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Die Besuchszeit war noch nicht gekommen, als William Hunter der Neuenburger Straße zustrebte, um dem Doktor seinen Gegenbesuch zu machen. Aber mußte er diese abwarten, oder war der Arzt nicht jederzeit und für jedermann zu sprechen? fragte er sich. Gerade bei dem Arzt wollte er sich einer Ablehnung nicht aussetzen.
Die Uhr in einem Zigarrenladen am Halleschen Tor zeigte auf die neunte Stunde, als Hunter vorüberschritt. Er bog über den Belle-Alliance-Platz in die Lindenstraße ein, erreichte bald die Neuenburger Straße und stand nach wenigen Minuten vor dem Haus 14a. Ein Messingschild mit dem Namen des jungen Arztes zeigte dem Australier an, daß er die Nummer richtig behalten hatte. Im Parterre eine Verlagsbuchhandlung, im ersten Stock Wohnung und Büro eines Rechtsanwaltes, im zweiten Stock an der breiten Doppeltür wieder das Schild des Arztes, mit dem Zusatz: Sprechstunden 8-10, 3-5.
Eine ältere Frau öffnete ihm.
»Melden Sie mich dem Herrn Doktor.«
Er gab ihr seine Karte und folgte ihr in ein kleines Wartezimmer, in dem einer der schlichten Rohrstühle von einer ärmlich bekleideten Frau besetzt war, deren leidender Gesichtsausdruck deutlich genug die Kranke verriet
Dr. Bruchs trat sofort ein, verbeugte sich vor dem Australier, gab der Frau die Hand und wies sie in sein Arbeitszimmer.
»Ich bitte um Entschuldigung«, wandte er sich an Hunter. »Die Frau hat Mann und Kinder zu Hause und kann nicht lange fortbleiben. In einer Viertelstunde stehe ich zu Ihrer Verfügung.«
Der Australier nickte nur, trat ans Fenster und beobachtete das Treiben auf der Straße, bis Dr. Bruchs zurückkam und ihn zu sich bat.
Das Arbeitszimmer war einfach wie der Warteraum, wenn auch durch eine Chaiselongue und einige gute Bilder um ein weniges wohnlicher. Hunter warf nur einen flüchtigen Blick auf den eisernen, verstellbaren Operationsstuhl, dann setzte er sich und nahm sofort das Wort.
»Ich habe es eilig mit meinem Gegenbesuch, wie Sie sehen«, begann er. »Darf ich fragen, warum ich gestern abend nicht die Ehre Ihres Besuchs hatte?«
»Ich war zu meinem Bedauern verhindert.«
»Wodurch?«
»Gestatten Sie meine Entschuldigung ...«
»Wodurch waren Sie verhindert?« wiederholte der Australier ruhig.
Der junge Arzt lehnte sich gegen die eindringliche Frage auf. »Wollen Sie meine Entschuldigung nicht gelten lassen?« fragte er kühl.
»Nein«, erklärte Hunter energisch. »Im Hause Ihrer Braut ist gestern etwas vorgegangen, um das ich wissen muß. Haben Sie sich mit der jungen Dame entzweit?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Davon später. Antworten Sie mir.«
Bruchs schüttelte den Kopf. »Ein Streit mit Hedwig wäre undenkbar.«
»Aber das Mädchen leidet. Warum?«
»Sie leidet?«
»Ja, das sehe ich – wenn nicht Sie als Arzt ...«
»Sie war gestern gesund«, erwiderte Bruchs leise.
»War – war! Was ist vorgefallen?«
In dem männlichen Antlitz des Arztes zeigte sich eine plötzliche Spannung. »Ist Hedwig – krank?« fragte er langsam und suchte in den Zügen des Besuchers zu lesen.
»Ihre Braut leidet«, antwortete Hunter. »Noch nicht gefährlich, soviel ich davon verstehe. Aber Sie müssen sich kümmern um sie, heute noch, um Leib und Seele ...«
Der Doktor rang nach Atem. »Ich werde sogleich einen Kollegen bitten...«
»Was – wen? Sie kommen nicht selbst?«
»Wutschow hat mir das Haus verboten!«
Hunter fuhr auf. »Ach so! Warum?«
Bruchs zögerte mit der Antwort..
