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»Bitte, einstweulen Platz zu nehmen!« rief in seinem schönsten Hochdeutsch der Lehrjunge Pepi, als ich in den abendlich dunklen Friseurladen trat, um mir mein Haupthaar kürzen zu lassen. Und in seiner gewöhnlichen Redeweise fügte er hinzu: »Der Herr hat an' notwendigen Gang g'habt, und der Karl is beim Hausherrn drob'n im ersten Stock, muaß aber bald z'ruckkommen.«
Ich nahm geduldig Platz. Als der Pepi die Gasflamme entzündet hatte, sah ich, daß außer mir noch eine Kunde da war, ein ältlicher, spitznäsiger Gentleman mit sehr borstigem Haar und vielen grauen Bartstoppeln an Kinn und Wangen, in einem übertrieben lüftigen Rocke, aus dem nur die Andeutung eines Hemdkragens und gar keine Manschetten hervorragten.
Der Pepi begann, wie es seine Pflicht und Vorliebe ist, den Mann aufs Allergründlichste einzuseifen: Vom Halse angefangen über Mund, Nase und Ohren bis zur Stirn; nur die Augen ließ er halbwegs frei … Ich habe den Pepi sehr gern. Er hat einst bessere Tage gesehen. Vor fünf Vierteljahren nämlich war er noch Student, Schüler der zweiten Klasse am Mariahilfer Gymnasium. Aber als er zum Semesterschluß drei »Nichtgenügend«, je eins in Arithmetik, Geschichte und Latein, nachhaus brachte und die Professoren ihm für's zweite Halbjahr noch eine Vermehrung dieser Zahl versprachen, zwangen ihn seine vernünftigen Eltern, kleine Geschäftsleute, nicht weiter zur Gelehrtenlaufbahn, sondern gaben ihn meinem Friseur zur Erziehung …
Ich sah den Bemühungen des Pepi mit Interesse zu. Endlich hatte der Spitznäsige kein Fleckchen mehr in der Physiognomie, das nicht mit dickem Seifenschaum bedeckt war. Der Gehilfe Karl jedoch erschien noch immer nicht. Da ging der Pepi zum Gerätekasten, nahm ein Rasiermesser heraus, schärfte es umständlich am Streichriemen und näherte sich mit ihm von rückwärts dem im Drehstuhle sitzenden Herrn. Ich streckte ihm den erhobenen Arm entgegen:
»Um Gott'swillen, was willst denn tun?«
»No, den Herrn rasir'n,« erwiderte er gelassen.
»Aber das kannst du ja noch gar nicht,« flüsterte ich ihm hastig zu. »Du wirst ein schönes Malheur anrichten!«
»Net amal denken!« gab er keck zur Antwort. Und ehe ich den unseligen Gegenstand dieses Wagnisses warnen konnte, holperte schon das Messer über sein stachliges Gesicht. Zu jedem Schnitte holte der Pepi weit aus, und nach jedem setzte er eine Weile ab, um das Resultat von weitem zu betrachten, wie etwa das Fortschreiten eines Gemäldes von seinem Schöpfer betrachtet wird. Das Messer verursachte ein unglaublich starkes, kratzendes und sägendes Geräusch; eine halbverhungerte Frühjahrsfliege, die lebensüberdrüssig auf dem schwarzgeränderten Plakat »Hühneraugentod« gesessen hatte, war beim ersten jener durchdringenden Töne entsetzt in den dunkelsten Winkel der Zimmerdecke geflohen. Im Spiegel konnte ich genau beobachten, wie sich die weißgeschminkten Züge des alten Herrn wiederholt schmerzlich verzerrten. Doch er sagte kein Wort und duldete ergeben weiter.
