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Neuntes Kapitel

Der Australier schob sich einen Sessel ans Fenster, wartete und überlegte. Einstweilen hatte die Frau einen Vorteil zu verzeichnen, das vermochte er nicht zu leugnen. Aber auch nur einstweilen und vielleicht nur scheinbar. War Hedwigs Aufenthalt erst ermittelt, so mochte es dem Doktor leichter werden, sich ihr in dem fremden Hause zu nähern als daheim. Und wenn das junge Mädchen sich nicht einschüchtern ließ, sondern zu ihrem Verlobten hielt, so mochte sie sich vielleicht sogar ein Beispiel an ihren Stiefschwestern nehmen, sich der Gefangenschaft mit kühnem Entschluß gewaltsam entziehen und auf der Flucht mehr Glück haben als die beiden anderen, die den Frieden nicht gefunden hatten.

Hunter biß die Zähne aufeinander, und mit dem Gedanken an die Toten kam ihm die Erkenntnis, daß das Geschick seiner Kinder die Triebfeder aller seiner Handlungen war, das ihn auf des Doktors und des Mädchens Seite stellte und ihm die Rache als letztes und höchstes Ziel seines Lebens vorschrieb.

Er war sich dessen bis dahin nicht so deutlich bewußt geworden und empfand im Augenblick wieder nicht, daß in seinem dürren Herzen ein gut Teil rein menschlicher Anteilnahme auch für das mißhandelte Mädchen wach geworden war; der Haß hatte die Oberhand in ihm und drückte die weichere Empfindung in den Hintergrund; der Haß ließ ihn gegen die unnatürliche Mutter die Fäuste ballen und das Mitleid ihn – ganz leise – um das Mädchen sorgen, dessen Anblick in dem weißen Nachtgewand ihm immer wieder vor Augen trat.

Wo mochte sie sein? Wie mochte es ihr gehen? Die Fragen drängten sich ihm mitten in die Erwägungen, wie er Härte gegen Härte zu setzen und die Frau bis ins Herz zu treffen vermöge. Sein Blick streifte die Blumen auf dem Schreibtisch und glitt verdüstert in das Straßentreiben; er horchte angestrengt nach dem Rollen des heimkehrenden Wagens und malte sich mit peinigendem Grübeln aus, wie die Frau voll Genugtuung heimkehren und die Kranke fiebernd unter fremdem Dach sich ängstigen würde...

Ein Geräusch störte ihn auf. Der Wagen mit den dampfenden Schimmeln bog in die Einfahrt, und der Kutscher schien zu tun zu haben, die erregten Tiere zu halten. Oder er hatte die Zügel zu lang gefaßt und mußte sich zurücklehnen, um den Fehler auszugleichen. Dabei bauschte sich ihm der Pelzüberwurf seines Mantels und verdeckte völlig den Einblick in den Wagen, obwohl dessen Dach zurückgeschlagen war. Hunter eilte auf die Veranda und beobachtete alsbald, daß er recht vermutet hatte: Frau Wutschow entstieg dem Gefährt allein.

Er zog sich sogleich zurück, wanderte auf und ab und hing einem Gedanken nach, der ihm beim Anblick des Kutschers gekommen war. Der Mann war von der Herrin sicher nicht eingeweiht worden, mußte aber dennoch Auskunft geben können! Das war ein erster Schritt vorwärts. War er aber zum Reden zu bewegen? Sollte der Mann, als alleinige Ausnahme in ganz Berlin, dieser wunderlichen Herrschaft anhänglich und verschwiegen zugetan sein? Hunter lachte laut auf. Die Möglichkeit war gegeben, die Wahrscheinlichkeit fehlte ganz und gar. War er schlau, so nutzte er die Gelegenheit aus und suchte seinen Vorteil; in jedem Falle aber würde er zum Reden zu bringen sein.

Hunter zögerte nicht, den einstweilen möglichen Weg einzuschlagen. Er begab sich zunächst zu Wutschow, den er trotz der herrschenden Kälte auf dem üblichen Platze bemerkt hatte, und fuhr diesen an: »Wenn Sie die Gäule öfter so hetzen lassen, werden sie bald zum Kuckuck gehen! 's ist ja eine Schande!«

Er kümmerte sich nicht um Wutschows Fauchen, stolperte die Treppe hinab, trat zu dem Kutscher, strich den Schimmeln über die bereiften Mähnen und klopfte ihnen auf die dampfende Kruppe.