»Ich will es Ihnen sagen!« setzte Hunter wieder ein. »Weil Sie mich besucht haben. Ja oder nein?«
»Wenn Sie es denn wissen ...«
Hunter stand auf und stieß den Stuhl zurück.
»Sie sind nicht der Mann mit der eisernen Stirn, den Wutschow braucht. Aber ich! Und ich stehe jetzt auf Ihrer Seite! Ich habe es schon einmal getan; ich werde ihn die Faust zum zweiten Male fühlen lassen. Um Mittag sind Sie bei mir und stellen fest, was dem Mädchen fehlt. Gestern nacht...« Er erzählte zusammenhängend. »Auch eine Menschenblüte ist bald geknickt. Das versteht der dümmste Laie.«
Dr. Bruchs reckte sich auf. »Ich werde kommen«, erklärte er.
Hunter hielt sich nicht länger auf. In der Lindenstraße rief er eine Droschke an und fuhr heim.
In der Veranda stieß er auf Wutschow, der auf dem gewohnten Platz hockte, sich in Decken eingehüllt hatte, und ihm griesgrämig entgegensah.
Der Australier blieb dicht vor ihm stehen und grüßte ihn herausfordernd.
»Ergebenster Diener, mein werter Herr. Haben der Herr gut geruht?«
»Das geht Sie nichts an!«
»Aufrichtige Teilnahme«, versicherte Hunter. »Haben Sie nicht bedacht, wie leicht Sie bei Ihrer Gespensterjagd zu Schaden kommen könnten?«
Wutschow kniff die schmalen Lippen aufeinander und fixierte sein Gegenüber mit unsicherem Lauern.
»Gespenster?« wiederholte er.
»Haben Sie Watte in den Ohren?« fragte der Australier liebenswürdig. »In der Nacht haben Sie mich nicht gehört, weil Ihr schlechtes Gewissen lauter war als mein Lärm an der Tür – hat es sich immer noch nicht beruhigt? Zum Spukhaus gehören Gespenster – oder wollen Sie ableugnen, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe?«
»Waschlappen«, krähte er. »Nicht ganz richtig bei Ihnen.«
Er hob die magere Hand halbwegs gegen die Stirn und schob sie wieder unter die wärmende Decke.
»Wo ist Ihre Tochter?« herrschte der Australier.
»Geht Sie nichts an.«
»Wollen Sie Antwort geben?«
»Ich pfeife Ihnen was!«
Hunter packte ihn derb an den Schultern. »Bewahren Sie mich davor, daß ich mich an Ihnen vergreife! Ein Ruck, und Sie vergessen das Aufstehen. Wo ist Ihre Tochter?«
»Scheren Sie sich zum Teufel!«
Hunter hob den zappelnden Alten wie ein Spielzeug empor und schüttelte ihn, daß der morsche Anzug Wutschows in allen Nähten krachte.
»Wo ist Ihr Kind?« wiederholte er hart.
»Oben«, stieß Wutschow durch die gelben Zähne.
Der Australier drückte ihn auf seinen Sitz zurück.
»Endlich! Liegt sie?«
»Ich habe nicht nachgesehen.«
»Ist sie krank?«
»Ich bin kein Doktor ...«
»Sie sind ein ...« Er nannte ein derbes Schimpfwort. »Was ist vorgefallen gestern?«
»Den Kerl hab' ich rausgeschmissen!«
»Den Doktor?«
»Den Kerl!«
»Den Bräutigam Ihrer Tochter?«
»Das ist er gewesen!«
»Darum ist Ihr Kind krank?«
»Verrückt ist sie!«
»Was hat Ihnen der Mann getan?«
»Nichts, bewahre, ein Spion ist er!«
»Warum?«
»Ich komme von ihm. Aber von Ihnen will ich die Antwort. Warum?«
»Er maust in fremden Revieren ...«
»Ich verstehe. Bei mir. Das kümmert Sie nicht!«
»Was mich kümmert, muß ich allein wissen.«
»Ein Verrückter weiß nicht, was er tut.«
»Verrückt sind andere.«
»Sie werden die Ausweisung zurücknehmen!«
»Werde ich nicht!«
»Ich sage: Sie werden!«
»Ich werde den Teufel!«
»Er kommt heute mittag...«
»Ich werfe ihn die Treppe hinunter!«
»Erst mich, wenn ich bitten darf. Ich führe ihn!«
»Sind Sie der Herr im Hause?« keuchte er.
