Bertha von Suttner
Eva Siebeck
Bertha von Suttner

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VIII.

Die Tage folgten einander in ziemlich einförmiger Weise.

Das erste Frühstück nahm Jeder auf seinem Zimmer. Um halb zwölf gemeinschaftliches Gabelfrühstück; um sechs Uhr Diner. In der Zwischenzeit Arbeiten, Lektüre, Musik, Spazierfahrten. Nach dem Speisen bis zum Thee blieb man gewöhnlich beisammen im Park.

Robert war eigentlich beständig draußen. Die alte Gräfin Siebeck bewunderte den Fleiß, welchen ihr Enkel im Betrieb der Landwirthschaft an den Tag legte. Eva widersprach dem nicht, obwohl sie wußte, daß von der Zeit, welche Robert außerhalb zubrachte, durchaus nicht der größte Theil der ökonomischen Arbeit gewidmet war, sondern zumeist der Rehpürsche und Spazierritten. Auch hatte sie erfahren, daß ihr Mann öfters das Dorfwirthshaus besuchte und dort mit dem Förster, dem Praktikanten und dem Thierarzt zechte. Das erste Mal, als sie von diesem Umstand hörte, versuchte sie – eingedenk des ihr von verschiedenen Seiten übertragenen Erziehungsamtes – eine leise Vorstellung.

»Es muß doch sehr ungesund sein, lieber Robert, so untertags den sauren Wein zu trinken – und welche Anregung kannst Du in jener Gesellschaft finden?«

Da aber ward er zornig:

»Hörst Du – Predigten kann ich entbehren, und Einmischungen und Kontrole dulde ich nicht ... Ich thue und lasse, was mir beliebt.«

»Ich meinte es doch nur zu Deinem Besten –«

»Zu Deinem Besten wird es sein, merke Dir das ein für alle Mal, wenn Du Dich nicht kümmerst um das, was Dich nichts angeht.«

»Robert! Was in aller Welt soll mich denn näher angehen als das Wohl und Wehe meines eigenen Gatten?«

Er zuckte mit den Achseln:

»Was das für fade Phrasen sind,« murmelte er und ging aus dem Zimmer – geradewegs in das Wirthshaus, wo er diesmal ein paar Stunden länger blieb als gewöhnlich.

Ralph pflegte nur bei den beiden Hauptmahlzeiten sichtbar zu sein, die übrige Zeit verbrachte er auf seinen Ausgängen oder in seinem Studirzimmer. Fast schien es, als ob er Evas Gesellschaft miede; wenigstens suchte er nicht mehr, wie am ersten Tag, sich mit ihr in eine abgesonderte Unterhaltung einzulassen, »um sie kennen zu lernen«, sondern zog in seine Gespräche immer die anderen Anwesenden mit. Dennoch hatte jedes direkt an sie gerichtete Wort einen so freundlichen Klang und war von so liebkosendem Blick begleitet, daß sie jedesmal, wenn er zu ihr sprach, ein warmes Zutrauen überkam – eine angenehme, tröstliche Ueberzeugung, daß wenigstens Einer im neuen Heim ihr aufrichtige Neigung entgegenbrachte. Zwar konnte sie über das Benehmen der alten Gräfin keine Klage erheben, dennoch wehte sie – trotz aller Freundlichkeit – eine gewisse Kälte von jener Seite an. Fräulein Ottilie belustigte sie; fast jedes Wort, das von des alten Fräuleins Lippen fiel, war eine gelungene Leistung unfreiwilligen Humors. Dr. Hartung war ein heiterer, amüsanter Mensch, und besonders komischen Eindruck machte die Art seines Verkehrs mit Ralph Siebeck, wobei Beide im Scherze den Ton von Mentor und Schüler anwendeten. Der Hofmeister der beiden Jünglinge verhielt sich sehr bescheiden und still – er sprach beinahe gar nichts. Von den Knaben selber sah Eva tagsüber nur wenig und dieselben gebahrten sich ihr gegenüber ziemlich unvertraut. Mit Robert hingegen waren sie auf sehr gutem Fuße, ihm erzählten sie gern ihre militärischen Zukunftsträume und fragten ihn um seine vielbeneidete Offizierszeit aus. Gewöhnlich zogen sie ihn, wenn die ganze Gesellschaft versammelt war, in eine entferntere Ecke des Salons oder des Gartens,, und bei Tisch mußte er am untern Ende zwischen ihnen beiden sitzen.