Auf einmal aber durchzitterte ein Klagelaut den Raum: »Au weh!«
Was ich vorausgesehen hatte, war eingetreten. Blut rötete den Seifenschaum. Rasch sprang ich auf, um Gewalttaten zu verhindern. Allein der Mißhandelte dachte gar nicht an Rache, sondern seufzte nur und ließ es sich ruhig gefallen, daß der Pepi den Riß mit feuchtem Alaun bestrich und dann mit einem fragwürdigen Stückchen Heftpflaster aus seiner Westentasche notdürftig verklebte. Ich setzte mich zögernd und verfolgte mit ängstlicher Spannung die weitere Entwicklung der Dinge. Richtig dauerte es nicht lange, da hatte der Pepi den zweiten Blutigen ausgeteilt. Er war aber verhältnismäßig unbedeutend, so daß er keine besondere Beachtung fand. »Ein Haar ausg'sprengt«, nennt man das in der euphemistischen Sprache der Raseure. Böser schien der nächste, der auf der Oberlippe »saß« und beinahe die Nase geschlitzt hätte. Aber auch er erzielte außer einem kurzen Schrei und darauffolgenden leisen Stöhnen nicht die geringste Wirkung.
Ich war starr. Eine derartige Langmut einer Kunde hätte ich nie für möglich gehalten.
Endlich war der Bedauernswerte »rasiert«. Der Pepi verklebte kunstgerecht noch ein paar Ritzer, die er in der Eile übersehen hatte, spritzte seinem Opfer wohlriechendes Wasser aus einer Flasche in Mund und Augen, fuhr mit einer recht strapaziert aussehenden Puderquaste kreuz und quer darüber, warf mir einen triumphierenden Blick zu und verschwand im Nebenkabinet, um sich von den Spuren seiner erfolgreichen Tätigkeit zu reinigen. Der »Rasierte« erhob sich, machte mir eine Verbeugung und ging, nachdem er einen fuchsigen steifen Hut, aber keinen Überzieher vom Haken genommen hatte.
Fast gleichzeitig tänzelte Karl, der Gehilfe, herein und machte sich mit einem entschuldigenden »Guten Abend, ergebenster Diener, 'b die Ehre – warten schon lange, bitte?« über meine Locken her.
Ich fragte scharf:
»Haben Sie sich den Herrn angeschaut, der jetzt fortgegangen ist?«
»Gewiß, bitte,« antwortete er, verbindlich lächelnd. »Das is eine alte Kundschaft von uns.«
»So! Na, der wird am längsten Ihre Kundschaft gewesen sein.«
»O,« sagte der Karl, »wann ich nur alles so genau wüßt', als daß der in der nächsten Wochen wieder da is! … Ah so, Sie meinen, bitte, weg'n die paar Kratzer im G'sicht? Mein Gott, es war ja nicht so arg dasmal.«
»Nicht so arg nennen Sie das?« entrüstete ich mich.
»Nein, bitte. Heut' hat er sich z'samm'gnommen, unser Pepi, soviel ich g'seh'n hab'.«
»Hören Sie, das ist aber stark! Und für eine solche Schinderei lassen Sie sich Geld zahlen?«
»Aber bitte,« lächelte der Karl, »der Mensch is ja doch umsonst rasiert word'n.«
»Umsonst …? Ja, gibt es denn das?«
»Aber natürlich. Seitdem ich im G'schäft bin, kommt der arme Teufel schon her. Und er hat mir auch g'sagt, daß er mit'n Pepi recht z'frieden is. Der frühere Lehrbub', der Gustl, sagt er, hat sich viel ung'schickter ang'stellt.«
»Ich begreif' noch immer nicht –«
»Bitte recht sehr, das is doch ganz einfach. Die Lehrbuben oder, wie man jetzt sagt, jugendlichen Hilfsarbeiter, müssen unser Geschäft natürlich praktisch studieren, denn mit dem bloßen Zeigen und Erklären lerneten sie's ewig net. An wem, bitte, sollen sie sich denn aber üben, bitte? An die Leut' halt, die was kein Geld für's Rasieren, Haarschneiden und so weiter zahl'n wollen! An solchene Täg' alsdann, wo gewöhnlich wenig z'tun is, bei uns zum Beispiel am Montag, wird ein jeder, was will, umsonst bedient. Haben Sie das wirklich nicht gewußt, bitte?«
»Nein,« sagte ich.