»Schade um die schönen Tiere! Haben Sie denn ein Rennen gefahren?«

Der Kutscher schielte nach der Veranda. »Die Alte ist wieder mal wild«, gab er entrüstet zurück.

Hunter half beim Ausschirren, trat mit in den Stall und sah dem Kutscher zu, wie er die Tiere abrieb und in Decken hüllte. Er lobte die Umsicht des Mannes.

»Ohne Ihre Pflege – na, die möchte ich sehen! So'n Pflichtmensch wie Sie, der müßte doch eine ganz andere Stellung bekommen können als bei diesem Wutschow...«

»Nee, nee, von die Schimmels gehe ich nicht ...«

»Das ist sehr schön, Herr – Herr ... Wie heißen Sie gleich?«

»Fritz Müller.«

»... Herr Müller. Ich würde aber aus der Haut fahren, wenn ich die Tiere so abtreiben müßte. Mensch, Sie müssen ja mindestens bis Potsdam gejagt sein!«

»I nee, bloß bis nach die Altonaer Straße.«

»Altonaer Straße? Na, ich kann mir schon denken, was Sie da gemacht haben: das arme Fräulein fortgebracht. Ja, ja, der Mensch ist ein hinfälliges Geschöpf: heute rot, morgen tot – wenn's auch mit dem Fräulein Hedwig so weit noch nicht ist ...«

Der Kutscher hielt in seiner Arbeit inne und sah aufmerksam auf seinen Besucher.

»Was?« fragte er. »Ist das Fräulein krank?«

»Haben Sie denn keine Augen im Kopf?«

»Ja, aufgefallen ist mir wohl was ...« Der Mann nickte trübe.

»Na, und daß Sie sie zum Doktor gefahren haben, hat Ihnen das nicht zu denken gegeben?«

»Zum Doktor? Ich habe mir schon gedacht, daß da was von 'n Doktor aufstand auf dem Messingschild. So 'ne Schilder haben die immer. Der Herr Doktor Bruchs auch.«

»Nicht grad alle, aber die meisten. Der in der Altonaer Straße aber gewiß auch. Das ist 'ne feine Gegend, mein lieber Müller. Welche Hausnummer war's denn?«

Fritz Müller sann nach. Er kraulte sich hinter den Ohren.

»Die – hab' ich wahrhaftig wieder vergessen.«

»Na, ist ja auch gleichgültig. Ich hätte mich nur gern mal nach dem Fräulein erkundigt, so in den nächsten Tagen, wie's ihr geht ...«

Fritz Müller schien etwas einzufallen.

»Die Alte«, er wies nach der Villa, »hat was von Maulhalten gesagt. Wenn Sie aber nach dem Fräulein fragen wollen, da ist doch nichts dabei. Wenn Sie hinkommen: linke Seite, so'n Dutzend oder 'n paar Kasten mehr 'rauf, und an's Haus ist ein Kerl mit 'ner Forke, den werden Sie schon sehen. Und das Messingschild auch.«

»Schönen Dank, Herr Müller. Na, hoffentlich ist das Fräulein bald wieder gesund und macht Hochzeit, was?«

»Das wäre schon etwas ...«

»Alter Knabe«, Hunter schlug einen neckenden Ton an, »hat die Fee es Ihnen angetan? Mir vom ersten Tage an. Der Doktor hat einen guten Geschmack, und 'n hübschen Batzen kriegt sie auch mit...«

Der Kutscher machte eine ungläubige Gebärde und warf im Zweifelston hin: »So, glauben Sie?«

»Sie nicht?«

»Nee«, erklärte Müller trocken.

»Sie können recht haben«, pflichtete Hunter bei. »Die Alten plagt der Geldteufel, und wo der Geiz anfängt, hört der Verstand auf. Die beiden alten Drachen – na, ich will nichts weiter gesagt haben. Adieu, Müller!«

»Adjöh, Herr Hunter.«

Der Australier frohlockte. Er bezweifelte nicht, daß er wichtige Fingerzeige erhalten hatte, und so leicht lösbar hatte selbst er sich seine Aufgabe nicht vorgestellt.