»Vielleicht mehr, als Sie denken! Oder sind Sie's?«
»Sie sind ein Maulheld!«
»Aber keine Memme. Krümmen Sie Ihrer Tochter ein Haar, und Sie bekommen es mit mir zu tun. Treten Sie dem Doktor einen Schritt entgegen, und Sie fliegen zehn zurück. Soweit mit Ihnen. Jetzt gehe ich zu Madame.«
Hunter warf den Pelz achtlos auf einen Stuhl und stieg die Treppe hinan.
»Madame ist doch oben?« fragte er über die Schulter zurück.
»Soll sie auf dem Dach hausen?« lautete die giftige Gegenfrage. »Wenn es nach Ihren Wünschen geht, wird es ja wohl noch soweit kommen!«
Hunter klopfte am Boudoir der Hausfrau und trat ein, ohne den Hereinruf abzuwarten.
»Ich habe die Ehre...«
Frau Wutschow trug ein elegantes, rotsamtenes Morgenkleid und saß am Fenster, die Zeitung lesend, in einem Sessel.
Hunters Kommen schien sie nicht gerade zu überraschen.
»Was steht zu Diensten, Herr William Hunter?« fragte sie kampfbereit.
Er suchte nach einer spöttischen Höflichkeit. »Ich wollte Madame gehorsamst um eine Unterredung bitten, falls ich nicht zu ungelegener Stunde kommen sollte.«
»Die Erlaubnis setzen Sie natürlich voraus?«
»Ich bin untröstlich, aber Sie haben recht.«
»Legen Sie sich keinen Zwang auf«, forderte sie.
»Sehr gnädig. Daß Sie sich des besten Wohlbefindens erfreuen, sehe ich. Darf ich mich erkundigen, wie es Ihrem Fräulein Tochter geht?«
»Wie kommen Sie dazu?«
»Ich habe so menschenfreundliche Anwandlungen, Madame.«
»Das ist mir neu.«
»Sehr richtig. Mir auch. Sie sind aber auch wirklich noch nicht sehr alt. Einige wenige Stunden erst. Eine Taube hat sich in einen Geierhorst verirrt, und das arme Ding hat mein Mitleid geweckt.«
»Zählen Sie sich auch zu den Geiern?« fragte sie ironisch.
