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»Alsdann jetzt erklärt's m'r g'fälligst aner, was das eigentli is – a Leuenrichter,« sagte der dicke junge Herr Dimpfl, indem er das Zeitungsblatt, auf das er seit längerer Zeit mit den erstaunten, wasserhellen Augen regungslos gestarrt hatte, seufzend aus der Hand legte.
Durch die zum Sonntagsgabelfrühstück beim »Lassingfall« versammelte Stammtischgemeinde lief Achselzucken und Kopfschütteln.
»I waß 's net,« sagte der Dürrkräutler Stahlkopf mit Überzeugung.
»I hab' scho' selber frag'n woll'n,« schloß sich ihm der Schneider Nechwatil an.
»A Laienrichters« sprach nachdenklich der Posamentierwarenfabrikant Enzinger. »I versteh' die G'schicht' scho – i waß nur net, wia i mi ausdruckn soll … Alsdann a Laienrichter, das is nämli a so – das is so a Art von …«
»Eine Art von Sachverständigen,« half ihm Herr Behm, der Magistratsoffizial. »Ein Sachverständiger in Handelsangelegenheiten, glaub' ich, der dem Berufsrichter in speziell fachlichen Dingen an die Hand geht.«
Darauf erklärten Stahlkopf und Nechwatil rasch, daß sie sich genau dasselbe »eh« gedacht hätten. Enzinger sagte »Aha!« und Herr Dimpfl riß seine Augen noch ein wenig weiter auf.
»Alsdann kurz und guat,« piepste er dann, »die Leuenrichter san jetzt auf amal alli mitanander kaiserlicher Rat wurd'n. Warum denn dös?«
»Das ist einfach und klar,« sagte der Offizial. »Ein kaiserlicher Rat genießt doch beim Gerichtshof und bei den Parteien gleich mehr Ansehen als wie ein gewöhnlicher Geschäftsmann oder Prokurist. So ein Titel macht in diesem Fall sehr viel. Das ist doch selbstverständlich, nicht wahr?«
»Leider,« ließ sich jetzt plötzlich die grollende Stimme des Fleischhauers und Hausbesitzers Lorenz Surrm vernehmen, der bisher stumm und finster mit seinem Kalbsgullasch beschäftigt gewesen war.
Alle blickten ihn bestürzt und verwundert an.
»Leider is 's aso,« wiederholte er mit düsterer Miene. »Brauchen deswegen net verleg'n z'werd'n, Herr von Behm … Sö kinnan ja nix dafur, daß dö bucklerte Welt seit dreitausend Jahr' – oder wiavül – no alleweil net g'scheiter wurd'n is. Sö san net schuld dran, daß ma no' heutigstags mehr auf'n Titel schaut als wia auf das, was dahintersteckt. Sö hab'n ja recht, daß ma erscht mindestens a kaiserlicher Rat sein muaß, wann ma was vurstell'n will, in Wean oder auf'n Land. Trauri', trauri'!«
»Mir scheint, du bist überg'schnappt,« sagte Herr Stahlkopf, der sich zuerst faßte, kühl. »Oder hast valleicht scho' mit die Liberäulen schlechte Erfahrungen g'macht und bist jetzten zu die Sozi 'gangen?«
»I bin net überg'schnappt, i bin ah ka Liberäuler und ka Sozi net,« erwiderte Herr Surrm hoheitsvoll und ernst. »I schwier' überhaupt auf ka Partei net. I folg' nur mein' g'sunden Menschenverstand. Und der sagt mir, daß das Ganze mit die Titeln a patscherte Spülerei und a Blödsinn is. Ob der Mensch was gleichschaut und was waß und a bißl was hat, auf dös kummt's an, net, ob er a Baron oder a ›von‹ oder – hahaha! – a kaiserlicher Rat is. Auf so an' Titel gib i gar nix.«
»Scho' gar net, wann a anderer an' kriagt,« spöttelte Enzinger.
»Wia manen S' denn das?« brauste der Fleischhauer auf.
