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Fürstlichem Entschlusse verdankt der Park seine Entstehung.
Vor anderthalb Jahrzehnten noch war der weite Platz kahl und verwahrlost und uneben, eine »G'stätten« für Mist und Schutt, ein Lager für Gaukler und Komödianten niederster Gattung, ein Stelldichein für Dirnen und Vagabunden, bei trockenem Wetter eine sandige Wüste, bei feuchtem ein abscheulicher Sumpf. Jetzt aber durchschneidet ihn quer die herrlichste Gartenstraße, von der sich kiesbestreute Wege nach allen Richtungen abzweigen und zwischen wohlgepflegtem Rasen an malerische Baumgruppen, verschnittenes Gesträuch führen. Nicht Schmutz, noch Elend und Verkommenheit beleidigen mehr des Herrschers Auge, wenn er am Abend, des Regierens müde, auf lautlosen Gummireifen mit Windeseile seinem Lustschloß zurollt. Laubgeruch und Blütenduft umwehen ihn jetzt, Vogelgezwitscher dringt an sein Ohr und das jubelnde Lachen spielfroher Kinder. Denn den Kindern der angrenzenden Bezirke ist der Park als Tummelplatz gestattet und zugewiesen. Von der ersten warmen Frühlingssonne an wimmelt er von halbwüchsigen Buben und Mädchen. Sie tollen und jauchzen, jubeln und lärmen wohl auch, wie eben Kinder tun; aber es ist doch stets ein Hauch von Gesittung über ihrem Treiben, der von der blanken, vornehmen grünen Umgebung ausgeht und dessen man, ehe der Park eröffnet war, in diesen stadtfernen, vorortlichen Gegenden nicht die Spur merkte.
Fürstlicher Großmut ist also auch diese Veränderung zu danken.
Freilich, sie erstreckt sich nicht weit. Gleich über der Straße, keine dreißig Schritt vom lebendigen Gartenzaun, ist ein Fleckchen erhalten geblieben, das eine beiläufige Vorstellung geben kann, wie es hier ehemals ausgesehen hat. An ein paar Quadratklafter kümmerlichen Ackers stößt im Zwickel eine dürre, staubige Halde, ungenützt und brach, von klaffenden Gruben durchzogen. Auch auf ihr tummeln sich des Nachmittags Scharen von kleinen und größeren Kindern. Das sind die allerärmsten, der Nachwuchs von Taglöhnern und Fabriksarbeiterinnen aus den scheußlichen, feuchten Zinsburgen am äußersten Ende der Stadt. Gellender ist ihr Geschrei, wilder ihre Kurzweil als die der Altersgenossen drinnen im Park, von denen sie sowohl sichtbare wie unsichtbare Schranken trennen.
Zu diesem Haufen gehört der Krautwurst-Leopold aus der Neuneichengasse, ein stämmiges Kerlchen mit klugen Augen in dem braunen Gesicht und mit einem struppigen Haarwald, der schon nicht mehr lichtblond, sondern beinahe weiß schimmert. Sein junger Leib ist voller Narben wie der eines verdienten Kriegshelden: die purpurne Furche am Arm rührt von siedender Milch her, die er, kaum Kriechens fähig, vom mütterlichen Herd gerissen, die Beule am Hinterhaupt vom Steinwurf eines Kameraden, der Riß in der Unterlippe von den Scherben des Kruges, in dem er einst für eine Nachbarin den Abendtrunk holen sollte. Und vielgeflickt ist auch das Gewand, das des Poldls Blöße bedeckt, eine Hose, die, von einem Erwachsenen abgelegt und bei den Knien gekürzt, ihrem jetzigen Besitzer von den Achselhöhlen bis nahe an die Fersen reicht, und ein sehr grobes Hemd, dem es überdies an Knöpfen mangelt. Vormittags sitzt der Poldl in der zweiten Klasse B der städtischen Volksschule, nachmittags läßt er sich auf der Heide neben dem Park von der Sonne bestrahlen, vom Wind durchblasen, vom Regen berieseln, wie es halt gerade kommt. Den Park selber hat er, einem ungeschriebenen Gesetz seiner Körperschaft gehorchend, noch nie betreten. Aber tief im Innern trägt er, wie die meisten Genossen, eine uneingestandene Sehnsucht danach.
