Haut. Du gutes Herz, armer Wyandot auch. Alles verschieden – Herzen gleich.«

»Ja, du hast recht – aus dem Gebiete des rein Menschlichen begegnen mir uns, und ich bin stolz darauf, einen Freund von solch edlem, heldenhaftem Fühlen in dir zu besitzen.«

So schieden sie, der Sohn der Wildnis von dem deutschen Grafen. Am andern Morgen führte sie der gemietete Kutter nach Traverse City und der Dampfer von dort nach der Mündung des White-River.

Der Graf begab sich mit seinen Lieben, Heinrich und Michael ans Land, während Johnson zum Kalamazoo weiter dampfte.

Es wurden Pferde erworben, für den überglücklichen Wilhelm ein Pony, und sie traten die Fahrt zum Muskegon an, nicht ohne daß Edgar vorher einen Eilboten mit einem Brief an Baring abgefertigt hatte, in welchem diesem eingeschärft wurde, Luisen gegenüber die Vergangenheit nicht zu berühren, sie vielmehr zu empfangen, als ob sie gestern von ihnen geschieden sei.

In sonnigem Wetter legten sie den Weg durch die Wälder zurück und langten am Abend des zweiten Tages am Muskegon, in der Nähe von Barings Farm, an.

Dessen Name war vor Luisens Ohren absichtlich nicht erwähnt worden, und der Graf wurde, je näher sie kamen, um so aufgeregter, denn niemand konnte voraussehen, was für Folgen für Luise die Begegnung haben würde.

Als sie um die Waldecke ritten, zeigte sich Barings Behausung ihren Blicken, und im leichten Trabe ritten sie darauf zu.

Der früher schon geschilderte Zustand Luisens: freundliche Teilnahme an den gewöhnlichen Vorgängen des Lebens, oftmals unterbrochen von düsterem Sinnen und innerer lebhafter Erregung, hatte sich seit dem Aufenthalte in Traverse und der Dampfbootfahrt noch gesteigert, das Versinken in ein Nachdenken, welches ihr offenbar Pein bereitete, trat häufiger ein. Im Augenblick ritt sie ruhig mit glücklichem Gesicht neben Wilhelm einher.

Sie kamen der Farm näher. Waren sie bemerkt worden? Was würde kommen? Wird Baring Takt genug besitzen, alles der Kranken Anstößige zu vermeiden?

Sie kamen an den Eingang, der durch die Fenz den Weg zum Hause öffnete.

Da stand ein Mann in Weste und Hemdärmeln, den Rücken ihnen zugekehrt, und wenn der Graf sich nicht täuschte, wischte er sich die Augen.

»Hallo!« rief Edgar.

Der Mann wandte sich um, es war Baring, der eben seine Tränen abgetrocknet hatte, die ihm in die Augen getreten waren, als er die Erwarteten heranreiten sah. Aber er spielte seine Rolle wacker! »Hallo!« rief er zurück. »Segne meine Augen, Lady Walther! Hallo! Altes Weib, Lizzy, Hetty – heraus – Lady Walther kommt.«

Das war ganz der Empfang, an den Luise gewöhnt war, wenn sie früher bei Baring anritt, selbst der Mann in Hemdärmeln stand dann gewöhnlich da.

Aus dem Hause kamen Mistreß Baring und ihre Töchter, und alle liefen mit Baring auf Luise zu.

Angstvoll hatte Edgar deren Züge beobachtet. Als die Stimme Barings zu ihr drang, zuckte sie wie von einem elektrischen Schlag getroffen zusammen, ihr Auge erweiterte sich, sie zitterte, in ihren Zügen drückte sich die lebhafteste Ueberraschung aus.

»Hallo!« schrie Baring, dem die Tränen nahe genug waren, der sie aber männlich bemeisterte, seine Rolle mit Hingebung weiterspielend. »Ist recht, Lady Walther, daß Ihr Euch sehen läßt. Seid willkommen bei Joe Baring. Ist ein Fakt. Gott segne Eure Seele.«

Vor Luise standen der alte wettergebräunte Farmer und die Frau.

