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Zweites Kapitel

Der Australier wollte sich geradewegs in sein Hotel begeben, wurde aber zwischen der Kurfürsten- und Steglitzer Straße auf ein vorübergehendes Paar aufmerksam, weil die junge Dame hörbar schluchzte und von ihrem Begleiter, der auf sie einsprach, nicht beruhigt werden konnte.

Hunter stand eine Weile unschlüssig und sah dem Paar hinterher. Die Dame hing scheinbar schwer am Arm ihres Begleiters, löste sich aber, bei der Kurfürstenstraße angelangt, von ihm und trocknete sich die Augen. Der Mond, der sekundenlang aus den fliegenden Wolken getreten war, ließ den spiegelnden Zylinder des Herrn in der Silberflut aufschimmern. Der schlanke Mann stellte sich vor die Dame, nickte und hob ein paarmal die Hände wie zur Beruhigung oder Abwehr empor. Hunter konnte nicht vernehmen, ob er sprach, nahm es nach den lebhaften Gesten aber an und verharrte beobachtend, bis das Paar wieder Arm in Arm den Weg fortsetzte. Unwillkürlich lenkte er dann, den beiden folgend, die Schritte zurück und gewahrte von der Kurfürstenstraße aus mit einiger Verwunderung, daß die nächtlichen Wanderer gerade in dem Vorgarten des Hauses Nr. 100 verschwanden. Er eilte über den Fahrdamm auf die andere Seite der Straße und fand seine Beobachtung bestätigt, als er beide im Dunkel des schmalen Seitenganges links neben dem Hause wiedererkannte, wo sie eben voneinander Abschied nahmen. Die Dame hatte die Arme um den Hals des Mannes geschlungen, der sich leicht zu ihr herabgeneigt hatte.

»Ein Liebespaar?« murmelte Hunter, der sich hinter einem Lindenstamm versteckt hatte. »Und ausgerechnet in dem alten Spuknest? – Ah so, sollte das vielleicht das Fräulein vom Hause sein? Wahrscheinlich – oder nicht? Hm ...« Er sah nach der Uhr. »Bald eins – ein wenig spät für das Fräulein, wenn sie, hm ...«

Er blieb auf seinem Posten, als das Paar sich zögernd aus der Umarmung löste, dem Seitengang weiter folgte und an der Rückseite des Hauses um die Ecke bog.

Minutenlang sah und hörte der Lauscher nichts. Dann glaubte er in Abständen ein dumpfes Pochen zu vernehmen, das, je öfter es sich wiederholte, um so lauter wurde. Endlich folgte dem Klopfen ein unverständliches Sprechen, das den Lauscher über den Fahrdamm dicht vor die Villa lockte und ihn angestrengt horchen ließ.

»Es ist doch Ihre Tochter, Wutschow!« hörte Hunter durch das Dunkel. Und nach einer Pause: »Machen Sie auf, Wutschow, Hedwig kann doch nicht die Nacht über draußen bleiben.« Dann leises Bitten von einer zitternden Frauenstimme, entrüstetes, zorniges, stoßweises Schelten des Mannes – wieder Bitten, ein dumpfes Dröhnen wie vom Rütteln an einer Tür, kurzes, heftiges, bis zum Drohen sich steigerndes Drängen der Männerstimme und dann rasche, polternde Schritte eine Holztreppe hinab, dumpf über ungepflasterten weichen Boden. Der Australier zog sich an den alten Platz zurück und erkannte in dem Seitengang die Umrisse des Zylinderträgers. Der Mann schritt bis dicht an die Straße vor, kehrte auf den Fußspitzen geräuschlos um und sah gespannt um die Ecke. Das dauerte Minuten, bis er mit heftigem Ruck abermals kehrtmachte, an die Straße eilte und die eiserne Gitterpforte klirrend aufriß.

Hunter trat vorsichtig bis an die Häuserreihe zurück, tat, als ob er eben durch einen der Hausflure auf den breiten Bürgersteig getreten sei, und wandte sich lässig nach der Bülowstraße zu.