Und eines Nachmittags im Lenz, als seine beiden engsten Freunde, der Schorsch, der krank lag, und der Toni, der mit dem Handwagen nach der »Kohlenrutschen« gefahren war, nicht zum Spiel erschienen, faßte der Krautwurst-Poldl den Entschluß, sich den geheimnisvollen Garten einmal anzusehen, koste es was immer. So schlich er von seinem Fähnlein weg, streifte die Haare aus der Stirn und die Erdkrumen von den Füßen und war bald darauf ungehindert im Parke.
Da drinnen duftete und blühte und glänzte es, daß es eine Art hatte. Das war freilich ganz was anderes als die sogenannte »Wiese« draußen, die kaum für einen Laubfrosch genug Gras hatte. Aber der Poldl wollte auch die Menschen an diesem Ort kennen lernen. Er schlug einen Seitenweg ein und kam gleich in den nobelsten Teil des Parkes, wo keine Bänke, sondern leichte eiserne Sessel im Kreise aufgestellt waren. Auf den Stühlen saßen schöngekleidete junge Frauen, die hatten kleine Kinder auf dem Schoß und zierliche Korbwagen neben sich. Diese waren mit gestickten Decken behangen, jene mit Bändern und Spitzen geschmückt. Und die Frauen redeten eifrig aufeinander ein:
»Die Ihnere lauft no lang net so gut wie die Meine.«
»Kann sein, dafür hat die Meinige schon sechs Zahnderln.«
»Und der Meine gar schon achte …«
»Schaun S' unsern Fritzerl an, der is der Dickste im ganzen Park.«
»Aber unsere Berta die lebhafteste …«
Verwundert horchte der Poldl auf dies sonderbare Prahlen, neugierig stützte er sich mit beiden Armen auf einen der leeren Stühle. Doch da eilte auch schon ein ältliches Weib herbei mit einem blauen Kopftuch, großen, nach auswärts gebogenen Schuhen und einer rasselnden Geldtasche an der Hüfte und schrie ihn an:
»Wirst glei awergeh'n, du Mistbua! Die Sesseln san net für di da, setz' di auf a Bankl, wannst müad bist. Und überhaupt – schau', daß d' weiterkummst!«
Auch gut, dachte der Poldl und schaute, daß er weiterkam. Bei einer Gruppe kleiner Mädchen blieb er stehen. Die vergnügten sich mit einer Springschnur. Aber da riß die Schnur, und das Spiel hatte vorläufig ein Ende. Der Poldl trat näher.
»Gebt's es her,« sagte er ritterlich, »i mach' euch's.«
Aber die Mädchen schielten ihn ängstlich an, stießen sich verstohlen in die Seiten, rafften ihr Spielzeug zusammen und rannten hinweg. »Dumme Gäns' übereinand',« brummte der Poldl, »i hätt' ihnen's g'wiß g'stohl'n,« und schlenderte tiefer in den Park hinein. Auf einem Rasenplatz hockten Knaben und Mädchen und spielten Schule. Einer stellte den Lehrer vor, der fragte, wieviel dreimal drei sei, oder wie die Hauptstadt von Oesterreich heiße, und wer es wußte, der antwortete. Der Poldl drängte sich in die Reihen, die sich ihm widerwillig öffneten. Aber als er gleich darauf im Eifer eine verkehrte Antwort gab, lachten ihn alle heftig aus, so daß er sich ärgerlich und beschämt entfernte.
Er stieß auf ein Kleeblatt von Buben, ungefähr so alt wie er, die eben dabei waren, ihre angenehmen häuslichen Verhältnisse herauszustreichen.
»Mei Vatta,« sagte einer, »is a kaiserlicher Biamter, er is in ganzen Tag in der Stadt drin, glei neben dem Stephansturm, und wann er auf die Nacht z' Haus kommt, bringt er mir allerweil was mit.«
»Der meinige is a Sicherheitsinspekter,« brüstete sich der zweite, »wann der auf der Straßen was anschafft, müassen ihm alle Leut' und sogar die Kutscher folg'n.«
»Das is aber ah weiter was! Wißts, was mei Vatta is? A Reisender! Der därf 's ganze Monat mit der Eisenbahn fahr'n und es kost' ihm gar nix, sondern er wird no zahlt dafür. In der ganzen Welt war er schon, in Böhmen und in Preßburg und – und – in Afrika und Amerika ah!«
Die andern Zwei sahen zweifelnd und neidisch drein. Der Sohn des Reisenden aber bemerkte den Poldl, der, den Finger im Mund, ehrfurchtsvoll zugehört hatte, und seinen Freunden zublinzelnd, fragte er ihn:
»Was is denn nacher dei Vatta?«
»A Maurer,« wollte der Poldl rasch erwidern, aber er schluckte das Wort hinunter. Und als sie ihn nochmals lachend fragten, da wurde er rot bis unter die Haarwurzeln, drehte sich um und lief hinweg.
