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Bucklige Welt.

Meine Urlaubsreisen schlagen den Grundsätzen der Perspektive ins Gesicht: Je weiter ich von ihnen entfernt bin, desto kolossaler scheinen sie mir, und wenn sie mir näherrücken, dann schrumpfen sie immer winziger ein. Es ist noch mein einziger Trost, daß es wahrscheinlich vielen anderen Leuten auch so geht.

Heuer zum Beispiel prahlte ich mir schon im Frühjahr etwas von einer Herbstfahrt nach Venedig vor, die aber in der Hitze des Sommers zum Plan eines längeren Aufenthalts auf dem Semmering zusammenschmolz und schließlich die greifbare Gestalt eines »ganztägigen« Ausfluges in das Gebiet zwischen Pitten, Aspang und Gloggnitz, die sogenannte Bucklige Welt, annahm.

Weit draußen im Südosten der Stadt, gegen St. Marx zu, liegt still und verborgen, wie Dornröschens Schloß, in einer Sackgasse ein Bahnhof. Die Fahrpläne dieses Verkehrsunternehmens, die einzig in der »lokalen« Abteilung des Eisenbahnkursbuches ein veilchenhaftes Dasein führen, las ich mit ziemlichem Mißtrauen und war an jenem Septembermorgen ehrlich erstaunt, als »mein« Zug tatsächlich zur angegebenen Stunde in die schöne, weite, flache Welt hinausdampfte.

Obwohl die erschienenen Fahrgäste kaum zahlreicher waren als die Waggons, aus denen das »Zügle« bestand, so steckte man uns doch, jedenfalls zur Hebung der Geselligkeit, alle miteinander in einen einzigen Wagen dritter Klasse. Bessere Leute, Reisende ersten und zweiten Ranges, waren überhaupt nicht zu sehen. So hatte ich Gelegenheit, tiefe Einblicke in das Gemütsleben von sechs oder sieben Angehörigen unserer glorreichen, noch alleweil gemeinsamen Armee zu tun, die zu geheimnisvollen, für die Erhaltung des Dreibundes und des europäischen Friedens aber unbedingt notwendigen Übungen nach einem malerischen Punkte des romantischen Steinfeldes kommandiert waren. Ihre Uniformen und Waffen waren zwar von verschiedenen Farben und Gestalten, jedoch durchaus gleichmäßig verwahrlost. Ein unausgeschlafenes, verdrossenes Gesicht, rotgeäderte Augen und einen Duft von unvollständig verdauten geistigen Getränken hatte ebenfalls einer wie der andere. Bald wurden sie etwas munterer und erzählten nun einander, es war Montag, ohne jede Heimlichtuerei die Erlebnisse der Sonntagsnacht. Dabei kamen immer gewürztere, pikantere Einzelheiten zutage, so daß ich endlich errötend meine Ohren schloß und meine Aufmerksamkeit zuerst der Landschaft, dann, als diese keinerlei Abwechslung zeigen wollte, den Coupéwänden widmete. Ich hatte es nicht zu bereuen, denn ich entdeckte etwas, was ich noch auf keiner Eisenbahn entdeckt hatte – unter Glas und Rahmen einen nett gedruckten, genauen und ausführlichen »Preistarif für Schadenersatz an der Personenwageneinrichtung«. Aus diesem fesselnden Kulturdokument erfuhr ich, daß für ein zerbrochenes Fenster in der dritten Klasse zwei Kronen zu entrichten seien, während in der ersten und zweiten, wie billig, ein um zehn Prozent kostbareres Glas verwendet wird; daß nicht nur Aschenschalen und Banklehnen, Spiegel und Gepäcksnetze, sondern sogar die hoch oben in der Mitte der Decke befindlichen Verglasungen der Coupélampen ihren festen Preis haben, um den man sie nach Belieben in Scherben hauen darf – Nachlässe, Abonnements und Freidemolierungsscheine gibt es vorläufig noch nicht. Trotzdem muß es schon jetzt manchmal recht animiert zugehen auf dieser Strecke.