Die meiste Ansprache fand Eva von Seiten Irenens. Diese suchte sie oft in ihrem Zimmer auf, erbot sich als Begleiterin zu den Spaziergängen, spielte mit ihr vierhändig, – aber eine rechte Vertraulichkeit, ein echtes Genügen konnte sich zwischen den Beiden doch nicht einstellen. Dazu waren sie zu verschieden beanlagt, zu verschieden erzogen. Von den höheren geistigen Bestrebungen, von den etwas schwärmerischen Idealen, welche Evas Sinne erfüllten, war bei dem jungen Mädchen keine Spur. Dann hatte sich auch eine Schranke aufgerichtet, und seit dem Tage, da ihre Cousine sie in Thränen überrascht hatte, sprach Eva mit derselben nie mehr etwas, was auf ihre ehelichen Verhältnisse sich bezog; sie vermied es, den Namen Roberts auszusprechen, und wenn Irene versuchte, sie um ihr Glück oder Unglück auszuforschen, gab sie keinerlei Antwort oder lenkte sofort ab. Diese auffällige Zurückhaltung verletzte Irene einigermaßen, und auch sie wurde weniger mittheilsam – wenngleich nicht weniger lebhaft.

Ungefähr zehn Tage nach dem Dürenbergschen Besuche fuhren die beiden Gräfinnen Siebeck nach Dornegg, den Besuch zu erwidern – »die Herrschaft« war jedoch selber ausgefahren. So bekam Eva diesmal das Nachbarschloß nur von außen zu sehen. Dasselbe in seiner windsorähnlichen Bauart, in seinen Größenverhältnissen, in der Pracht seiner Auffahrt machte den Eindruck eines wahrhaft königlichen Wohnsitzes.

Kurze Zeit nach diesem verfehlten Besuche kam aus Dornegg eine Diner-Einladung an. An dem bestimmten Tage war die alte Gräfin jedoch etwas unpäßlich, und sie ließ sich entschuldigen. Irene war zufällig abwesend – mit Fräulein Ottilie behufs Toilette-Einkäufen nach Wien gefahren –, so blieben nur drei Personen, um der Einladung Folge zu leisten: Ralph, Robert und Eva.

Die Speisestunde war sechs. Demgemäß machte man sich um halb fünf auf den Weg. Robert zog vor, zu reiten. Eva nahm auf dem Kutschirwagen an der Seite ihres Schwiegervaters Platz, welcher selbst die Zügel führte. Unter dem Regenmantel trug sie einen ihrer schönsten Gesellschaftsanzüge, denn bei Dürenberg – so hatte die Großmama ausdrücklich gemerkt – «gehe es immer großartig her.

Eva freute sich auf dieses Diner und freute sich der Fahrt. Der Weg nach Dornegg führte fast durchgehends durch den Wald; das Wetter war entzückend, alle Fluren in üppigstem Blumenschmuck, die Luft mit um so süßeren Düften gefüllt, als es in der vergangenen Nacht geregnet hatte. Es war doch eine schöne Sache, auf diesem schmucken Wagen, von einem Paar feuriger Jucker gezogen, durch die schöne Landschaft dahinzusausen, einem so schönen Ziele, wie das Fürstenschloß Dornegg, entgegen und an der Seite des lieben König – –

Es überkam sie ein Gefühl intensiver Lebensfreude, über welches sie selber staunen mußte. Sie sah doch ein – erst gestern beim Einschlafen hatte sie es recht lebhaft empfunden –, daß sie eigentlich nicht glücklich, nichts weniger als glücklich war, daß sie das Schicksal getroffen, welches doch eines der traurigsten ist, dem ein Weib verfallen kann: eine verfehlte Ehe. Doch in diesem Augenblick war ihr das Verständniß für das Beklagenswerthe ihrer Lage abhanden gekommen. Was ihr Inneres durchfluthete – was die ganze sommerliche Umgebung erfüllte – war Fröhlichkeit, war jugendkräftiger Daseinsgenuß. Wie hinreißende Tanzmusik klang ihr das rings erschallende Lerchengezwitscher, zu welchem der rhythmische Trab der acht Pferdehufe den Takt gab. »Woran denkst Du, Eva?« fragte Ralph, nachdem er seine Schwiegertochter einige Male seitwärts angeblickt. »Um Deine Lippen spielt ein so heiteres Lächeln –«

»Ich denke – denke an gar nichts, König. Die Fahrt ist so schön, ich freu' mich nach Dornegg –«

»Mit anderen Worten: Du bist glücklich?«

Auf diese Frage wollte Eva keine bejahende Antwort geben. Unter dem Begriffe »Glück« stellte sie sich nicht ein momentanes Freudengefühl vor – und sei es noch so heftig –, sondern einen dauernden, durch das Zusammenwirken aller Lebensumstände gesicherten Zustand.