»He!« kam es ihm über den Fahrdamm entgegen.

Er blieb stehen.

Der Begleiter der Dame kam auf ihn zu, lüftete den Zylinder und fragte hastig: »Darf ich Sie um etwas bitten?«

»Wenn ich dienen kann, Herr ...«

»Ich brauche einen Schutzmann – meine Dame kann nicht ins Haus –, wollen Sie sich nach einem Beamten umsehen und ihn hierher dirigieren? Ich bitte ...«

Der Sprecher nestelte den eleganten Überzieher auf und zog seine Visitenkarte.

»Doktor Bruchs«, stellte er sich zugleich vor, und Hunter las im Scheine der Laterne, in deren Nähe sie standen, auf dem Karton: »Dr. med. Max Bruchs – Berlin SW, Neuenburger Straße 14a.«

»Schließt der Schutzmann auf?« fragte der Australier ruhig. »Nicht der Wächter?«

»Der Wächter nützt uns nichts«, entgegnete der Doktor erregt. »Der Schlüssel steckt – es soll nicht geöffnet werden –, der eigene Vater des Mädchens lacht uns von drinnen aus, verhöhnt uns ...«

»Der Herr Wutschow?« fragte Hunter.

»Ja, natürlich – kennen Sie ihn?«

»Nicht näher, Herr ...«

»Er hat seiner Tochter erlaubt, bis ein Uhr ein Vereinsfest mit mir zu besuchen; wir sind pünktlich zurück, aber inzwischen ist es ihm wieder leid geworden, daß er uns eine Freude erlaubt hat, und er sucht sich durch sinnlose Quälerei zu revanchieren.«

Der Blick des Australiers überflog den Mann, dessen ausdrucksvolles Gesicht eine erklärliche Erregung verriet. Die unter dem schwarzen Zylinderrande gerade aufsteigende hohe Stirn konnte auf Intelligenz und Energie deuten, die Weichheit der ebenmäßigen Züge auf Jugend, der nicht starke, aber gepflegte Schnurrbart auf Sinn für Ordnung und Eleganz. Die Kleidung war von modernem, tadellosem Sitz, die Haltung ihres Trägers straff männlich.

»Darf ich wissen, in welcher Beziehung Sie zu der Dame stehen?« forschte Hunter.

»Sie ist meine Braut.«

»Mit Einwilligung der Eltern?«

»Gewiß – aber seit wir verlobt sind, ist's dem wunderlichen Alten wider den Strich, und er treibt gegen uns, wo er es irgend vermag.«

»Hm ...«

»Meine Braut wartet – darf ich Sie um die Gefälligkeit bemühen?«

»Dazu bedürfen wir keines Schutzmannes ... Ich öffne selbst, wenn Sie erlauben.«

»Sind Sie Geheimbeamter?« fragte Bruchs unsicher.

»Kommen Sie.« Er ging dem Arzt voran, als ob ihm in dem dunklen Gang jeder Stein bekannt sei. Er bog, wie vorher das Liebespaar, um die Ecke, zog vor dem schluchzenden jungen Mädchen den Schlapphut und gewahrte hinter den Scheiben einer langgestreckten geschlossenen Veranda im matten Scheine einer Hängelampe den Besitzer des Hauses, der gemütlich seine Pfeife rauchte und belustigt dem sich draußen abspielenden Vorgange zusah.

Hunter stieg die Holztreppe hinauf, klopfte gegen die Scheiben der Tür und rief dem Hausherrn ein barsches »Öffnen Sie!« zu.

Wutschow nahm einen Moment die Pfeife aus dem Munde und starrte auf das neue Gesicht. Dann zog er den Kopf tief zwischen die Schultern, kniff die funkelnden Augen zusammen und paffte ungeniert weiter.

»Wollen Sie aufschließen?« fragte der Australier laut. Wutschow rührte sich nicht.