Er machte sich sogleich auf den Weg nach der Altonaer Straße und entdeckte bald an einer der villenartigen Bauten die Gestalt des Neptuns mit dem Dreizack, den Müller respektwidrig als »Kerl mit 'ner Forke« bezeichnet hatte. Und am linken Pfeiler des Vorgartens, dicht neben der schmiedeeisernen Pforte, war auch das von Müller beschriebene Messingschild angebracht und darauf der Name »Dr. A. Jendrowski« mit dem Zusatz »Rechtsanwalt« eingraviert.

»Rechtsanwalt?« fragte sich Hunter zweifelnd, meinte aber gleich darauf, daß Hedwig sich ja nicht unbedingt bei diesem befinden müsse, sondern ebensogut bei einer anderen Partei im Erdgeschoß oder den beiden anderen Etagen untergebracht sein könne.

Er überlegte, ob er ins Haus gehen und den Portier, falls ein solcher vorhanden, um Auskunft ersuchen solle, zog es dann aber vor, zunächst eine Orientierung durch das Adreßbuch zu versuchen.

In einem Restaurant schlug er nach.

»Jendrowski, A., Dr. jur., Rechtsanwalt, Altonaer Straße 14, I. Etage.«

Der zweite Teil des Buchkolosses nannte als weitere Bewohner des Hauses:

»Parterre: E. v. Wilkens, Geh. Regierungsrat, Hauseigentümer. – II. Etage: Alice Gräfin Regendank geb. Gräfin Dubsky.«

Hunter schlug das Adreßbuch zu und kam nach kurzer Erwägung zu dem Ergebnis, daß seine ehemalige Gattin kaum gräfliche Bekanntschaften und ebensowenig Beziehungen zu dem Herrn Geheimen Rat oder seiner Familie haben dürfte, dann aber der Herr Dr. Jendrowski allein noch in Betracht kam, falls nicht durch einen Irrtum Müllers alle Schlußfolgerungen hinfällig wurden.

Er begab sich sofort zu Bruchs und fragte schon von der Tür aus: »Kennen Sie einen Doktor Jendrowski?«

Der Doktor antwortete zustimmend.

»Allerdings. Rechtsanwalt. Auch für Wutschow.«

»Für den? Doktor, wir haben sie!«

»Hedwig?«

»Ihre Braut! Nirgendwo anders als bei diesem Anwalt ist sie ...«

»Warum vermuten Sie das?«

»Ich vermute es nicht mehr, ich weiß!«

Bruchs wollte es noch nicht glauben. »Der Mann steht in keinem guten Rufe«, wandte er ein.

»Gerade das paßt. Können Sie sich eine gute Familie im Verkehr mit diesen Wutschows denken? – Selbstverständlich: Sie machen eine Ausnahme, Sie wollen ja auch nicht die Alten, sondern die Tochter...«

»Jendrowski gilt als Anwalt für – sagen wir: für nicht ganz saubere Sachen...«

»Vortrefflich ... Ehrenwerter Rechtsbeistand für Krawattenmacher. Natürlich, da gehört auch Mr. Wutschow zu ihm. Wahrhaftig, die Madame ist weniger vorsichtig gewesen, als ich von ihr erwartet habe ...«

»Ja, woher wissen Sie das alles denn?«

»Von einem Augenzeugen, vom Kutscher Fritz Müller. Beste Quelle. Die ehrliche Haut hat's Maul halten sollen. Jetzt weiter: Was fangen wir an? Sollte dem Kerl nicht mit Geld beizukommen sein?«

Bruchs nickte.