»Du zögerst? Du kannst nicht Ja sagen? Armes kleines Weib. Du warst doch so recht geschaffen zum Glücklichsein.

»Sind wir das nicht Alle?«

»Wenigstens erheben wir Alle Anspruch darauf; besonders in der Jugend. Später lernt man, sich bescheiden, man lernt, auf positives Glück verzichten. Dem positiven Unglück bleibt man freilich immer ausgesetzt. – –« »Hast Du etwa einen Kummer, König?«

»Ich? Ja.«

Eva verstummte. Daß sie kein Recht habe, den Anderen weiter auszuforschen, fühlte sie wohl.

Auch Ralph blieb eine längere Weile ohne zu sprechen. Dann, mit unbefangenem Tone, wie um den Eindruck des Vorhergegangenen zu verlöschen, machte er eine Bemerkung über die Gegend oder dergleichen und hielt während des Restes der Fahrt eine harmlose Unterhaltung aufrecht.

Eine Stunde später waren die Glieder der Dürenberg'schen Familie und ihre Gäste in dem großen Empfangssaal versammelt. Eva war von der Pracht der Umgebung geblendet. Dornegg übertraf Großstetten in demselben Verhältniß, wie letzteres die Provinzstadt-Wohnung übertraf, welches Evas Jugendheim gewesen. Treppenhaus, Hallen, Säle: überall das Maximum von Reichthum und Großartigkeit. Der Raum, in welchem jetzt die Gesellschaft die Meldung des Diners erwartete, hatte Dimensionen wie ein Kirchenschiff. Die zwanzig oder fünfundzwanzig Personen, welche da in verschiedenen Gruppen saßen und standen, waren ganz verloren in dieser weiten, mit allem erdenklichen Luxus eingerichteten Halle.

Hier, inmitten solcher königlichen Herrlichkeit machte die Fürstin Dürenberg einen viel ehrfurchtgebietenderen Eindruck auf Eva, als letzthin in Großstetten. Hier zeigte sie sich so recht als das, was sie seit 30 Jahren war: eine tonangebende Herrscherin der höchsten Aristokratie des Landes. Die junge Frau fühlte sich der Fürstin gegenüber gehoben und gedemüthigt zugleich. Gehoben in dem Bewußtsein, daß sie als »zur Gesellschaft« gehörig, auf dem Fuße der Gutsnachbarlichkeit, sozusagen als Gleichgestellte aufgenommen war; gedemüthigt in der Gewißheit, daß die Fürstin in ihrem Innern sie für nichts weniger als gleichgestellt betrachtete – daß sie im Grunde auch nichts weniger war als dieses. Sie selbst zwar von vornehmer Abstammung – aber in beinahe ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und jetzt an einen Mann verheirathet, dessen Mutter eine Bäuerin gewesen... Diese letztere Idee hatte sie bisher noch niemals peinlich berührt gehabt; aber hier, wo Alles um sie herum von Fürstenkronen zu schimmern schien, wurde ihr mit einem Male die ganze Mangelhaftigkeit ihres gesellschaftlichen Ranges klar. Alle von der Fürstin Dürenberg ihr erwiesene große Freundlichkeit erschien ihr nunmehr als ebenso große Herablassung, und sie begegnete derselben ziemlich zurückhaltend.

Nicht minder freundlich – ja sogar stürmisch liebenswürdig – zeigte sich ihr die Gräfin Liuba. Nach den ersten Begrüßungen und Betheuerungen, wie sehr sie bedaure, den vorigen Besuch versäumt zu haben, nahm sie Eva an der Hand und zog sie auf einen Sitz neben sich:

»Ach –« begann sie, diese Ausrufungssilbe in russischer Art – d. i. als ob sie mit doppeltem ch geschrieben wäre – »ach! wie ich froh! Sie sind so sympathisch – eine solche Schönheit ... ich bin närrisch von Ihnen. Fragen Sie meine belle-maman; seit wir in Großstetten gewesen, spreche ich immer von Eva Siebeck. Wir müssen Freundinnen werden... Wenn ich Jemand liebe, so liebe ich von ganzem Herzen – ach wir werden uns so viel zu sagen haben! Sie müssen mir die Geschichte von Ihrem Leben erzählen, und ich erzähle Ihnen die meine... Dann muß ich Ihnen meine Thiere alle vorstellen. Sie lieben die Thiere, nicht wahr? ... Die sind viel treuer als die Männer... Sie sind noch eine zu junge Verheirathete, um das zu wissen – aber, glauben Sie mir – die Männer sind alle schlecht und die Pferde alle gut.«

So ging das noch eine geraume Weile fort. Oefters wollte Eva ein Wort anbringen, sei es, um eine Frage zu beantworten, sei es, um für die Schönheiten zu danken, mit welchen die mittheilsame Russin sie überschüttete, doch sie fand keine Gelegenheit dazu, so unaufhaltsam sprudelte der Andern Rede.

