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Elftes Kapitel

»Lieber Doktor, jedes Warten ist von Übel«, erklärte der Australier mit Nachdruck. »Gestern habe ich mich in Geduld gefaßt, heute aber war es mir nicht mehr möglich. Rasches Handeln ist unbedingt notwendig.«

»Ich habe mir das gleiche gesagt, und ich bin nicht müßig gewesen«, entgegnete Dr. Bruchs. »Gestern wanderte ein Brief von mir durch Doktor Großheims Vermittlung in Hedwigs Hände. Er war lang und eine Antwort nicht gleich zu erwarten. Dennoch kam auch Großheim nicht mit leeren Händen zurück, sondern brachte mir einen Zettel als Antwort auf mein erstes Lebenszeichen. Wollen Sie lesen?«

William Hunter setzte sich an des Doktors Schreibtisch, schob das zerknitterte Papier in den Lichtkreis der Studierlampe und überflog die flüchtig hingeworfenen Zeilen:

»Geliebter! Noch fasse ich es nicht, wie Du so schnell mein Versteck erfahren hast, aber ich sende Dir tausend Dank! Meine Mama war hart und sonderbar zu mir wie noch nie; bin ich krank? Nein, Geliebter, glaube es nicht! Nur daß ich von Dir lassen sollte, hat mich krank gemacht. Ich bin wieder so voll Glück; ich glaube, nichts kann uns trennen, heute nicht und im ganzen Leben nicht. Der Herr Doktor ist gütig zu mir; er will diese Zeilen Dir übergeben und mir neue von Dir mitbringen. Wie ich mich freue! Wie ich mich sehne! Ach, schreibe doch recht viel und gut

Deiner glücklichen Hede«

Hunter nickte gedankenvoll. »Mit wie wenigem doch so ein Mädchenherz zufrieden ist ... Ein Mann würde sich auflehnen oder dumpf brüten; sie jubelt, wenn sie nur von dem Geliebten hören kann. Es ist doch ein Großes um so ein Mädchenherz. Ich möchte Sie beneiden ...«

Bruchs schob ihm ein zweites Blatt hin, und die Freude klang aus seiner Erläuterung: »Ihre Antwort auf meinen Brief von gestern. Lesen Sie selbst ...«

Ein einfacher kleiner Oktavbogen, mit derselben zierlichen und doch ausdrucksvollen Schrift bedeckt wie der zerknitterte, unscheinbare Zettel.

»Mein Teurer! Ich habe Deinen Brief zehnmal gelesen und zehnmal voll Freude gesagt: Ich will alles, alles, was Du willst! Mit Dir gehen, wohin Du willst. Ja, komm, hole mich. Ich werde bewacht; aber ich bin gesund und stark, und ich folge Dir, wohin es sein muß. Heißen Dank an Herrn Hunter, den ich verkannt habe! Bitte ihn um seine Verzeihung für mich, sage ihm, daß auch ich ihm vertraue. Jeder meiner Gedanken gilt Dir, jede Stunde bin ich bereit, mit Dir zu gehen.

Und wenn wir arm sind: Ich kann arbeiten wie Du, und ich werde nicht ermüden, wenn Du bei mir bist. An meinen armen Eltern sehe ich es: Der Reichtum bringt nicht immer Segen – wir wollen ihm freudig entsagen. Mein Reichtum bist Du, und ich bin die Reichste auf Erden, wenn ich den Platz in Deinem Herzen behalte.

Deine Hede«

»All right!« murmelte Hunter rauh, verharrte sekundenlang schweigend, stand auf und drückte dem Arzte die Hand. »So, jetzt vorwärts!«

Bruchs stimmte lebhaft zu und sagte: »Ihr Beispiel hat mich gelehrt, wie zu handeln ist. Ich habe eine Schwester, die mir von Herzen ergeben ist. Die habe ich zu mir gerufen, und die soll Hedwig begleiten und schützen. Meine eigene Entfernung von Berlin würde auf die Spur lenken und Hedwigs Ruf gefährden. Beides wird vermieden, wenn meine Schwester an meine Stelle tritt...«

»Ist sie umsichtig?«

»Klug und energisch. Und die Güte selbst.«

»Well. Also nach der Seite wäre alles geordnet. Jetzt kommt der Mr. Jendrowski an die Reihe, und den überlassen Sie, bitte, mir!«

»Könnten wir nicht beide zu ihm gehen?« warf Bruchs ein.

»Nein. Mit solchen Leuten muß man auch auf Krücken tanzen und im Sande Schlittschuh laufen können. Darauf versteh ich mich besser...