»Ich hätte Sie eher für eine Eule oder Krähe gehalten.«
»Sehr viel Ehre für mich, Madame; denn wo die Geier wirtschaften, soll man ja selbst die Eulen und Krähen noch für vortreffliche Vögel halten.«
»Haben Sie das irgendwo gelesen?«
»Kann sein, wenn auch sonst das Schnüffeln in Büchern nicht meine Art ist und das Nachbeten auch nicht. Für die Taube interessiert sich übrigens noch jemand, und der läßt Ihnen seine Empfehlung bestellen.«
»Durch Sie, Herr William Hunter?«
»Durch mich, Madame.«
»Er war bei Ihnen? Er hat sich unter Ihren bewährten Schutz gestellt?«
»Ich habe den Herrn Doktor aufgesucht, gerade eben, und notdürftig erfahren, was ich zu wissen wünschte.«
»Und das ist?«
»Daß Wutschow ihm das Haus verboten hat.«
»Ja, und die Verlobung aufgehoben.«
»Ah, ich sehe, daß Sie unterrichtet sind und daß ich eine Dummheit begangen habe. Ich habe dem Doktor geraten, über den Kopf Ihres Herrn Gemahls hinweg sich an Sie zu wenden. Frauen sind einsichtiger, habe ich ihm gesagt, und Mrs. Wutschow gehört zu den ganz einsichtigen.«
»Sie sind der Wahrheit einmal nahegekommen – unabsichtlich natürlich.«
»Ganz meine Ansicht. Mrs. Wutschow wird den eigenmächtigen Schritt des Herrn Gemahls nicht billigen, habe ich...«
»Mein Mann handelte in meinem Sinne.«
»Wirklich? Wie man sich täuschen kann! Ich hatte wahrhaftig immer noch geglaubt Sie mehr zu den Pfauen als zu den Geiern zählen zu müssen, wenn ich das zoologische Bild noch einmal anwenden darf. Selbstredend nehmen Sie die etwas harte Verfügung zurück?«
»Handelt es sich um Ihre Tochter?«
»Leider nicht!«
»Was haben Sie denn da mitzusprechen?«
»Oh, nicht viel, Madame. Sie haben mich aber leider selbst hineingezogen. Der Herr Doktor hat mich besucht, hat bei mir ›spioniert‹, wie Ihre minderwertige Hälfte sich auszudrücken beliebte. Ich kann Ihre Frage wiederholen: Was haben Sie da mitzusprechen? Belieben Sie mir meinen Umgang vorzuschreiben? Wollen Sie mir Vorschriften machen?«
»Ihnen, Herr Mumm-Hunter? Es lohnt für mich nicht die Mühe, mich mit Ihnen überhaupt zu beschäftigen. Ich will von Ihnen weder hören noch sehen. Und am wenigsten soll mein Schwiegersohn den Zwischenträger machen. Das habe ich ihm gesagt, und danach hatte er sich zu richten, hatte er zwischen Ihnen und uns zu wählen.«
»So! Und die Entscheidung ist ihm schwergefallen?«
»Er ist ein eingebildeter Habenichts.«
»Aha, ich verstehe! Das Karnickel ist widerspenstig, will nicht parieren. So, so! Ich hätte ihn fast für zu glatt gehalten, um ihm so viel Rückgrat zuzutrauen. Wie man sich täuschen kann. Na, und weiter?«
»Die Partie ist nie nach meinem Sinn gewesen; ich habe ein rasches Ende gemacht.«
»Sehr richtig, Madame. Und Ihre Tochter?«
»Die hat sich zu fügen.«
»Liebt sie den Mann?«
»Mit Kindereien rechne ich nicht.«
»Nein, ist auch nicht zu verlangen. Ich würde an Ihrer Stelle ebenfalls so'n schmutzigen Geldsack und Geizdrachen, wie Ihre zweite Hälfte, dem Habenichts von Doktor entschieden vorziehen. Sein bißchen Latein nährt ihn nicht, und wenn er seinen besten Rock in die Speisekammer hängt, ist auch noch nichts Eßbares drin. Hat der Kerl am Ende gar auf die Mitgift spekuliert?«
»Wir geben unserer Tochter nichts mit!«
»Sehr vernünftig, Madame. Der Mammon ist doch nicht dazu da, um Menschen glücklich zu machen! Und Sie wollen doch keine Wohltaten säen, um Dank zu ernten. I wo, nisten Sie auf Ihrem Geldsack ruhig weiter. Das Bewußtsein muß ja beseligend sein, daß Ihr Nest erst ausgenommen werden kann, wenn Sie mal unter die Erde gescharrt sind. Glück, Liebe, Dankbarkeit – Hirngespinste!«