»Sie erreichen ebensowenig wie wir«, mischte sich von unten die Stimme des Arztes ein. »Bleiben Sie bei meiner Braut, ich hole andere Hilfe.«

»Überflüssig«, gab Hunter zur Antwort, faßte die Messingklinke, drückte mit dem hageren Körper gegen den mittleren Holzrahmen, daß es krachte, und stieß mit einem Ruck die Tür nach innen auf.

Gelassen wandte er sich nach dem Paar um.

»Ich bitte, meine Herrschaften!«

Das Mädchen flüchtete an dem Vater vorüber und verschwand im Halbdunkel auf einer nach dem ersten Stockwerk führenden Treppe, deren Holzstufen selbst unter ihren leichten Schritten knarrten.

Der Vater sah ihr wütend nach, ohne sich von seinem Platze zu erheben.

»Das soll Ihnen teuer zu stehen kommen!« knurrte er dem Fremden aufgebracht zu, der sich einen Augenblick selbstvergessen von der eingedrückten Tür aus umsah.

Hunter nickte nur.

»Ich werde morgen wiederkommen. Name, Adresse – das Nötige steht zu Ihrer Verfügung.«

»Wiederkommen?« spottete Wutschow. »Sie werden sich hüten!«

Der Australier schob die großen Hände in die Taschen des gelben Mantels und sah stumm auf den vor ihm Sitzenden herab. Der ergraute Kinnbart des Mannes war vernachlässigt; unter dem abgetragenen schwarzen Käppi hervor legten sich die Strähnen des Haupthaares unordentlich über den bestaubten Rockkragen. Die wäßrigen Augen lagen tief hinter buschigen Brauen, blauschwarze Ringe zogen sich um das untere Lid und tiefe Furchen von den Nasenflügeln nach dem Kinn. Der Mund war breit, die Haut der Lippen rauh und gesprungen, die leicht gebogene Nase an den Seiten eingefallen, die Stirn niedrig und breitgedrückt. Etwas Verbissenes, Lauerndes lag in dem Vogelgesicht und in dem Verhalten, mit dem der Alte die Musterung des Fremden über sich ergehen ließ.

»Sind Sie bald zu Ende?« fauchte er halb zwischen den Zähnen.

Der Australier zog die Türflügel zu und probierte. »Der Schaden ist nicht erheblich«, warf er flüchtig hin. »Der Riegel oben war nicht geschlossen, die paar Splitter unten sind nicht der Mühe wert.«

Er stieß mit seinem Stock den oberen Riegel in die Sicherung und prüfte das Schloß. Ungeniert drückte er auch den zweiten Flügel von innen zu, drehte den Schlüssel um und vergewisserte sich, daß das Schloß funktionierte.

»Die eine Nacht reicht das«, erklärte er. »Außerdem wird kaum jemand Lust verspüren, Ihnen in Ihrem Nest einen Besuch abzustatten. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Wutschow ...«

Er grüßte mit ruhiger Höflichkeit, als sei nichts vorgefallen, und wandte sich nach außen.

Erst als er bereits unten angelangt war, schien die Wut den Zurückgebliebenen zu packen. Wutschow sprang auf, griff nach einer Schale, die auf einem Blumentisch stand, und warf sie mit heiserer Verwünschung hinter dem Störenfried her, daß sie an dem Holzgeländer der Treppe klirrend in Stücke zerschellte.

Hunter blieb einen Augenblick stehen.

»Schlecht gezielt«, rief er gedämpft zurück und wiederholte:

»Auf Wiedersehen, morgen.«

Wutschow stampfte mit den Filzschuhen, in denen seine Füße steckten, auf, knirschte mit den Zähnen und drohte mit geballten Fäusten in das Nachtdunkel, als der Bräutigam der Tochter und der Fremde längst wieder die Straße erreicht hatten und in gleicher Richtung davonschritten.

»Wage es – wage es!« keuchte der aufgebrachte Haustyrann.