In einer entfernten Ecke des Salons führte der Hausherr das Wort. Um ihn herum stand eine Gruppe älterer Herren, darunter auch Ralph Siebeck. Doch unter all den kahlen Köpfen, ergrauenden Bärten und behäbigen Gestalten nahm Siebeck mit seinem dichten schwarzen Haar, mit seinem biegsamen Wuchs sich aus wie ein junger Kandidat vor einer Prüfungskommission von alten Professoren.

Liuba zeigte nach jener Ecke und machte auf den Kontrast aufmerksam.

»Ihr beau-père ist doch merkwürdig. Ich kenne ihn schon mehrere Jahre, und er ändert sich nicht ... Immer reizend und so grand seigneur, so thourough gentleman

(»So ein Edelmann und edler Mann, verdeutschte Eva in Gedanken.)

»Ich gestehe Ihnen, daß ich närrisch bin von ihm. –«

»Ach wirklich? Sie – –«

»Ja, ja – wie denn! Ich werde Ihnen Alles anvertrauen. So bin ich: mein Herz auf der Hand. Wenn mir Jemand einflößt Vertrauen, dann habe ich kein Geheimniß mehr... Aber nicht jetzt, später einmal sollen Sie meine confidences hören.«

Unterdessen entwickelte Fürst Dürenberg ein politisch-ökonomisches System; brachte allen nationalen Hader Zum Ausgleich; reformirte das Unterrichtswesen nach den gesunden alten Grundsätzen einer streng christlichen Moral; säuberte das Land von aller volksaussaugenden Judenwirtschaft; festigte die Monarchie gegen jegliche auswärtige Gefahr durch energische Steigerung der Wehrkraft zu Wasser und zu Lande; und eben wollte er sich daran machen – so gewiß als Zugabe –, alle Schwierigkeiten der sozialen Frage aus der Welt zu schaffen, als die Thür des Speisesaales geöffnet wurde.

Die Hausfrau nahm den Arm des ältesten und zugleich vornehmsten Gastes und gab Ralph ein Zeichen, ihre Schwiegertochter zu führen.

»Wie denn! Wie denn!« rief Liuba lebhaft, als Antwort auf Siebecks: »Darf ich?«

Gleichzeitig war auch Robert mit gebogenem Arm herbeigeeilt, mußte aber vor seinem Vater zurücktreten.

»Wie fad!« brummte er. »Du, Eva,« flüsterte er seiner Frau zu, nachdem das Paar vorausgeschritten, »gieb Acht: uns blüht eine Stiefmutter.« Jetzt kam auch Evas befohlener Tischnachbar daher, und Robert mußte dem Wink des Hausherrn Folge leisten, der ihm ein Komteßchen von fünfzehn Jahren zur Partnerin anwies. Dazu drückte Roberts Gesicht wieder deutlich seine Lieblingsredensart aus: Wie fad!«

Die Kunst des »Schönlebens« – le beau-vivre, wie im Französischen die Lebensführung der reichsten Klassen heißt – äußert sich besonders charakteristisch in der Anordnung – man könnte sagen in der Feier – der Hauptmahlzeit. Einen solchen Aufwand, wie derselbe an der Dürenberg'schen Tafel herrschte, sah Eva an diesem Tage zum ersten Mal. Blumengewinde auf dem Tischtuch, Blumengewinde von dem Lustre herab in geschwungenem Bogen an die Aufsätze befestigt, Silberschüsseln und – zum Nachtisch – Teller und Besteck von Gold; vor jedem Gast eine Garnitur regenbogenfarbiger Glaser, darunter einen Kelch mit einem Blumensträußchen; jede Speise ein malerisch aufgerichtetes Kunstwerk; die seltensten Früchte, die kostbarsten Weine; lautlose Bedienung durch eine Schaar von Lakaien – der Haushofmeister in würdevoller schwarzer Tracht an ihrer Spitze – kurz, die ganze Dekoration war so recht geeignet, die vorhin abgebrochene Abhandlung über das soziale Elend des Weiteren zu erörtern, was Fürst Dürenberg nach der Suppe auch zu thun sich herabließ:

»Wie ich also zuletzt bemerkte, die allgemeine Unzufriedenheit ist eine Folge der Ungenügsamkeit. Man bringe das Volk nur wieder zu den bescheideneren Ansprüchen früherer Zeiten zurück; man erziehe den Bauer so, daß er Bauer bleibe, nämlich sein Feld bestelle und nicht nach den Städten dränge, was nur maßlose Genußsucht und Lasterhaftigkeit zur Folge hat, – oder nach den Fabriken, wodurch die Ueberproduktion entsteht und wo die gewissenlosen jüdischen Fabrikbesitzer den armen Mann aussaugen – mit einem Wort, man hebe die unglückseligen Irrthümer auf, die ein blinder Liberalismus begangen hat: man schaffe einfachere, gesundere Zustände und das Elend wäre aufgehoben. Als noch die Robot herrschte, war das Volk bei Weitem glücklicher als jetzt. Damals gab es keine Sozialdemokraten. Wer auf dem Lande lebte, für den sorgte mit väterlicher Umsicht der Gutsherr, und wer in der Stadt geboren war, und dort ein ehrliches Handwerk betreiben wollte, der war sicher, von seiner Zunft aufrechtgehalten zu werden, und da gab es auch keine Großindustriellen, welche das kleine Gewerbe todtdrückten, kurz –«

»Kurz«, fiel Ralph Siebeck ein; »vor ungefähr zwölf Stunden war es früher Morgen, die Sonne ging rosig auf, die Luft war frisch und würzig, die Flur bethaut; jetzt hingegen ist es schwül draußen, die Sonne droht unterzugehen. Schicken Sie doch gefälligst einen Diener in den Thurm hinauf, daß er die Uhr auf fünf Uhr früh zurückrichte, da wird es gleich wieder frisch und morgenröthlich werden.«

»Mein lieber Siebeck, Ihr Vergleich hinkt. Das Zurückrichten der Zeiger hat auf den Lauf der Zeit keinen Einfluß – aber das Zurechtrücken politischer Einrichtungen liegt in den Händen der Gesetzgeber.« »Daß mein Vergleich hinkt, gebe ich rückhaltlos zu, Durchlaucht. Jedoch in anderer Richtung, als Sie hervorzuheben belieben. Die Unmöglichkeit einer effektiven Rückwärtsbewegung ist durch meine – übrigens schon oft gebrauchte Parabel ganz richtig illustrirt. Ebensowenig, wie das Uhrwerk auf Ihrem Schloßthurm, können die Gesetzgebungen die Zeit machen, sie zeigen dieselbe nur an. Wo aber besagter Vergleich erbärmlich hinkte, das ist da, wo er auszudrücken schien, daß so wie der frische Morgen schöner ist, als der schwüle Nachmittag, daß die vergangenen Epochen schöner und lieblicher waren, als die gegenwärtige, und das wollte ich durchaus nicht gesagt haben.«

»Und gerade das wäre das einzig Richtige an Ihren Allegorien gewesen, denn wahrlich, die Gegenwart ist gar unheimlich schwül.«

Siebeck wollte noch etwas erwidern, aber seine Nachbarin Liuba fiel ihm ins Wort:

»Ach, um die Liebe Gottes – wie Sie langweilig! So lassen Sie doch,« fügte sie leiser hinzu, »lassen Sie den beau-pére seine Parlamentsreden ruhig einüben und reden wir von angenehmeren Dingen. Für was alle diese Dispute? Die Welt geht doch wie der gute Gott will.«

Warum machte es Eva einen unangenehmen Eindruck, daß sich Ralph zu Liuba hinüberbog und leise Worte zu ihr sprach? Robert hatte mit großem Unwillen auf eine Möglichkeit hingedeutet, welche auch sie mit Unwillen erfüllte – jedoch nicht aus demselben Grunde. Ihr Mann hatte wahrscheinlich an das zu schmälernde Erbe gedacht – und sie? ...

Nach Tisch forderte Liuba ihre neue Freundin auf, mit in ihre Zimmer zu kommen – sie wolle ihr ihre Lieblinge vorstellen und eine »bonne causerie« genießen. Dazu – zu einer vertraulichen Plauderei – fühlte sich Eva gar nicht hingezogen; die lebhafte Russin flößte ihr nicht das mindeste Vertrauen ein; aber selbstverständlich: was konnte sie auf den freundlichen Vorschlag anderes erwiedern als: »Mit größtem Vergnügen!«

Liubas Zimmer spiegelten – wie dies Zimmer häufig zu thun pflegen – die Eigenthümlichkeit ihrer Herrin deutlich wieder. Reich, nachlässig, launenhaft, sehr » grande dame«, flattersinnig, kunstliebend, thierfreundlich, eitel, bigott, verliebter Natur – alle diese Züge, welche Liubas Charakterphysiognomie bildeten, fanden hier in Wahl und Anordnung der Einrichtungsgegenstände ihren Ausdruck.