»Das steht wohl kaum in Frage ... Darf ich aber aussprechen, was mich zunächst bedrückt?«

»Fragen Sie nicht lange. Heraus damit!«

»Die Sorge um Hedwigs Wohl. Ihre gestrige Erschütterung, der nächtliche Vorfall – ich fürchte, sie kann ernstlich erkrankt sein. Und da ist ein Arzt zu allererst nötig ...«

»Well. Weiter!«

Bruchs zeigte sich überlegt und entschlossen. »Die wohlhabenden Familien pflegen ihren Hausarzt zu haben; ich setze es auch bei Jendrowski voraus und werde zu ermitteln suchen, welcher von den Kollegen die Ehre hat. Erlauben Sie einen Augenblick ...«

Er blätterte in einem Notizbuch und fuhr nach kurzer Pause fort: »Das trifft sich. Nicht in der Altonaer Straße, aber in unmittelbarer Nähe praktiziert ein Studienfreund meines Vaters, der in der Gegend genau Bescheid weiß. Ich müßte mich sehr irren, wenn er uns nicht prompt sollte Aufschluß geben können.«

»Dann vorwärts, Doktor.«

Bruchs entfernte sich für eine Minute und kam im Mantel zurück.

»Kann ich Sie am Abend sehen?« fragte er.

»Bestimmen Sie ...«

Der Arzt nannte ein bekanntes Restaurant am Potsdamer Platz.

»Bitte, erwarten Sie mich dort, und verlieren Sie die Geduld nicht, auch wenn es später werden sollte. Ich komme auf jeden Fall.«

»Ich bin einverstanden. Gehen Sie gründlich vor; Ihre Patienten werden Sie einmal einen halben Tag entbehren können.«

Sie gingen eine Strecke zusammen, bis eine leere Droschke sie überholte, die von dem Arzt angerufen wurde und ihn rasch aus Hunters Gesichtskreis entführte.

Am frühen Abend stellte sich der Australier in dem verabredeten Restaurant ein und beobachtete interessiert das lebhafte Treiben und die vielen Liebespaare um sich her. Unter den Damen meist junge, frische Gesichter, unter den Herren neben jugendlichen solche mit faltiger Stirn und bereits mehr oder minder mondumglänztem Schädel. An allen Tischen aber die gleiche angeregte Unterhaltung bei Bier und Wein und von dem Kellner massenhaft herangeschleppten Speisen.

Auch Hunter ließ sich die Abendkarte reichen, wählte und fand die ihm vorgesetzten Gerichte schmackhaft, wenn auch nicht gerade für verwöhnte Gaumen.

Dr. Bruchs kam um die zehnte Stunde. Der hochgewachsene elegante Mann fand bei den Damen augenfällige Beachtung, für die er jedoch kein Interesse zeigte. Er übersah das langgestreckte Lokal mit raschem Blick und steuerte geradewegs auf den Australier zu, der des Beobachtens müde geworden war und sich eben ein Abendblatt hatte bringen lassen.

Bruchs begnügte sich, ehe er zu sprechen begann, mit einem bejahenden Kopfnicken.

Der Australier war befriedigt.

»Ja, Sie waren auf der rechten Fährte. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll ...«

»Erzählen Sie lieber ...«

»Sie werden sofort alles hören. Ein Pilsener, Kellner ... Also sie ist da. Sie ist auch, um das vorwegzunehmen, in ärztlicher Behandlung, und es geht ihr den Umständen nach gut, wenn sie auch das Bett hüten muß. Sie ist, wie wohl erklärlich, in hohem Grade erregt, flüstert, wenn sie sich unbeobachtet glaubt, Unverständliches vor sich hin und wendet sofort den Kopf der Wand zu, sowie jemand an ihr Lager tritt.«

»Sie sind ja vorzüglich unterrichtet«

»Mit Hilfe meines alten Gönners. Der Herr Rechtsanwalt Jendrowski ist ihm auch persönlich bekannt. Ich hatte kaum den Namen genannt, als der alte Herr auch schon ernst bemerkte: Ich will nicht hoffen, daß Sie mit dem zu tun haben. Ich beruhigte ihn und weihte ihn ein. Er ist mit dem Hausarzt Jendrowskis intim befreundet und kennt diesen als einen tüchtigen und gewissenhaften Kollegen, den er selbst nicht nur in schwierigen Fällen oft mit zu Rate zieht, sondern dem er auch seine eigene Familie bedingungslos anvertrauen würde. Wir suchten den Mann – sein Name ist Großheim – alsbald auf. Er teilte uns mit daß er der jungen Dame wegen bereits konsultiert worden sei. Ich konnte ihm wichtige Einzelheiten zur Krankheit Hedwigs schildern, das wird die fachgemäße Behandlung wesentlich erleichtern. Hedwig selbst war nicht zum Sprechen zu bringen gewesen; er hatte allerdings auch nicht in sie dringen wollen, um ihre Erregung nicht noch zu steigern. Ich bat ihn dringend, sie nochmals zu besuchen. Einen kurzen schriftlichen Gruß gab ich ihm mit: Sei beruhigt, mein Lieb, wir wissen, wo du bist, und wachen über dich – schrieb ich nieder, ohne Namen, für alle Fälle. Dann ging Doktor Großheim, und wir warteten seine Rückkehr ab.