»Eine alte G'schicht', das. Bewährt sich ausgezeichnet. Ohne ein bißl Blut geht's freilich nicht. Da sollten S' einmal mit mir auf unsere Fachschul' kommen, wann allgemeines, unentgeltliches Haarschneiden is. Das Haarschneiden is nämlich viel schwerer, bitte, als wie das Rasier'n. Da kommen hin und wieder unangenehme Sacherln vor. Unlängst zum Beispiel – na, es hat freilich im ersten Moment g'fährlicher ausg'schaut, als 's war. Die Herrn Doktoren auf der Klinik haben das Ohrwaschl im Handumdreh'n so sauber wieder z'sammg'näht, daß man heut' fast gar nichts mehr bemerkt.«
Ich schauderte. Der Pepi war aus dem Kabinet getreten und hatte wissensdurstig zugehört. Da ging wieder die Tür auf, und ein magerer junger Mensch mit einem Gigerlkragen aus Kautschuk und vertretenen, einst gelb gewesenen Knöpfelschuhen kam herein.
»Wünschen?« rief ihn der Gehilfe an.
»Bitt' schön, wann S' mir d' Haar einbiag'n täten.«
»Gratis Haarbrennen is eigentlich net Brauch bei uns,« sagte der Karl bedenklich. »Trauest du dich das überhaupt, Pepi?«
»O ja, o ja!« rief dieser in freudigem Eifer.
»No alsdann, meint'sweg'n. Aber aufpassen, Pepi!«
Wenige Minuten später erfüllten der Geruch von frisch gebratenem Menschenfleisch und ein verzweifeltes Jammergeheul den Raum.
Ich fuhr erschrocken herum: »Herrgott, was ist's denn?«
»Ah, gar nix net,« versetzte der Pepi geringschätzig, das rauchende Brenneisen schlenkernd. »A bisserl an d' Haut bin i ang'straft, weiter gar nix. Aber der Herr blazt ja glei' als wia a Deckerlkind.«
Darauf schämte sich der junge Mann sichtlich seiner Schwäche und hielt tapfer Stand. Schon fing sein Kopf sich mit »Schneckerln« zu bedecken an, da trat abermals eine Kunde von seiner Gattung ein; ein vierschrötiger Gesell in den besten Jahren und der schlechtesten Kleidung, der eine feuerrot glänzende Nase hatte und auf fünf Schritte nach Alkohol roch:
»Guat'n Ab'nd, wünsch i. I bitt', Haarschneiden, Bartstutzen und Rasier'n!«
»Nur glei' auf einmal?« fragte der Karl verdrießlich.
»Tat' bitten.«
»Da müssen S' a andersmal kommen. Jetzt is g'rad' viel z'tun.«
»O, bitt' schön, i kann warten. I hab' Zeit,« sagte der Ankömmling, und daran war nicht zu zweifeln.
Der Gehilfe ärgerte sich und schwieg. Der Pepi kräuselte bedächtig des eitlen Jünglings Locken und schien nach dem neuen Versuchsobjekt wenig Verlangen zu tragen. Da kam der Geschäftsinhaber zurück, von seinem Hunde, einem prächtigen Foxterrier, begleitet. Als er den Schnapsduftenden stocksteif im Zimmer stehen sah, verdüsterte sich seine Miene. Auch der Köter beschnupperte jenen mit großem Mißtrauen. Der aber versuchte den Hund zu streicheln und sagte scheinheilig:
»So a schön's Viecherl … An' echte Rass' … Und wuzerlfett is er.«
Der Lehrjunge Pepi blickte auf. Teuflische Bosheit leuchtete aus seinen Augen.
»Der kann leicht fett werd'n, so a Friseurhund,« bemerkte er langsam und nachdrücklich. »Der kriagt ja alle Abschnitzeln …«
Der Zerlumpte schrak zusammen und versuchte ungläubig zu lächeln. Gleich darauf aber sagte er: »Wann S' alsdann heut' wirkli' weni' Zeit hab'n, so kumm' i do' liaber an andersmal.«
Und draußen war er.
Der Besitzer des Barbierladens sah ihm lachend nach:
»Der kommt nimmer, der alte Branntweiner, und da bin i z'tod froh … Was aber ah der Mistbub', der Pepi, für Einfäll' hat …!«