»Beliebst du mir endlich zu sagen, was du von mir wünschst?«
»Gleich, Madame. Nur nicht überstürzen. Mit Ihrem Herrn Gemahl war ich rascher fertig; mit Ihnen kommt man langsamer, aber endlich auch zum Ziel. Du wirst beachtet haben, daß ich bisher höflich war...«
»Außerordentlich!«
»Ich kann andere Saiten aufziehen.«
»Weiß ich aus Erfahrung!«
»Ich will mich kurz und sachlich zu fassen suchen. Was ich fordere, ist erstens: die Verlobung bleibt bestehen...«
»Nein!«
»Zweitens: Doktor Bruchs besucht heute nachmittag seine Braut und nimmt sie, wenn sie erkrankt ist, in Behandlung.«
»Niemals!«
»Ich bürge dafür! Ich! Verstehst du?«
»Ich bin nicht taub, aber auch kein willenloses Kind! Es bleibt bei meinem Nein!«
»Bei meinem Ja, Madame. Sie haben zwei Kinder unter die Erde gebracht, das dritte schütze ich.«
»Ein schöner Schutz.«
»Mag sein. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Besser als du zu sein wäre ein schlechter Ruhm. Hast du überhaupt noch menschliche Seiten?«
»Ja, wenn du den Haß dazurechnest!«
»Allerdings, und den Geiz. Das sind deine Tugenden. Reizende! Aber keine von beiden stört mich. Deine Habsucht ist mir gleichgültig, deinen Haß breche ich. Willst du dem Doktor den Weg zur Kranken verlegen, so werde ich ihn frei machen.«
»Über mich hinweg?«
»Wenn es sein muß.«
»Unser Gespräch ist beendet?«
»Nur fürs erste. Auf Wiedersehen in einer Stunde.«
Sie lachte schrill.
»Vortrefflich, Herr Mumm! Sie – sollen Ihre Freude haben! Ihre Freude, Herr Mumm!«
Ihr Lachen schlug noch an sein Ohr, als er die Tür bereits hinter sich geschlossen hatte.
Bald hinter dem Australier huschte Frau Wutschow über den Flur, riß die Tür zu dem öden Saal auf und stürmte über die Schutzbretter hinweg in Hedwigs Zimmer.
»Steh auf!« herrschte sie die bleich in den Kissen ruhende Tochter an. »Auf der Stelle! Hier, ich helfe dir ...«
Kein Wort kam über die Lippen Hedwigs. An allen Gliedern zitternd, erhob sie sich, legte mit den zitternden Fingern die Kleidungsstücke an und ließ sich willenlos von der Mutter helfen.
»So, jetzt den Mantel über. Warte auf mich.«
Sie stürmte zurück.
»Den Wagen, sofort!« raunte sie Wutschow von der halben Treppe herab zu.
William Hunter stand am Fenster, von dem er den Store zurückgezogen hatte, und wartete auf den Arzt. Mit Verwunderung sah er an der Seite des Hauses den Schimmel und bald die geschlossene Kutsche auftauchen. Die Schimmel tänzelten durch das Ausfahrtstor, die Passanten auf dem Trottoir blieben stehen, mit federndem Ruck setzte der Wagen auf den Straßendamm – und für ein paar Sekunden zeigte sich hinter der blinkenden Türscheibe das stolze Antlitz der Hausfrau.
»Ah, sie gibt Fersengeld!«
Hunter lachte grimmig und verächtlich.
Kaum eine halbe Stunde später erschien Dr. Bruchs und wurde von dem Australier auf der Veranda empfangen.
»Wie geht es Hedwig?« fragte der Arzt drängend.
Wutschow rieb sich in seinem Stuhl die Hände. »Gut, gut!« krächzte er.
»Kommen Sie, Doktor«, Hunter ging voran. »Die Gelegenheit ist günstig: Der Drache ist ausgeflogen«, suchte er zu scherzen. »Bitte, über die Bretter...«
Bruchs klopfte und öffnete sogleich. Mit einem freudigen Gruß trat er über die Schwelle, und mit einem Schreckenslaut blieb er stehen.
Das Nest war leer.
Der Ausruf lockte den Australier, der diskret zurückgeblieben war, in die Nähe.
»Was gibt's?« fragte er gespannt.
»Hedwig ...«, stotterte der Arzt.
Hunter hatte die Situation mit einem Blick überschaut.