Als die Ebene ein Ende nahm und die Berge von beiden Seiten herantraten, entfernten sich die lebenslustigen Krieger, die inzwischen einen ganzen Dekameron zum besten gegeben hatten. Dafür füllte ein anderes Publikum den Wagen, Vergnügungsfahrer gleich mir, teils aus Wien, teils aus Neustadt. Mir gegenüber nahm ein Ehepaar mit vielem Gepäck, Schachteln und Koffern, Taschen und Täschchen Platz, eine Dame mit unheimlich nichtssagendem Gesicht, weder hübsch noch häßlich, nicht alt und nicht jung, und ein Herr, dem die urwienerische Abkunft auf jedem Schnurrbarthärchen geschrieben stand. Er lehnte sich sofort in die Ecke, faltete die brillantengeschmückten Wurstfinger andächtig über der weißen Weste, ließ die erkaltete Virginierzigarre aus dem Mundwinkel hängen und war eingeschlafen, ehe wir uns wieder in Bewegung setzten. Sie aber wandte ihr Interesse dem Kleeblatt älterer, durcheinander redender und alles mit dem dummen Staunen ganz naiver Seelen bewundernder Frauen zu, das die andere Seite der Bankreihe einnahm. Willkommenen Anlaß, sich ins Gespräch zu mengen, hatte sie bald gefunden, und nun plauderten sie zu viert. Ich suchte mein Reisehandbuch hervor; da schlug eine Rede an mein Ohr, die mich aufhorchen machte.

»Vorig's Jahr,« sagte die Gemahlin des Entschlummerten, »war'n m'r in Mailand und in Florenz und in Loretto.«

Ich lächelte natürlich. Aber Lügnerin war die Dame keine. Was sie ihren dankbaren Zuhörerinnen weiter erzählte, war kraus und einfältig, trug aber durchaus den Stempel des Erlebten.

»Aufs Fruahjahr möcht'n m'r nach Ägypten, i und mei Mann,« schloß sie ihren Bericht.

»Marandanna!« schrien die drei entsetzt auf. Und die dickste von ihnen fragte: »Da muaß ma übers Schwarze Meer, gel'n S'?«

»Das waß i net,« versetzte jene gleichmütig. »Du, Schani! Er hört net, er hat in der Fruah a Bier 'trunken, und das tuat eahm ka Guat. No, mir lassen uns ja Prospekte zuaschicken vom Cook und vom Schenker, da steht all's genau drin, da gibt's ka Verirr'n.«

Die Hörerinnen schwiegen voll Ehrfurcht. Nach einer Weile beugte sich eine von ihnen zum Fenster hinaus:

»Ah, da is's schön! Dö hochen Felsen! Und das G'schloß durt ob'n! Oder is's epper a Kirchen?«

»Ja, a Kirchen wird's sein,« meinte die zweite.

»Wahrscheinli der Schneeberg mit'n Elisabethkircherl,« die dritte.

Die Weitgereiste aber, der sich sechs fragende Augen zukehrten, sagte:

»Könnt's net sag'n. I war selber erscht vorige Wochen am Schneeberg – mir machen jetzt a Tour durch ganz Niederösterreich und Steiermark, i und mei Mann – aber von unt' schaut si' die G'schicht glei ganz anderscht an. Könnt's faktisch net sag'n.«

Und was war's in Wirklichkeit? Wenn ich es nicht erlebt hätte, so würde ich es wohl nicht glauben: Es war auf nahem Hügel die stattliche Burg Seebenstein!

Während ich noch mit meiner Verblüffung rang, schlug der Herr mir gegenüber die Augen auf:

»San m'r scho' dader?«

»O naa,« beruhigte ihn seine Ehehälfte.

»No, es is nur, daß m'r net 's Aussteig'n versaamen und Straf' zahl'n müassen.«

»Wo wollen Sie denn aussteigen?« fragte ich ihn.