Wenn ich nicht irre, besitzen Sie ein Adreßbuch – wollen Sie die Güte haben, Hausnummer und Sprechstunden nachzuschlagen?«

Bruchs kam dem Wunsch sofort nach.

»Charlottenstraße neun, erste Etage«, las er. »Sprechzeit neun bis zwölf, vier bis sechs.«

»Also vier bis sechs; denn vormittags wird der Herr auf dem Gerichte zu tun haben. Geben Sie mir Ihre Zustimmung, daß ich handeln darf!«

Dr. Bruchs willigte ein.

»Ich darf mich nicht bedenken, wo ich Ihnen so vieles zu danken habe.«

»Haben Sie Ihren Kollegen befragt, wie es Ihrer Braut geht?«

»Ja, Doktor Großheim würde die Besuche einstellen, wenn er nicht ...«

»Ich verstehe.«

»Wollen wir nicht den Abend zusammen verleben?«

»Well. Ich wollte Sie nicht stören.«

»Ich habe für keine anderen Menschen Sinn.«

Als sie eben gehen wollten, brachte der Postbote ein Telegramm.

»Das geht schnell«, warf Bruchs hin. »Sicher von meiner Schwester. Heute vormittag habe ich geschrieben.«

Er riß das Formular auf.

»Komme morgen abend sechs Uhr. Marie.«

»Ich wußte es«, sagte Bruchs zufrieden. »Kommen Sie; das erste Glas auf meine Schwester ...«

»Nein«, widersprach Hunter. »Das erste Glas auf – jemand anders ...«

»Dann das zweite«, gab Bruchs zu.

In dem geräumigen Büro des Dr. Jendrowski saßen an langen Tischen ein Dutzend Schreiber. Eine der Wände war mit vollgestopften Aktenregalen besetzt, an einer anderen hing zwischen Landkarten ein Regulator, der auf genau vier Uhr zeigte, als der Australier den Raum betrat.

An einem gesonderten Tische neben der Doppeltür, die ins Sprechzimmer des Anwalts führte, erhob sich nachlässig ein korpulenter Herr und fragte den Besucher nach seinen Wünschen.

»Der Herr Anwalt zugegen?« fragte Hunter.

Der Korpulente sah auf den Regulator.

»In einer Viertelstunde. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Die von dem Dutzend Lungen und einem mächtigen Kachelofen verbrauchte Luft des Raumes machte den Aufenthalt schwer erträglich, und die nach und nach sich einstellenden Klienten trugen zur Verbesserung nicht bei. Aber Hunter fügte sich und fand in der Beobachtung der verschiedenartigen Gestalten unter den Besuchern eine willkommene Ablenkung.

Ein noch junger Mann mit einem Gelehrtengesicht, dessen rechte Wange durch eine derbe Schmarre verschönt war, näherte sich dem Korpulenten etwas befangen, drehte ein Geldstück zwischen den Fingern und schob es dem Bürovorsteher unsicher hin.

»Was, ganze fünf –?« kam der grobe Baß des Dicken. »Das wird ja immer weniger.«

Der Mann antwortete im Flüsterton und begleitete seine besänftigende Ausführung mit ungeschickten Gesten des Bedauerns.

Der Dicke blätterte in einem Aktenbündel. »Noch achtundvierzig Mark«, grollte er, »und darauf die...«

Er zog das Silberstück ein und stellte die Quittung aus.

»Wenn der Alte aber nicht mehr will«, fügte er einschüchternd hinzu, »ich kann nichts dafür.«

Eine in Trauer gekleidete Frau sprach so leise, daß der Lauscher kein Wort auffangen konnte, und der Dicke wiegte in einem fort den Kopf. »Na, wollen sehen«, schloß er endlich. »Versprechen kann ich aber nichts.«

Ein Herr exotischen Typus' lehnte sich mit den Ellbogen vertraulich auf den Tisch des Vorstehers und unterhielt sich ziemlich ungeniert. »Ist er zur Leistung des Offenbarungseides nicht erschienen, dann ordnen Sie die zwangsweise Vorführung an«, verstand Hunter. »Kostet sechzig Mark«, bemerkte der Dicke. »Dann werfe ich die auch noch hinterher. Aber lassen Sie den Haftbefehl am Sonnabendabend ausführen, damit er sich die Sache bis Montag in der Stille überlegen kann.«

»Na, Sie?« fragte der Korpulente einen Mann aus dem Handwerkerstande.

»Fünfzig –«, war die leise Antwort.