Im Schlafzimmer das große mit einem von Amoretten gehaltenen Himmel überdachte Bett; ein Rokokoputztisch mit silberfunkelndem, dem Toilettenraffinement dienendem Werkzeug; ein hoher Ankleidespiegel; schwellende Sitzmöbel; Vorhänge und Wandverkleidung aus spitzenverschleiertem rosa Atlas und dazu in einer Ecke ein strenger dunkelfarbiger Betschemel mit Heiligenbildern und ewig brennendem Oellämpchen. In dem andern Zimmer – dem eigentlichen Wohngemach – noch bunteres Durcheinander: Staffeleien, Stickrahmen, Modellirtisch, Ruhebett, Puffs, Fauteuils in allen Formen und allen Farben, ein Pianino mit einer aufgeschlagenen Operrettenpartitur auf dem Pult, kleines mit Bronze und Email geziertes Schreibtischchen, Blumenvasen, Nippes, Rauchgeräthe, herumliegende, halb aufgeschnittene französische Romane mit Titeln wie: » Une Page d'amour«, » Amours criminelles«, » Folle d'amour« und dergleichen; ein Papageienhaus, in welchem auf seinem Messingring ein Kakadu sich schaukelt, ein zweiter Käfig, in dem ein ganz kleiner Seidenaffe an den Gefängnißstäben rüttelt, auf dem Boden verschiedene weiche Kissen, die für Darling, Tresor und Galubka – die drei regierenden Favorit-Hündchen – als Ruhelager dienen; eingelegte, geschnitzte, vergoldete Kasten und Kästchen, in deren sammetgefütterten Schubladen vermuthlich allerlei Pretiosen ruhen; an einer Wand ein lebensgroßes Bild, welches die Besitzerin darstellt – eben im Begriff ein englisches Pferd zu besteigen; mit der einen Hand hebt sie das Reitkleid ein wenig empor, um das bestiefelte Füßchen in den Bügel zu setzen; mit der anderen hält sie den Sattelknauf.

Als Liuba und Eva dieses Gemach betraten, stürzten ihnen Darling, Tresor und Galubka mit lärmendem Gebell entgegen.

»Schweigt, schweigt, meine Seelchen – meine Schönheiten, schweigt!« befahl die Herrin auf Russisch.

Zugleich hub der Kakadu ein schrilles Schreien an, wobei er seinen gelben Schopf wie einen Fächer auf- und zuklappte, und der Affe spielte sich mit verstärktem Kerkergitter-Rütteln auf den freiheitsdurstigen Staatsgefangenen hinaus; kurz, es herrschte im ersten Augenblick ein Heidenlärm. Indessen ein paar Machtworte der Gebieterin stellten die Ruhe bald wieder her.

»So, und jetzt, liebe Gräfin Siebeck,« – sie wies mit der Hand nach einem Fauteuil, der neben der Chaiselongue stand, auf welchem sie sich selbst niederließ, – »setzen Sie sich daher, und ich hier auf meiner gewohnten »Couchettka«, da können wir plaudern.« Sie zog aus ihrer Tasche eine goldene Cigarettenkapsel und reichte sie Eva hin. »Ihnen gefällig?«

»Nein ich danke – ich rauche nicht.«

»Nicht rauchen? ... Das müssen Sie lernen – ganz bestimmt – ohne Rauchen lebt man nur halb.« Und sie steckte ihre Cigarette in Brand. »Ach – Sie schauen das Bild dort an, das bin ich, als junges Mädchen ... und das Pferd war das erste, das ich geritten, die gute alte Lady-Bird – hat ihren Pensionsstall auf meiner Besitzung im Gouvernement Kiew. Wie oft habe ich das edle Thier abgemalt ... Sehen Sie dort an der Wand, den Pferdekopf – das ist auch die Lady-Bird – erkennen Sie sie nicht?«

»Ja,« sagte Eva, »es ist dasselbe Gesicht, nur mit etwas lächelnderem Ausdruck.« In der That, das von Liuba gemalte Thier schaute so verschmitzt drein, als ob es eben im Begriffe wäre, mit den Vorderhufen Rübchen zu schaben.

»Und diese Photographien an dem Paravent, das ist die ganze kaiserliche Familie – die meisten mit eigenhändigem Namenszug. Der Kaiser ist der Pathe von meinem Sohn. Ach, den kennen Sie noch gar nicht?« Sie klingelte. »Sergey Gugowitsch!« befahl sie der eintretenden Kammerfrau.

»Sergey Gugowitsch njetu« (nicht da), lautete die Antwort.