»Mein Gott, wia wird er's denn manen, der Herr von Enzinger,« legte sich Stahlkopf ins Mittel. »Er mant halt, daß du selber di jedenfalls a net wihr'n tätst, wann s' di zum kaiserlichen Rat macherten. Aber bei die andern, da gift's di freili.«
»Ha! Sehr guat!« lachte Surrm grimmig. »I gift' mi! Da gib i net amal a Antwurt drauf … Valleicht hätt' i scho' lang an' so an' Titel hab'n kinna, wann i nur mög'n hätt'. Verstanden? Aber i pfeif' drauf, i, der Surrm, i fliag' auf so was net. Ewi' net!«
»Erlauben Sie,« bemerkte der Magistratsoffizial, »eine Schande ist das doch gewiß nicht, wenn man kaiserlicher Rat …«
»Naa,« fuhr ihn Herr Surrm an. »Aber a b'sundere Auszeichnung oder a hoche Ehr' kann i ah net drin finden. Punktum. Übrigens, i siech' schon, ös verstehts mi net und i versteh' euch net. Da is's am g'scheitersten, i geh' … Kellner, zahl'n!«
Vergebens suchte ihn der Schneidermeister Nechwatil, dem daran gelegen war, seinen großmütigen Gläubiger stets in möglichst guter Laune zu sehen, zurückzuhalten. Die Gesellschaft ihrer Verblüffung über so unerhört radikale Ansichten überlassend, verließ Herr Surrm mit kurzem Gruß das Lokal.
Gleich nach ihm erhob sich auch ein großer, magerer, schwarzgekleideter und schwarzbärtiger Herr, der bisher als einziger Extrazimmergast außer den Stammkunden hinter einer entfalteten Zeitung verborgen gesessen hatte, zahlte ebenfalls und ging …
Herr Lorenz Surrm hatte fest bei sich beschlossen, mit den »dalkerten Tosten«, die seinem hochfliegenden, aufgeklärten Geist nicht zu folgen vermochten, niemals wieder zu verkehren. Drei Tage lang hielt er dies Gelübde. Am Donnerstag jedoch, zwischen sechs und sieben Uhr abends, als er sich so recht einsam fühlte – Frau und Tochter waren bei einem Kaffeekränzchen, der Herr Sohn trieb sich irgendwo herum – überwältigte ihn die Sehnsucht nach des »Lassingfalls« gemütlicher Kneipecke und frischem Pilsnerbier. Seinen Stolz bezwingend, machte er rasch Toilette. Da kam das Dienstmädchen herein und hielt einen großen, feierlich aussehenden Brief in der Hand:
»An Amtsdiener hat 'n 'bracht. Er wart't draußten.«
Herr Surrm setzte seinen mächtigen Hornzwicker auf und drehte das Schriftstück hin und her. »K. k. Landesgerichtspräsidium« stand auf dem Kouvert und mit amtlichen Oblaten war es verschlossen. Aufgeregt erbrach er es und buchstabierte:
»Seiner Hochwohlgebohren Herrn
Herrn Lorenz Surrm,
Fleischhauermeister und Hausbesitzer allhier.
Das gefertigte Landesgericht hat auf Vorschlag beschlossen, Euer Hochwohlgebohren zum Sachverständigen in Fleisch- und Approsionierungs-Angelegenheiten zu ernennen, wormit der Titel eines k. k. Regierungsrates verbunden ist. Sollten Euer Hochwohlgebohren hierzu geneigt sein, so wollen Sie den Betrag von Kr. 5.66 für Stempel und Kr. 3.07 Schreibgebühr, id est Kr. 8.73 dem Überbringer dießes, jedoch nur gegen Bestätigung, ausfolgen und sich morgen zwischen 8 und 10 Uhr vormittags im dasigen Bureau einfinden.
Der k. k. Landesgerichtsrat …«
Die Unterschrift war selbstverständlich nicht zu entziffern. Herr Surrm drückte sich den Zwicker fester auf die Nase und las nochmals von Anfang bis zu Ende. Wie wenig nervös er auch im allgemeinen war, das hatte ihm doch den Kopf heiß gemacht. Regierungsrat! Regierungsrat Lorenz Surrm! Also war man endlich maßgebendenorts auf seine Bürgertugenden und seine Sachkenntnis aufmerksam geworden! Lang genug hatte es ja gedauert. Nun, besser spät als gar nicht!