»Schön«, lobte der Dicke, »und sehen Sie, wenn man muß, kann man auch.«

Geldklappern – Quittung ...

Im Nebenzimmer wurde ein Stuhl gerückt. Gleich darauf ertönte eine Klingel.

Der Dicke verschwand durch die Doppeltür, kehrte nach einigen Minuten zurück und wies dem Australier mit lakonischem »Bitte!« den offenen Eingang.

Hunter murmelte undeutlich seinen Namen, und der Doktor zeigte auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch.

Der Anwalt war in seinem Äußeren der Gegensatz zu seinem feisten Bürogewaltigen: klein, hager, unscheinbar. Das Haupthaar war gelichtet und ergraut, der kleine, gezwirbelte Schnurrbart anscheinend gefärbt. Die zurückliegenden Augen funkelten durch Brillengläser.

»Ich wohne im Hause Wutschow«, begann Hunter ohne Umschweife, »und habe erfahren, daß Frau Wutschow ihre Tochter Hedwig bei Ihnen in Pension gegeben hat.«

Der Anwalt konnte eine Überraschung nicht ganz verbergen.

»Durch wen?« fragte er.

»Das tut nichts zur Sache. Ich bin unterrichtet und ebenso darüber, daß Fräulein Hedwig Wutschow bei Ihnen verborgen werden soll.«

»Vor wem?«

»Das wird Ihnen von der zuständigsten Seite erklärt worden sein.«

»Nein.«

»Ich verlange von Ihnen keine Bestätigung. Der Verlobte der jungen Dame ist gleich mir der Ansicht, daß die Wahl Ihres Hauses keine glückliche war.«

»Wieso?«

»Die Dame ist krank, und Sie sind nicht Arzt.«

»Sie wird von meinem Hausarzt behandelt.«

»In einem Krankenhause würde sie unter ständiger Beobachtung stehen.«

»Sie gehen von einem Grundirrtum aus: die Dame war seelisch überreizt; die Störung im leiblichen Befinden war vorübergehender Natur und ist bereits behoben.«

»Fräulein Wutschow ist Nachtwandlerin ...«

»Ich halte die einmalige Erscheinung für eine Folge ihrer Exaltation.«

»Die Dame wird sich in der Gefangenschaft auch nicht beruhigen ...«

»Jede Erregung wird von ihr ferngehalten, und meine Frau sowohl wie die Wirtschafterin und das übrige Personal wachen über sie.«

»Herr Doktor Bruchs wünscht trotzdem eine Veränderung für seine Verlobte.«

»Ich habe mich an die Instruktionen der Mutter zu halten.«

»Selbstverständlich soll Ihnen kein pekuniärer Nachteil erwachsen ...«

Jendrowski zuckte die Achseln. »Meine Pflicht gegen Frau Wutschow ...«

Hunter unterbrach ihn.

»Die Pflicht gegen eine unnatürliche Mutter ist begrenzt. Sie hat nie Gutes für ihre Tochter übrig gehabt, und sie verfolgt auch jetzt nichts als eigennützige Zwecke ...«

»Das entzieht sich meiner Beurteilung; auch meiner Zuständigkeit. Ich habe als Jurist mich lediglich nach dem abgeschlossenen Vertrag zu richten.«

»Als Mensch können Sie humaner handeln. Es wird nicht von Ihnen verlangt, daß Sie die Vereinbarung brechen. Aber Fräulein Wutschow könnte sich selbst Ihrem Machtbereich entziehen.«

»Hm, ich wüßte ... Wollen Sie nicht etwas deutlicher ...?«

Der Australier merkte, daß der Mann ungewiß einen Vorteil witterte, und er suchte die Gelegenheit kaltblütig auszunutzen.

»Frau Wutschow wird – sagen wir – auf einen Monat mit Ihnen abgeschlossen haben?« fragte er.

»Das könnte sein ...«

»Pension soundsoviel – vielleicht vier-, fünfhundert?«

»Belieben wir, das anzunehmen ...«

»Ich habe an Fräulein Wutschow und ihrem Verlobten ein freundschaftliches Interesse. Ich würde mich erbieten, Sie für ein volles Jahr zu entschädigen ...«

In die hagere Figur des Anwalts kam Leben. Er ging an die Doppeltür und vergewisserte sich, daß sie fest zugezogen war.