»Nicht? – Auch gut!« Und sie winkte die Dienerin wieder ab. »Mein Sergey ist fast den ganzen Tag im Walde. Der Doktor hat es befohlen. Mir hat der Doktor auch große Fußtouren befohlen – aber ich folge ihm nicht – ich hasse, zu gehen. Reiten – ja ... aber jetzt sind meine zwei Reitpferde unwohl, da kann ich nicht hinaus und nehme, gar keine Bewegung. Das macht mich noch nervöser ... ich werde mich im Monat August behandeln müssen – vielleicht in den Wassern von Vichy oder Scheveningen Sie haben gar keine Idee, wie ich bin nervös! Oft ich muß so bitter weinen, ohne zu wissen warum – dann knie ich vor meinem Heiligen und bete, bete, daß die Seele überfließt, und er erhört mich und schenkt mir Ruhe. Er ist ein sehr guter Heiliger, der Alexander Newsky – was man von ihm ordentlich verlangt, das bekommt man; der ist mein Liebling, den sollten Sie auch adoptiren. Ach so, ich vergaß: Sie sind ja nicht orthodox. Mein Sergey ist auch nicht orthodox, und das kränkt mich – aber der gute Gott ist ja für Alle da, nicht so? Und der Unterschied ist so klein zwischen unseren Religionen, nicht so? Sie müssen einmal nach Petersburg kommen – ganz bestimmt. Die Großfürsten werden sein alle ganz närrisch von Ihnen. Ach – ein Ball im Winterpalast – es ist féerique ... Lieben Sie tanzen? Ich tanze so viel, bis ich hinfalle, müde, selig. Tanzen und reiten, das sind große Freuden, Und lesen ... lesen Sie viel? Ich nur von Liebe – ein Buch ohne Leidenschaft ist gar kein Buch: Il n'y a que ça! Das ist die Glorie des Lebens: für die Männer der Krieg, für uns andere Frauen die Liebe.«

Noch lange ging es in diesem Tone fort. Kaum daß Eva hier und da ein Wörtchen anbringen konnte; unaufhörlich sprudelte der Andern Redequell, hastend, von einem Gegenstand zum andern so unvermittelt überspringend, daß die nothwendig vorhergegangene Ideenverknüpfung unmöglich sich errathen ließ.

Alles, was sie da hörte, berührte Eva im höchsten Grade befremdend und neu. Es ward ihr ganz schwindlig dabei. Welche Lebensgeister in dieser Frau doch sprühten, welche Heftigkeit in allen ihren Neigungen, in ihrem Fühlen – dabei aber wie klein und seicht in ihrem Denken. Ja, leidenschaftlich war sie – aber, mit dem gleichen Feuer entbrannte ihre Begeisterung für die Schutzkraft des Lieblingsheiligen Alexander Newsky, wie für das Modegenie des Pariser Schneiders Worth. In Zichy – o wie süß malte er kaukasische Bilder – bewunderte sie das Malertalent ebenso rückhaltlos, wie sie von dem »süßen gelben Schopf« ihres Kakadus entzückt war. Ach – der herrliche Bariton Faures und der göttliche Wellenschlag des Ozeans in Dieppe – auch die Austern so deliziös ... In der Blumenschlacht von Nizza hatte ihr Wagen einen Preis davongetragen: das war doch einer der schönsten Siege ihres Lebens gewesen; aber am herrlichsten war es doch, wenn sie auf ihre Besitzung im Gouvernement Kiew kam, und alle ihre Bauern den Saum des Kleides küßten: »Mütterchen, Mütterchen, Gott mit Dir!«

Alle diese Bilder hatte Liuba in einer Viertelstunde, ohne Athem zu schöpfen, an ihrer verblüfften Zuhörerin vorbeiziehen lassen, dann sprang sie auf.

»Ach!« rief sie, »wie gut es sich plaudert mit Ihnen! Jetzt kennen wir einander, als kennten wir uns seit vielen Jahren – nicht so? Aber ich darf Sie nicht langer aufhalten; gehen wir in den Salon zurück, Ihr junger Gatte wird schon Sehnsucht haben nach Ihnen ... Ist der jetzt immer so still? Sein Vater ist viel lebhafter – ein herrlicher Mensch, unser Ralph ... gehen wir – gehen wir – diese Herren werden sonst böse.«

»Unser Ralph« – – Um ihr Leben gern hätte Eva die Gräfin Dürenberg gefragt, wie weit Ralph »der ihre« war, doch es fehlte ihr der Muth dazu. Es war ihr überhaupt nicht möglich, zu der quecksilberhaften Russin Vertrauen zu fassen, jetzt, nach diesem Besuch noch weniger als zuvor.