Horch! Hinter einem Gebüsch drangen Getrappel, Kriegsgeschrei und Kommandorufe hervor. »Russen und Japaner« wurde dort gespielt. Das war für den Poldl das Richtige. Mit leuchtenden Augen sprang er hin:
»Därf i a mitspül'n?
Aber der Anführer der Japaner, ein hochaufgeschossener Junge in einem blauen Matrosenanzug, der ein hölzernes Schiffchen durch den Sand schleppte, musterte ihn vom Kopf bis zum Fuß und fuhr ihn an:
»Naa!«
»So geht's!« bat der Poldl. »Warum denn net?«
»A so halt. Weil m'r di net brauchen können.«
»Weil's d' uns z' dreckig bist!« schrie einer mitten aus dem Haufen. Der Poldl, dem die Galle stieg, suchte ihn vergebens zu erspähen. Und ein anderer, ein geschniegeltes, dreikäsehohes Bürschchen mit blonden Locken, das der Poldl von der Schule aus kannte, fügte hinzu:
»Weil's d' von einer Bagasch' bist. Mir wissen's schon, daß dein Vatta alle zweiten Tag ein' Rausch hat und dann dei' Mutter haut!«
»Das is net wahr,« rief der Poldl, obwohl er nur zu gut wußte, daß es wahr sei.
»Oh ja, das sagt die ganze Gassen. Und du bist eh' auch ein Fallot.«
Da stürzte sich der Krautwurst-Poldl bebend vor Zorn und Scham auf seinen Beleidiger, der kreischend flüchtete. Aber im nächsten Augenblick fühlte er sich von rückwärts beim Kragen gefaßt, und der Parkwächter schrie ihm ins Ohr:
»Raffen willst da herin, du Lausbub, du nixnutziger? Anständige Kinder willst schlag'n, ha? Na wart, das wer' i dir austreib'n … Und überhaupt, wia kommst denn da einer in dem Aufzug? Marsch außi mit dir!«
Mit gewaltiger Anstrengung riß sich der Poldl los und rannte davon, rannte, ohne sich umzublicken, bis er wieder über der Straße an seiner gewohnten Erholungsstätte war. Dort warf er sich aufatmend in die welken, niedergetretenen Halme und dachte nach. Was hatte er denn verbrochen, daß man ihn so behandeln durfte? War er nicht in der besten Absicht in den Park gegangen? Hatte er sich nicht so anständig betragen wie möglich? Und trotzdem war er gemieden und verspottet und beschimpft und zum Schluß sogar schmählich hinausgejagt worden! Daß er kein besseres Gewand hatte, war doch nicht seine Schuld, und daß der Vater im Rausch die Mutter prügelte, schon gar nicht. Weshalb also wehrten sie ihm, was hundert anderen ohneweiters erlaubt war?
Vergebens marterte er sein unreifes Hirn und fand keine Antwort. Aber all die bitteren, häßlichen Worte fielen ihm plötzlich ein, die die Eltern und die Nachbarn oft gegen die Reichen, Harten ausstießen. Der Wind trug den Jubel der fröhlichen Altersgenossen in Fetzen zu ihm herüber. Da biß er die Zähne zusammen und richtete sich halb in die Höhe und ballte die schmutzige, magere Faust:
»Warts nur, ös durt drenten! Gfreut's euch nur – bis i amal groß bin …!«
Wer jetzt auf dem Grunde dieser armen Knabenseele zu lesen verstünde, vielleicht würde er ihr und sich wünschen, daß jener Tag niemals erwache, der heute noch in unmeßbarer Ferne und gestaltloser Finsternis schläft, der Tag, an dem der Krautwurst Leopold »groß« geworden sein wird.