Mit großen Augen starrte sie sie an und sagte leise: »Mistreß Baring – Mister Baring –«

Einen Moment hielt sie inne – wechselnde Gefühle fanden ihren Ausdruck in den belebten Zügen, Erstaunen – Freude – Schreck – dann – in einen leidenschaftlichen Tränenstrom ausbrechend – sank sie vom Pferde in die sie auffangenden Arme beider und lag schluchzend an der Brust der Frau.

Der Alte, der nur mit Mühe seine Tränen zurückgehalten hatte, weinte jetzt laut, seine Frau, die Mädchen, tiefbewegt, nicht minder. Wer, der menschlich fühlte, hätte sich bei diesem Wiedersehen der Tränen enthalten können? Nicht einer hatte trockene Augen, und Michael wischte mit dem Zipfel seiner Jacke energisch die großen Tropfen fort, welche über seine Wangen herabrollten.

Man hörte eine Weile nur Schluchzen. Von allen zuerst bezwang Luise ihre Tränen, so mächtig ausbrechend sich der Strom ergossen hatte.

Sie richtete das Haupt empor und sah in Mistreß Barings feuchtes Auge, richtete ihren Blick auf den ehrlichen, rauhen, inniggerührten Alten und sagte kaum vernehmbar: »Jetzt weiß ich alles. Mein Walther, mein armer, armer Walther.«

Nach einer Weile fragte sie: »Wie lange ist es her, Mistreß Baring?«

»Es sind drei Jahre vergangen, Lady Walther,« schluchzte diese.

»Drei Jahre? Drei Jahre? Drei Jahre des Traumes. – Ich bin erwacht – ich weiß jetzt alles – ich sehe es, als ob es gestern gewesen wäre. Armer, teurer Walther.«

Mistreß Baring führte sie ins Haus, wo Luise in einen Sessel sank und mit den Händen das Gesicht verhüllte.

Große Tropfen brachen sich hier durch die zarten Finger Bahn, aber es war nicht der krampfhafte Ausbruch, der sie draußen erschüttert hatte, sanfter ergoß sich das lindernde Naß.

Wilhelm stand neben der weinenden Mutter. Diese ließ die Hände endlich sinken, richtete den durch Tränen verschleierten Blick auf das Kind und sagte: »Du bist mir geblieben, sein Abbild, als teuerstes Vermächtnis.«

Sie hob die Augen empor und sie hafteten lange auf dem Grafen.

Dann streckte sie ihm die Hand entgegen: »Edgar, mein Bruder.«

Mit einem Freudenschrei stürzte dieser auf sie zu: »Endlich, endlich – Luise. Luise, meine teure, so lang gesuchte Schwester.«

Lange hielten sie sich schweigend umarmt.

»Es wird zuviel, ich muß allein sein,« sagte Luise.

Mistreß Baring führte sie zu dem für sie bereiteten Zimmer, wo sie sich niederlegte.

»Ist unsre Lady Walther, Fremder, wird gesund werden. Ist ein Fakt.«

Hocherregt, aber in freudiger Hoffnung ging Edgar mit dem Alten ins Freie, dem er nun alle seine Erlebnisse mitteilte.

Kaum hatte er seinen langen Bericht vollendet, als ein Herr mit zwei Damen in das Gehöft ritt, in deren einer Edgar zu seiner höchsten Ueberraschung mit tiefbewegtem Herzen Frances Schuyler erkannte.

Es war Mister Myers von Lansing mit seiner Tochter und Frances.

»Ja,« lachte vergnügt der alte Herr, »macht nur Augen, Herr Graf, ist Ned Myers in Person. Mußte doch den seltsamsten Briefschreiber im ganzen alten Mich besuchen, ist der alte Bär dort mein Jugendfreund, und tut den Mädchen gut, einmal echte Waldluft zu atmen. Sind deshalb an den Muskegon gekommen. Freue mich. Euch zu sehen. Nun, wie steht's, Alter, wie steht's?« fragte er dann, denn er war von allem unterrichtet.