Er kam nach einer Stunde und drückte mir die Hand. »Das war die beste Medizin«, versicherte er herzlich. Er hatte ersucht, ihn mit der Kranken allein zu lassen, und ihr dann wortlos den unscheinbaren Zettel in die Hand geschoben. Ein Blick darauf hatte ihr genügt. Sie hatte die Augen ihm vertrauend zugewandt, nach seiner Hand gefaßt und geflüstert, nun sei sie ruhig. Lieber Herr Hunter, eine riesengroße Sorge ist von mir genommen!«

Der Australier war dem Bericht mit Spannung gefolgt. Er hob seinen Schoppen und stieß mit dem Doktor an. »Auf das Wohl Ihres Kollegen ...«

»Beider«, ergänzte Bruchs. »Ohne meinen alten Freund hätte ich Großheims Vertrauen wohl nicht so leicht gewonnen.«

»Haben Sie Näheres über Jendrowski erfahren? Der Doktor Großheim müßte doch die beste Quelle sein.«

»Kollege Großheim war reserviert, wie es nicht anders zu erwarten war. Er legte auf die Praxis gerade in dem Haus ersichtlich keinen besonderen Wert, möchte sie, wie ich nach seiner geraden Natur vermute, wohl gar am liebsten aufgeben, hüllt sich aber darüber und über alles, was ihn nicht als Arzt angeht, in begreifliches Schweigen.«

»Und Ihr alter Freund?«

»Der macht aus dem, was er weiß, keinen Hehl. Außerdem ist Jendrowski in der ganzen Gegend ziemlich bekannt. Viel Rühmenswertes wird ihm nicht nachgesagt. Sein Büro befindet sich in der Charlottenstraße, indes hat er auch in der Privatwohnung täglich Sprechstunden, die namentlich von den vornehmen Klienten und verschiedenen, die Öffentlichkeit scheuenden Geldmännern besucht werden sollen. Zu seiner Kundschaft gehören auch die eigenen Hausgenossen, vermutlich nicht zu deren Vorteil. Wenigstens erzählt man sich ziemlich offenherzig, daß eine Gräfin, die im zweiten Stocke wohnt, durch ihn um den Besitz des Hauses gekommen sein soll und der jetzige Besitzer des Grundstückes, ein Regierungsrat, ebenfalls bald mit leeren Händen dastehen dürfte. Ich berichte ohne Gewähr, selbstverständlich; aber der Herr scheint mir jemand zu sein, vor dem man auf der Hut sein muß ...«

»Mit dem man aber auch reden kann!« fiel der Australier ein. »Mein lieber Doktor, man kann niemand an den Ohren fassen, der nicht in Armeslänge steht – an den Patron werden wir aber schon nahe genug herankommen. Der Halunke gefällt mir sogar ...«

»Mir nicht. Der wird aus Hedwigs Aufenthalt Kapital zu schlagen versuchen und sie mit Argusaugen überwachen.«

»Ach was! Der wird einfach sehen, auf welcher Seite ihm der beste Weizen blüht, und sich danach richten.«

»Da dürfte Frau Wutschow die Überlegene sein ...«

»Meinen Sie? Ich nicht.«

»Meine Mittel sind leider beschränkt.«

»Meine nicht ...«

»Die kann ich nicht annehmen.«

»Dazu werden Sie sich entschließen müssen. Lassen Sie alle Kleinlichkeiten beiseite, und gönnen Sie mir, einem Menschen mit meinem Mammon zu nützen. Ich habe sogar ein Recht dazu, wenn nicht Ihnen, so doch Ihrer Braut gegenüber...«

»Recht?« fragte Bruchs kurz.