»Überlistet! Dummkopf ich, daß ich darauf nicht gleich gekommen bin! Daß der Argwohn mich nicht gepackt hat, als ... Doktor, der Drache hat sein Opfer entführt. Ich habe ihn selbst gewarnt, als ich ihm Ihren Besuch anzeigte. Die Frau ist noch schlauer und energischer, als selbst ich ihr zugetraut habe. Und brutaler. Was gilt ihr die Kranke, was das Leben des eigenen Kindes! Aber Ruhe! Jetzt heißt es erst recht, kaltes Blut bewahren. Kommen Sie.«
Wutschows Augen funkelten in ungeheurem Vergnügen, als er die beiden unverrichtetersache zurückkehren sah.
Der junge Arzt trat bleich vor ihn hin.
»Wo ist Hedwig?« fragte er. »Um Gottes willen, sagen Sie es mir!«
Wutschows Lachen klang wie ein Wiehern.
»Hi – hi – hi – hi – fährt spazieren, Herr Bruchs, hihihi...«
Hunter nahm den Arm des Arztes.
»Lassen Sie den Idioten«, redete er ihm zu. »Ihr Fräulein Braut finden wir alleine wieder.«
»Polizei, hihihi«, spottete Wutschow hinter den beiden her, und das Lachen schüttelte ihn.
»Können wir uns wirklich nicht an die Polizei wenden?« fragte Bruchs aufgeregt.
»Nicht doch«, erwiderte Hunter entschieden. »Die würde eine Einmischung in Familienangelegenheiten höflichst ablehnen. Und etwas anderes liegt nicht vor. Die Mutter hat ihre Tochter aus dem Haus gebracht – nichts weiter. Die Spazierfahrt ist natürlich Unsinn. Zu Leide tun wird sie ihr auch nichts, sondern sie irgendwo in Pflege geben. In eine Pension vielleicht, vielleicht bei einem Arzt. Das ergründen wir im Augenblick beide nicht. Aber verschwinden lassen kann sie sie nicht, das mag Ihnen ein Trost sein. Wollen Sie ruhig nach Hause gehen und mir das Weitere überlassen, Doktor? Ich bin ein alter, harter Kerl und ein Egoist, der sich nach der ersten Begegnung mit Ihnen gleichgültig gegen Sie gezeigt und auch nicht die Kraft gefunden hat, eine Hand für das Mädchen zu rühren. Ich bin ein Kerl, der zuviel im Leben durchgemacht hat und abgestumpft ist. Aber ich bin noch nicht ganz ausgebrannt, und wenn ich warm werde, stehe ich noch immer meinen Mann. Kopf hoch! Ich setze mein Wort zum Pfand: Wir bleiben die Sieger! Und nun gehen Sie. Und kein Wort, keinen Blick für den Idioten! Ich wette, daß der selbst nichts weiß. Ein Mensch ist keine Sternschnuppe: ssst – weg, der Mensch klebt an der Erde, und da kriegen wir ihn. Wie – das ist in diesem Falle meine Sache. Selbstredend: Denken Sie ebenfalls nach, es ist Ihr Recht, und vielleicht schaffen ausnahmsweise auch mal zwei Köche was Brauchbares. Good bye, Sir!«
Dr. Bruchs zögerte und wollte die Rückkehr des Wagens abwarten.
»Nichts da!« wehrte der Australier ab. »Ich bleibe auf der Lauer und werde, kommt die Zeit, auch schon Rat schaffen.«
»Ob ich nicht doch versuchen soll, mit der Mutter zu sprechen?« fragte Bruchs zaudernd.
Hunter klopfte ihm auf die Schulter. »Wollen Sie sehen, wie sie Ihnen hochmütig davonrauscht? Nein, lassen Sie's gut sein, die packe ich besser an. Fort mit allen Ihren Bedenken, Doktor! Ich bin Ihr Bundesgenosse geworden, und Sie werden mit mir zufrieden sein. Good bye!«
Der Arzt ging endlich. Es war ihm nicht recht klar, was den Australier bewog, sich so sehr für ihn einzusetzen; aber er fügte sich.