Im Salon wurde Eva von der alten Fürstin in Beschlag genommen, und von ihrem Platze aus konnte sie sehen, wie in einer Fenstervertiefung, von allen Andern getrennt, Liuba und Ralph eine halbe Stunde lang in eifriges Gespräch vertieft blieben. Robert stand in einer Gruppe von aus dem Nachbarstädtchen herübergekommenen Kavallerie-Offizieren und unterhielt sich mit diesen ausschließlich von Pferden, wenigstens hörte Eva, die öfters hinüberhorchte, nichts Anderes, als Sportausdrücke.

Nachdem der Thee herumgereicht worden, gab Ralph das Zeichen zum Aufbruch. Die Hausleute trugen eindringlich an, daß Siebecks die Nacht in Dornegg bleiben und erst am folgenden Tag nach Hause fahren mögen; aber dieser Antrag wurde dankend abgelehnt –: auf Uebernachtung hatte man sich nicht vorbereitet, und der Vollmond gewährte ganz genügendes Licht.

»Wir müssen oft zusammenkommen,« sagte Liuba beim Abschied zu Eva, »wir verstehen einander so gut! Und Sie, Graf Ralph Siebeck, vergessen Sie nicht, daß Sie zwischen zwei und vier Uhr bei mir immer finden können eine Tasse Thee.«

Auf dem Rückweg faß Eva wieder auf dem Kutschirwagen neben Ralph, während Robert auch wieder vorgezogen hatte, zu reiten.

»Wie hast Du Dich unterhalten?« fragte Ralph, nachdem der Wagen aus dem Schloßhof ausgefahren.

Es war in der That eine prachtvolle, vom hellsten Mondlicht durchfluthete Sommernacht, von duftbeladenem, lauem Windzug durchfächelt.

»O köstlich, köstlich!« rief Eva tief aufathmend. »Das heißt – diese Nacht finde ich köstlich und diese Fahrt – nicht die stattgehabte Unterhaltung.«

»Und wie fandest Du diese?«

»Das kann ich nicht recht sagen, König ... Ich erhalte jetzt so viele und so fremdartige Eindrücke auf einmal, daß ich mir selber nicht Rechenschaft geben kann über die Empfindungen und Gedanken, die mich nun erfüllen. Es sind auch gar zu wechselnde Gefühle: bald froh, bald traurig ... ich komme mir so unerfahren, so nichtig vor. Was weiß ich von der Welt im Allgemeinen, was von der großen Welt, in die ich da versetzt bin? Ich habe ja bisher in so einfachen Verhältnissen gelebt, alle diese fürstlichen Herrlichkeiten blenden mich und drücken mich nieder. Solcher Reichthum, solche Vornehmheit ... Dieser Liuba gehört ja von der Krim bis Ostende und quer darüber, von Biarritz bis Petersburg, die ganze Welt und was für eine? überall die höchste, verfeinertste, während ich ... Andererseits, König, Liubas Welt ist doch wieder eine kleinere Welt als diejenige meiner Jugendträume, als diejenige, welche mir so hohe Ziele zu enthalten schien, – ach, ich drücke mich ungeschickt aus ... aber ich glaube, daß Jener doch so vieles, vieles fehlt, von dem ich glaube, daß das Leben ... siehst Du, ich kann die Worte nicht finden, um zu sagen, was ich meine.«

»Ich verstehe Dich, Kind, mein armes Kind.« Er sprach es mit weicher Stimme.

»Ja, Du, König – Du bist der Einzige in dieser mir neuen Umgebung, von dem ich glaube, daß – schon wieder fehlen mir die Ausdrücke.«

»Der Einzige, der an das Verständniß Deiner Ideale hinanreicht, willst Du sagen?«

»Hinanreicht? O, sie weit überflügelt. Ich glaube, Dein Geist ist mit Dingen erfüllt, von welchen ich keine Ahnung besitze. Das habe ich aus dem Inhalt Deiner Lieblingsbücher gesehen, in welchen ich geblättert, ohne sie verstehen zu können; das habe ich aus manchen Deiner Aeußerungen herausgehört, welche Du fallen ließest, wenn Du mit dem Fürsten – oder mit Andern – über große, allgemeine Fragen sprachst. Da wollte ich am liebsten zu Dir gehen und Dich bitten: unterrichte mich, belehre mich.«

»Du bist ein liebes Mädchen.«

»Mädchen? Ich wollte, ich wäre es.«

»Das wollt' ich auch ...«

Darauf schwiegen Beide.

Zu Hause angelangt, half Ralph seiner Schwiegertochter vom Wagen herab und drückte einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn.

»Gute Nacht,« sagte er. »Robert wird wohl schon hier sein – der Reitweg ist kürzer.«


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