»Lassen wir das!« Hunter suchte die unvorsichtige Äußerung zu bemänteln. »Ich habe die Mißhandlung des Mädchens lange genug beobachtet und bin gleichgültig daran vorübergegangen. Das muß ich gutmachen, und wo das Gutmachen eine Pflicht ist, da muß es selbstverständlich auch ein Recht sein. Aber wir diskutieren über Nebensächlichkeiten. Die Hauptsache ist, daß wir die Entführte entdeckt haben und daß durch den prächtigen Doktor Großheim eine zuverlässige Verbindung mit ihr hergestellt ist. Nun müssen wir warten, bis die Kranke genesen ist, und dann die Situation energisch ausnutzen. Die Madame hat unklug gehandelt, als sie das Mädchen weggab; jetzt soll es, geht es nach meinem Willen, nicht in ihre Gewalt zurückkehren.«

»Würde ich damit etwas gewinnen?«

Hunter sah den Fragesteller groß an. »Pardon, nein. Zunächst gewänne Ihre Braut. Die aber viel: die Freiheit. Würden Sie es über sich bringen können, sie in das alte Joch zurückzuführen? Soll sie da von neuem herumgehetzt werden, bis sie einmal dauernd Schaden davonträgt?«

»Mißverstehen Sie mich nicht«, bat Dr. Bruchs. »Meine Liebe zu Hedwig schützt mich vor allen selbstsüchtigen Wünschen...«

»Weiß ich, weiß ich. Wer die Schwiegereltern mit in Kauf nimmt!«

»Ich rechne aber mit den gegebenen Verhältnissen und stelle mir einen Fluchtversuch als bedenklich vor. Einmal: sie wird in ihrem Asyl überwacht ...«

»Den Rechtsanwalt überlassen Sie mir!«

»Ja, gut. Aber dann weiter. Selbst angenommen, sie entkommt: Wohin soll sie sich wenden? Wir leben doch in Deutschland, und wohin sie sich auch flüchten mag, überall muß sie ihren Aufenthalt bekanntgeben, muß sie sich bei den Behörden ausweisen, abmelden und anmelden. Das ist dann doch kein Verstecken mehr, und Frau Wutschow kann mit behördlicher Hilfe ihren Aufenthalt jederzeit feststellen.«

»Muß sie denn unbedingt in Deutschland bleiben?« unterbrach der Australier ruhig. »Lieber Freund, nicht überall in der Welt gilt ein Stück Papier mehr als der Mensch, und nicht überall muß man die Behörden gehorsamst um Genehmigung ersuchen, wenn man, mit Verlaub zu sagen, von einem Zimmer ins andere schielen will. Ich habe mit den Engländern nicht nur gute Erfahrungen gemacht. Aber die Einrichtung ist bei ihnen doch vernünftig, daß sie die, die nichts auf dem Kerbholz haben, auch unbehelligt leben lassen. Dorthin bringen Sie sie, in ein Pfarrhaus, in eine Gelehrtenfamilie, in ... die Wahl ist ja unerschöpflich. Und dort bleibt sie, bis sie mündig ist und ohne Gefahr zurückkehren darf. Punktum – basta!«

»Wenn sie einwilligt.«

»Sie wird sich nicht bedenken.«

»Kann sein. Vorläufig verkaufen wir aber doch das Fell des Bären ...«

»... und haben den Bären noch nicht. Ganz richtig. Bringen Sie mir die Nachricht, daß sie gesund ist, dann sprechen wir uns weiter ... Noch eins: Vorsicht, wenn Sie Briefe wechseln! Kennen Sie den Rotfuchs uns vis-à-vis?«

Bruchs sah zum ersten Mal nach den Nebentischen.

»Die Dame neben dem Kahlkopf? Nein!«

»Sie scheinen es ihr angetan zu haben ...«

»Ich habe nicht das geringste Interesse.«

»Ich auch nicht. Kommen Sie, lassen Sie uns ein Haus weiter gehen. Ich bin ohnehin abgespannt ...«


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