»Mein Wohlwollen für die Frau ist allerdings begrenzt ...«

»Sie würde das eigene Kind zugrunde richten!«

»Dazu möchte ich natürlich nicht die Hand bieten.«

»Das habe ich vorausgesetzt. Dem Mädchen muß aber bald geholfen werden, wenn sie nicht doch noch ...«

»Ja, ja. Für ein Jahr sagten Sie?«

»Für ein Jahr.«

»Zwölfmal fünfhundert?«

»Sie haben richtig verstanden. Ich habe den Betrag bei mir.«

»So, so.«

»Die Hälfte sofort, die Hälfte nach Gelingen.«

»Für das Gelingen bin ich nicht verantwortlich.«

»Nein. Sie verbürgen mir zweierlei: Ihr unbedingtes Schweigen und Bewegungsfreiheit für die junge Dame in Ihrem Hause.«

»Die Diskretion wäre ja selbstverständlich. Die Bewegungsfreiheit – hm. Meine Frau wünscht morgen abend die Oper zu besuchen – hm –, und die Wirtschafterin könnte sie begleiten. Die Mädchen haben in der Küche zu tun – zu ermöglichen ist ja manches – Human denke ich auch... Wäre Ihnen denn der morgige Abend recht?«

»Vollkommen.«

»Hm ... Also das Fräulein entfernt sich. Ich sehe noch um neun nach ihr. Sie ist ruhig. Das erübrigt, daß meine Frau sich noch um sie bemüht nach ihrer Rückkehr. Am anderen Morgen – im Zimmer des Fräuleins ist Ruhe – nicht zu früh stören – erst so um zehn – dann entdeckt meine Frau die Abwesenheit – schickt zu mir nach dem Büro – ich komme um Mittag vom Gericht heim – bis dahin haben Sie Zeit – dann muß ich aber Frau Wutschow natürlich Meldung erstatten – so um zwölf...«

Hunter schob seinen Stuhl zurück. »Die Zeit genügt...«

»Haben Sie eine Verbindung mit der jungen Dame, daß Sie oder ihr Verlobter sie unterrichten können?« fragte Jendrowski noch und, wie es schien, etwas lauernd.

»Nein«, gab Hunter zurück, da er doch den Arzt nicht bloßstellen konnte.

»Bringen Sie mir einen Brief... Mein Wort, daß er diskret an seine Adresse gelangt... Punkt neun Uhr.«

»Ich bin Ihnen verbunden ... den Aufenthalt haben wir zufällig erfahren... Die Verbindung mit dem Fräulein ist allerdings nur durch Sie möglich. Gut, daß es noch zur Sprache kam.«

»Ja, wird sie denn einverstanden sein?«

»Sie wird freudig zustimmen.«

Der Australier zählte ein Bündel Geldscheine auf den Tisch, der Anwalt blätterte nach und steckte den Schatz zu sich.

»Ihr Ehrenwort auf Ihre Diskretion?« fragte er, und die Katzenaugen blitzten durch die Brillengläser.

»Ja, gegen das Ihre ...«

Hunter schlug widerwillig in die ihm gebotene Rechte ein.

»Auch für den Herrn Doktor Bruchs?« fuhr Jendrowski, die Hand festhaltend, fort.

»Auch für ihn«, bestätigte der Australier.

»Und für die Restforderung?«

»Sie ist übermorgen in Ihrem Besitz.«

Der Anwalt gab die Hand seines Besuchers frei. »Das Unternehmen ist ungewöhnlich. Ich wünsche Ihnen und dem mir – sympathischen Fräulein zu dienen«, schloß er.

Heuchler! titulierte ihn Hunter im stillen und verabschiedete sich mit einem höflichen »Auf gutes Gelingen, Herr Doktor«.

Draußen atmete er auf. Das mit einigem Komfort ausgestattete Kabinett des Chefs war überheizt gewesen wie der armselige Raum für die Schreiber, und die nach den Regen- und Sturmtagen wieder beruhigte herb-frische Winterluft tat dem Erhitzten wohl.

Er ging über den Straßendamm, bestieg eine Droschke und sah flüchtig auf die erleuchteten Fenster der ersten Etage. Zwei davon waren verhängt, und hinter ihnen mochte der Rechtsanwalt mit dem weiten Gewissen bereits einem anderen dienen – oder auch nicht dienen ...

Hunter saß elastisch aufrecht. Der gewaltige Verkehr der Leipziger Straße umbrandete ihn, ohne seine Gedanken von dem Triumph über die erbitterte Gegnerin abzulenken. Der erste Streich war getan; zum zweiten sollte mit vereinter Kraft alsbald ausgeholt werden.

»Neuenburger vierzig?« fragte der Kutscher, der die Nummer vergessen hatte.

»Vierzehn A«, berichtigte der Fahrgast.


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