»In Aschpang.«

»Da brauchen Sie nicht ängstlich zu sein,« lachte ich.

»Wiaso?«

»Na, weil die Bahn doch nicht weiter fährt. In Aspang hört ja das Gleis auf.«

»So? No alsdann, dös is g'scheit. I dank' schön,« sagte der Ägyptenfahrer höflich und rückte sich zu neuem Schlummer zurecht …

O, du bucklige Welt! dachte ich grimmig, als ich eine halbe Stunde später auf einsamer Landstraße die erstarrten Glieder rüttelte. Da gäbe so mancher ein gutes Stück seines armseligen Lebens dahin, könnte er die Länder seiner Sehnsucht, das blaue Meer, die ewigen Gletscher, die redenden Steine berühmter Baudenkmale nur auf Stunden vor sich sehen, könnte er Eindrücke und Erfahrungen sammeln, die ihm daheim in der Tretmühle des Berufs und im Stall der Familie für immer versagt sind, und verdiente vielleicht ein besseres Los, und wird schließlich ein Stubenhocker und Philister. Der geborene Stumpfsinn aber, der auf der Fahrt schnarcht, Seebenstein mit dem Schneeberg verwechselt und keinen Fahrplan, geschweige denn eine Landkarte zu entziffern vermag – der hat Italien bereist und kann sich auch Ägypten »leisten«!

Freilich, die schwerbeladene, endlose Obstallee der Gloggnitzer Straße, die weiten Wiesen mit purpurn verblühenden Disteln und scharf duftender Minze, die lichten Buchen- und dunkleren Nadelforste an den Hängen sind ja auch ganz schön. Und unter der grauen, breitästigen, wenn auch nicht, wie die Lokalpatrioten behaupten, just tausend-, so doch vielhundertjährigen Linde auf dem Hauptplatz von Kirchberg wäre ich gern bis zum Abend gesessen.

Aber ich »mußte« ja weiter.

Mein nächstes Ziel war die Paßhöhe, die Wasserscheide zwischen Wechsel- und Semmeringgebiet, wo ein wohl mit Recht gelobtes Wirtshaus steht. Aber heute hatte ich es schlecht getroffen. Lange Zeit saß ich an meinem Tische und hoffte umsonst, es werde mich jemand nach meinen Wünschen fragen. Einem zweiten Gast, nach seiner ebenso dauerhaften wie unschönen Kleidung, der gefurchten Denkerstirn, der goldgefaßten Brille Gymnasialprofessor oder dergleichen, ging es ebenso, und wir wechselten enttäuschte, schmerzliche Blicke. Wirt und Wirtin standen bei einer verspäteten Sommerpartei und erzählten, blind und taub vor Eifer, wie Seine Hoheit der Prinz, der diese Gegend öfter beehrte, vorgestern auch in der Paßherberge eingesprochen und ein Glas saure Milch zu trinken geruht habe.

In allen Tönen der Begeisterung wurde sein Lob gesungen. Der Professor aber, es war wirklich einer, und meine Wenigkeit warteten ergeben, bis das würdige Wirtspaar aus den Wolken durchlauchtigster Gnade wieder auf die gemeine Erde herabstieg.

An hochgestellten Gästen hat die Gegend überhaupt keinen Mangel. Das alte Schloß, das ich heute noch vor sinkender Sonne erreichen wollte, ist Eigentum des Kardinals und Erzbischofs. Alljährlich, wenn er die Hochsommergeschäfte in der Residenz erledigt hat, trifft er zum Herbstaufenthalt hier ein.