Der Arzt konnte seine Bedrücktheit nicht ganz verbergen. »Ich bin Ihnen Dank schuldig«, meinte er zögernd, »und wenn er nicht freier herauskommt: Sie werden es meinen Bedenken zugute halten, ob ich recht getan habe, einen Fremden – der sind Sie mir doch – in die Sache hineinzuziehen.«

»Ich glaube, gestern in der Nähe ein Café bemerkt zu haben – darf ich Sie einladen?« fragte der Australier ausweichend.

»Danke, wenn es Ihnen nicht zu spät ist ...«

»Ich habe manche Nacht durchwacht. Und Sie als Arzt werden ja auch mit dem Schlaf haushalten müssen ...«

»Meine Praxis ist noch nicht sehr groß, Herr ...«

Hunter nannte seinen Namen.

»Sind Sie englischer Herkunft?« fragte Dr. Bruchs.

»Nein.«

Hunter schwieg einige Sekunden.

»Deutschaustralier«, ergänzte er flüchtig. »Ich war früher einmal in Berlin und bin nun mit der Absicht hergekommen, meinen Wohnsitz hier ständig zu nehmen. Apropos, ich bin dem Zufall, der mich Ihnen zu Hilfe führte, dankbarer als Sie. Ich fürchte auch keinen Nachteil davon. Im Gegenteil ... Den Herrn Schwiegervater zu besänftigen, lassen Sie meine Aufgabe sein. Eine Frage: Könnte ich damit rechnen, das Haus Nummer einhundert käuflich zu erwerben?«

Der Arzt zuckte ungewiß mit den Achseln.

»Wutschow ist unberechenbar«, entgegnete er. »Ich habe nicht gehört, daß er zum Verkauf gegenwärtig geneigter ist als bisher. Aber was er zehnmal abgewiesen hat, nimmt er das elfte Mal in plötzlicher Umstimmung doch an. – Wollen Sie ihn, nach der etwas merkwürdigen Einführung, morgen wirklich aufsuchen?«

»Das Café linker Hand vor uns meinte ich. Es sieht respektabel aus ... Gefällt es Ihnen? Natürlich werde ich Seine Wunderlichkeit beehren, Herr Doktor. Sollte ich Sie den Vorfall allein ausbaden lassen? Ich werde besser mit ihm fertig als Sie, und Punkt elf Uhr morgen mittag bin ich bei ihm. Nach Ihnen, bitte ...«

Er schob den widerstrebenden Arzt in das Café und folgte ihm an einen Ecktisch, dessen Umgebung frei war, während ansonsten der teuer eingerichtete, weite, elektrisch beleuchtete Raum sich als ziemlich besetzt erwies.

Der Australier bestellte Grog, der Arzt Tee.

»Bei Ihnen im Busch dürften Sie einen minderen Luxus gewohnt sein«, warf Dr. Bruchs ein.

Hunter sah sich um. »Kaum«, erwiderte er. »Im Busch selbst sieht es wohl anders aus, in den Städten ziemlich gleich. Nicht überall, aber in den Spielsälen, in den protzigen Villen der Minenkönige. Weiß mit Gold. Die Farbabstimmung herrscht dort wie hier, an den Wänden, den Decken, den Türen. Die Gobelins, die Gemälde sind drüben eher gediegener. Die Beleuchtung, natürlich elektrisch, ist reicher. Ich werde, komme ich mit Wutschow überein, selbst bauen. Sie können dann den ›Busch‹-Geschmack näher kennenlernen.«

»Kaprizieren Sie sich gerade auf das Haus Nummer einhundert?«

»Wieso kaprizieren?«

»Läge es nicht näher, sich da niederzulassen, wo Sie, wenn Sie über reichliche Mittel verfügen, mehr Bewegungsfreiheit finden, zum Beispiel im Grunewald oder – mein Geschmack – am Müggelsee?«

Die Mienen des Australiers blieben undurchsichtig.

»Ich habe – kein tieferes Interesse, aber der Platz hier gefällt mir. Das Idyll der Wald- und Seelandschaft lockt mich nicht; ich liebe das Leben um mich, selbst den Lärm ...«

Ein Kellner brachte die bestellten Getränke, und Hunter schwieg einen Augenblick.