»Denke gut, Ned, hat die Natur einen Ruck bekommen. Denke, gut steht's.«

Indem trat Mistreß Baring aus dem Hause.

»Nun, alte Frau?«

»Sie schläft. Pst!«

»Gut so.«

Edgar begrüßte Miß Myers und dann Frances.

»Welch seltene Freude, Miß Schuyler, Sie so unerwartet wiederzusehen.«

Ihr ernstes Auge ruhte mit einem innigen Ausdruck auf seinem Antlitz, das jetzt hohes Glück widerspiegelte, begegnete seinem Blick, der eine Welt stürmender Gefühle verriet. Sie gab ihm die Hand, während ein leichtes Rot in ihre Wangen stieg.

»Ich freue mich, Herr Graf, Sie wiederzusehen.«

Alle Gastfreundschaft, welche Barings Haus bieten konnte, wurde nun dem Grafen und seinen Begleitern zu teil; und eine glückliche, hoffnungsvolle Stimmung beherrschte alle Bewohner desselben.

Luise schlief bis zum nächsten Morgen. Dann erwachte sie mit vollständig klarem Geiste.

Nachdem sie Mistreß Baring zu sich bitten lassen und mit ihr gesprochen, ließ sie Edgar rufen, mit dem sie eine lange Unterredung hatte.

Die Wolke, welche so lange ihr Haupt umhüllt und ihr Seelenleben in Banden gehalten hatte, war geschwunden, deutlich stand wieder die Vergangenheit vor ihrem Geiste.

Luise war genesen.

Die jetzt ruhigere Trauer ihres Herzens um verlorenes Glück wurde gemildert durch die Anwesenheit des Bruders, des Kindes, wie der guten Barings.

Edgar besuchte die Freunde in der Umgebung, vor allem Grover.

Mit Verwunderung hörten alle von seinen Erlebnissen, und Grover äußerte: »Habe es Euch gleich gesagt, Fremder. Ist Joe Baring der richtige Mann für Euch – he? Ist ein Fakt, war der richtige Mann.«

Nach etwa vierzehn Tagen schickte sich Edgar mit den Seinen zur Abreise an, unter den herzlichen Segenswünschen aller verließ er Barings gastliches Heim. Michael, den künftigen Gutsbesitzer in Leitrim, nahm er mit. Johnsons Zukunft war geordnet, er übersiedelte nach dem Muskegon. Im Parke zu Schloß Elm saß der greise Graf, in Decken eingehüllt, in seinem Rollstuhl.

Zu seinen Füßen warf sich sein verstoßenes, so lang entbehrtes Kind.

Es war der letzte Glücksstrahl in seinem Leben, denn bald war er in die Gruft seiner Väter gebettet, seine Luise hatte seine letzten Seufzer empfangen, er starb in ihren Armen.

Noch heute waltet Graf Edgar, der dem Dienst entsagte, als Gutsherr in Schloß Elm und an seiner Seite seine geliebte Gattin, einst Frances Schuyler. Ein guter Genius aller Armen und Bedrückten ist des Grafen Schwester, Frau Walther, deren Trauer um den geliebten Toten in sanfte Wehmut übergegangen ist, mit welcher sie seiner gedenkt.

Ihr Stolz und ihre Freude ist ihr Willy, das Ebenbild des teuren Gatten, der seinem König unter den leichten Reitern dient, ein geborener Soldat.

Heinrich ist der erste Förster des Grafen, ein gar stattlicher, hochgeachteter Mann.

Dann und wann kommt Kunde von den Freunden aus Amerika, deren man auf Schloß Elm noch immer liebevoll und dankbar gedenkt. Alljährlich sendet Michael O'Tonnel einen großen Brief, den er dem Dorfschreiber diktiert, und der spricht von bescheidenem Glück und atmet echte Dankbarkeit.


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