In einer Unzahl schlangengleicher Kehren windet sich die Straße, glatt wie ein Billardtuch, durch prächtigen Hochwald zum Schloß empor. Am halboffenen Tor, unter den efeuverwachsenen Schießscharten, besagt eine Tafel, daß der »Eintritt im allgemeinen verboten« sei. Ich war jedoch einmal so frei, mich für etwas Besonderes zu halten, und trat ruhig ein. Da hat sich im geistlichen Burgfrieden ein Krämer etabliert, der nicht nur Salz und Brot und dürre Wurst und Katarrhzelteln und Peitschenschnüre feilhält, sondern auch höchst profane Ansichtskarten, für wen? das ist die Frage; da schleppen dralle Mägde die schwappenden Milcheimer, da ruft ein riesiger Hahn seinen wohlbesetzten Harem zur Nachtruhe, da rudern im marmornen Springbrunnenbecken schwarze, weiße, gefleckte Gänse und Enten.

Unangefochten kam ich bis zur zweiten, inneren Mauer, über Graben und Brücke. Drohend tauchte jetzt der Pförtner auf. Aber siehe, mein ausgesprochen »geistliches« Air, über das ich mich schon oft ärgerte, wenn es in frommen Dörfern Schulkinder und alte Weiber zum Handkuß lockte, hier tat es mir gute Dienste. Nach einem kurzen, prüfenden Blick murmelte der Wächter ein »Gelobt sei …« und gab den Weg frei.

Ein massiger, viereckiger Turm, ein langgestrecktes, weißgetünchtes Wohngebäude mit vielen vergitterten Fenstern, das ist die Außenseite der fürsterzbischöflichen Herbstresidenz. Drinnen im Hofe war's stimmungsvoll und totenstill. Schweigend rupfte oben auf der weinumrankten Säulengalerie ein appetitlicher Koch Berge junggemordeten Geflügels von rosiger Farbe und fleischiger Fülle. Froh und schweigend sahen seinem verheißungsreichen Tun von fern ein blasser Kleriker und ein baumlanger Lakai zu, jener über sein Brevier, dieser über seine Zigarette hinweg.

Weiter als bis hierher dringt, solang der Kardinal da ist, kein Fremder, und wär' er noch glatter rasiert als meine Wenigkeit. Daher machte ich mich jetzt auf den Rückweg. Als ich wieder an dem tiefen, von bunten, doch duftlosen Spätblumen erfüllten Zwingergärtlein vorbeikam, rollte langsam eine zweispännige Kalesche mit blutroten Radspeichen herein. Darinnen lehnte, von allen zutiefst begrüßt, müd und sinnend ein ehrwürdiger, weißhaariger Greis – und der machte sich, das sah man von weitem, nicht mehr gar so viel aus Gebratenem und Gebackenem, aus einer Hühnerbrust oder Gänsekeule …

Es war Abend geworden; eilig ging ich durch den Wald bergab, der Bahnstation zu. Von fernher zitterten gelle Pfiffe, zu meinen Füßen rauschte im Dunkeln der Sirnbach, und seitab am Wege klang mit raschem Ping-Ping Eisen auf Stein. Da saß einer mit wildem Bart und nackten braunen Armen im Steinbruch und schnallte den Leibriemen fester und suchte dem kurzen Tag noch eine Arbeitsviertelstunde abzugewinnen.

»Ein hartes Brot, Herr,« redete er mich ohne weiteres an. »Ein verdammt hartes Brot. Vier Gulden krieg' ich für den Haufen Schotter, gebrochen, zerklopft, zugeführt und aufgeschlichtet. Fünf Tag' hab' ich früher zu einem gebraucht, wann ich mich geschleunt hab', aber der neue Wegmeister ist gar ein Knicker und will die Haufen gleich um einen halben Meter länger haben. Es wär' noch immer zum Drauskommen, und ich möcht' nit klagen – wann man nur nit bei unserer Arbeit so schnell hungrig werden tät', gar so aus der Weis' hungrig. Gute Nacht, Herr.«

Ich ging weiter. Nach einer Weile hielt ich an und schaute zurück. Über dem zackigen Waldrand schimmerten helle Lichter, das waren die Lampen im alten Bergschloh. Grad gegenüber stieg langsam der Mond auf und lächelte sein vornehmes, ironisches Geisterlächeln herab auf diese bucklige, bucklige Welt.


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