»Den Lärm«, fuhr er dann fort, »das Rollen der Arbeitswagen, der Bahnen, das Stoßen der Menschen. Meine Nerven sind daran gewöhnt und verlangen danach. Die Bäume lärmen nicht, und ein Landsee ist ebenso still. Sie als Arzt kennen das ja: Die Gewohnheit ist dem Menschen Gesetz. Was soll ich mich dagegen in meinen alten Tagen auflehnen? Der alte Fuchsbau von diesem Wutschow sagt mir zu, also werde ich ihn in meinen Besitz zu bringen suchen. Der Abbruch gibt Leben, der Neubau wieder, und habe ich dann noch ein paar Jahre vor mir, lärmt's auf der Straße weiter.«

Hunter zerrührte den Zucker in dem dampfenden Glas und wechselte das Thema.

»Die Nacht hat Ihren Schatz vor meinen Augen behütet, Herr Doktor. Jugend und Schönheit werden ja vereint sein. Lebt – die Mutter noch?«

Bruchs nickte zustimmend.

»Sie steht natürlich auf Ihrer und der Tochter Seite?«

»Ich erlaube mir, darauf nicht zu antworten«, erwiderte der Arzt etwas reserviert.

»Pardon!«

Hunter hob sein Glas. »Ihr Wohl und das der Braut!«

Bruchs dankte.

»Nichts für ungut. Ich bin – ich meine, der Zufall hat uns da verkettet, daß ein Interesse wohl erklärlich erscheint. Wie alt ist Ihr Fräulein Braut?«

Der Doktor lächelte. »Achtzehn.«

»Achtzehn«, wiederholte Hunter in Gedanken. »Sehr jung. Achtzehn und sieben – fünfundzwanzig – hm ...«

»Welche Rechnung beschäftigt Sie da?« fragte Bruchs aufmerksam.

Hunter hob den sekundenlang gesenkten Kopf und begegnete dem Blick des Arztes mit unveränderter Ruhe. »Eine einfache«, gab er zurück. »Die Achtzehn und Ihre Sieben mehr geben die Fünfundzwanzig. Bin ich im Irrtum?«

Bruchs hatte die Empfindung, daß seinen Begleiter die Zahlen in einem anderen Zusammenhang interessiert hatten, er behielt seine Gedanken aber für sich und erklärte nüchtern: »Sie ziehen mir vier Jahre ab.«

»Unter dreißig ein paar mehr oder weniger, darauf kommt es nicht an. Übrigens« – er zwang sich zur Heiterkeit –, »unser Abenteuer heute nacht werde ich nicht vergessen. War der Herr Wutschow immer so – wunderlich?«

»Wohl kaum«, erwiderte Bruchs. »Sie dürfen auch nicht alles glauben, was Sie vielleicht noch über ihn hören werden. Die Fama trägt manches zusammen oder umher, was Phantasie, Unverstand oder übler Wille aus der Luft gegriffen haben.«

»Kann sein«, bestätigte Hunter zerstreut. »Das Fräulein ist in dem Hause Nummer einhundert geboren?«

»Allerdings.«

»Das Haus soll, soviel ich nebenher erfahren habe, ehemals in anderem Besitz gewesen sein, freilich vor langen, langen Jahren. Ist Ihnen etwas von dem früheren Besitzer bekannt?«

Die Miene des Fragestellers war angespannt, wenn er auch sein Interesse zu verstecken suchte.

Bruchs schüttelte den Kopf. »Herr und Frau Wutschow sind nicht mitteilsam, und meine Braut wird nichts wissen. Wir haben niemals darüber gesprochen.«

Hunter lehnte sich wie abgespannt zurück. »Darf ich Sie besuchen?« fragte er. »Vielleicht interessiert es Sie, wie es mir in der Höhle des Löwen ergeht. Ich selbst bin begierig, wie er meinen Vorschlag aufnehmen wird.«

»Sie reflektieren also ernstlich?«

»Im Ernst. Selbst wenn ich teurer kaufen soll als an anderer Stelle.«

»Versuchen können Sie es ja.«

»Einen Erfolg versprechen Sie mir nicht?«

»Nach dem Auftritt vorhin – offen gesagt: nein.«

»Ich brauche nicht zu rechnen, Herr ...«

»Wutschow dürfte in derselben Lage sein.«

»Der Streit ist fruchtlos, Herr Doktor. Also darf ich Ihnen Bericht erstatten?«

»Ich kann Ihnen nur dankbar sein.«

»Well. – Zahlen! Gestatten Sie ...?«

Dr. Bruchs lehnte die Begleichung seiner Rechnung höflich ab, und der Australier ging flüchtig darüber hinweg.

»Ich habe Sie zwar eingeladen – aber nach Ihrem Belieben. Führt Ihr Weg Sie noch ein Stück in meiner Richtung? Ich wohne im Bayrischen Hofe.«

»Ich muß früh auf dem Posten sein und ziehe es vor, eine Droschke zu nehmen.«

Hunter grübelte. »Neuenburger Straße? Gegend der Lindenstraße?« forschte er.

»Sie sind gut orientiert ...«

Hunter erhob sich, und der Arzt folgte sogleich. Vor der Tür schüttelten sie sich die Hände.

»Nochmals meinen Dank«, sagte Bruchs konventionell.

Hunter wehrte ab. »Sagen wir auf Wiedersehen!« schloß er, geleitete den Arzt zu einer in der Nähe haltenden Droschke und ging langsam, zuweilen gestikulierend und unwillkürlich den Schritt verhaltend, dann wieder in abgerissenem Selbstgespräch den Weg fortsetzend, die Potsdamer Straße hinauf nach der Friedrichstadt.

Am Hotel zog er heftig die Klingel.

»Neun Uhr, Tee, Rum, Eier, Roastbeef zum Frühstück«, trug er dem verschlafenen Hausdiener auf, stieg die Treppe empor und riegelte die Zimmertür hinter sich ab.

Er entzündete kein Licht, sondern kleidete sich hastig aus und warf sich aufs Lager. Schlafen konnte er nicht.

Von den Laternen der Friedrichstadt fiel ein unruhiger Schein in das Kabinett, spielte an den hell tapezierten Wänden und traf auf ein Ölbild, dessen Figuren sich im matten Gaslicht zu beleben schienen.

Hunter starrte eine Zeitlang mit geweiteten Augen darauf, glaubte bald die Gestalt des Arztes verschwommen zu erkennen, bald eine üppige Frau mit schönen, kalten Zügen, sah schließlich das Bild sich in die Veranda mit dem grinsenden Gesicht Wutschows verwandeln. Er schlug verärgert die Decke zurück, erhob sich schwerfällig und tastete am Fenster nach einem Vorhang, dessen Rot in starkem Kontrast zu den weißen Tüllgardinen stand.

Der Australier ließ die schon ausgestreckte Hand unentschlossen sinken und starrte auf das Rot. Die dünnen Lippen zuckten ihm.

Er schüttelte sich wie vor Kälte.

Hunter tastete sich zurück, streckte sich abermals hin und träumte mit geschlossenen Augen, bis die erregten Nerven sich beruhigt hatten.

Dann faßte er energisch nach der Schnur und zog.

Der Vorhang ließ kein Licht mehr durch, und das Kabinett lag in schwarzer Nacht.

Erst ein anhaltendes Pochen von der Tür her weckte ihn am Morgen.

»Well«, antwortete er mit trockener Kehle, verharrte regungslos und horchte mit noch dämmernden Sinnen.

Im Nebenzimmer schien ein Stubenmädchen mit dem Aufräumen beschäftigt zu sein.

»Lang, lang ist's her«, sang sie zu ihrer Arbeit.

»Lang ist's her?» wiederholte Hunter halb wach. Long, long ago – long ago, ahmte er unwillkürlich nach.


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