Zitternd vor Freude ging er ins Vorzimmer, sah dort einen hochgewachsenen Mann mit schwarzem Backenbart in Salonrock und gelbbordierter Amtsdienermütze stehen und redete ihn möglichst gelassen an:
»Alsdann Sie woll'n das Geld gleich mitnehmen?«
»Woll'n tua i net,« antwortete jener mürrisch. »I hab' ja nix davo'. Das is ganz Ihner Sach'!«
»Freilich, freilich, so hab' i's ja net g'meint. Bitte, sind S' halt so gut. Da hab'n S' zehn Kronen.«
»I kann net außergeb'n,« weigerte sich der Amtsdiener.
»Aber lassen S' es nur. Trinken S' halt a paar Vierteln Wein auf meine G'sundheit. Und richten S', bitt' schön, dem Herrn Landesgerichtsrat meine Empfehlung aus, i wer' moring bestimmt kommen.«
»Guat is 's,« sagte die unhöfliche Amtsperson und verwahrte den Zehnkronenschein in einer großen ledernen Brieftasche. »Aber bestätigen muaß i Ihner's.«
Und er schrieb auf die Außenseite des Dekrets, mit dem Herr Lorenz Surrm zum Regierungsrat und »Approsionierungs«-Sachverständigen ernannt wurde, sorgfältig mit Tintenstift: »Acht Kronen und 73 Heller erhalten.«
Dann ging er. Herr Surrm nahm sich kaum Zeit, die Kravatte umzubinden und stürmte ebenfalls davon. Wohin? Ins Gasthaus »zum Lassingfall« natürlich! Heute sollten sie einmal schauen, die Herren Enzinger und Stahlkopf und wie sie alle hießen, die neidigen, armseligen Pfründner!
Der frühen Stunde gemäß saß noch niemand am Stammtisch als der bierfreudige Schneidermeister Nechwatil, der mit gespannter Aufmerksamkeit sein Abendblatt studierte.
»Ah, Herr von Surrm,« sagte er ehrerbietig, »das is g'scheit, daß Sie Ihnen wieder einmal anschaun lassen. Wir hab'n glaubt, Sie sein bös …«
»Warum net gar,« versetzte Herr Surrm, und das Herz schlug ihm gewaltig bei dem Gedanken an die Ueberraschung, die er in seiner Brusttasche barg. »Lassen S' Ihnen net stör'n, lesen S' nur Ihner Zeitung aus.«
»Bin schon fertig,« sagte der Schneider. »Sie, Herr von Surrm, das müssen S' dann auch lesen, das wird Ihnen sehr interessieren. Da geht so ein Kerl in die Häuser herum, der was erscht seit ein paar Wochen aus'm Landesg'richt heraußten is – weg'n Betrug war er eing'spirrt, ein früherer Diurnist is er – und sagt, er is vom Landesg'richt g'schickt, und schwindelt, wo er kann, a Geld »für Stempeln« außer. Meistens macht er sich an bessere G'schäftsleut', denen bringt er die Ernennung zum Sachverständigen oder so was, die Drucksorten hat er in der Kanzlei g'stohl'n, und richtig sein ihm schon ganz a Massa einigesprungen. Is das net merkwürdi', daß die Leut' heutzutag no so dumm sein?«
»Wo steht das?« fragte Herr Surrm und erschrak dabei selber über den heiseren Klang seiner Stimme.
»Da, bitte, der lange Artikel. › Ein Menschenkenner‹ steht drüber. Lesen S' es nur, es is ganz lustig.«
Herr Lorenz Surrm griff hastig nach dem Blatte und sein angstvoller Blick flog fieberhaft über die Zeilen.
»So was,« sprach Herr Nechwatil den Kommentar. »Wia kann ma' denn dem Nächstbesten, der an' ins Haus kummt, a Geld geb'n? Das muaß ma' do' kennen, daß das a aufg'legter Schwindel is, net?«
»Ja, ja,« sagte Herr Surrm zerstreut und las weiter. Sein Gesicht war so bleich geworden, daß ihn der Schneider besorgt fragte:
»Fehlt Ihnen was, Herr von Surrm?«
»Gar ka Spur,« erwiderte dieser mühsam. »I bin glei wieder da.« Und entfernte sich eilig durch die rückwärtige Tür in den Hof. Als er wieder zurückkam, war es leerer, aber auch leichter in seiner Brust: denn sein Ernennungsdekret schwamm, in tausend winzige Fetzen zerrissen, den Kanal hinab.
Tief aufatmend, wie einer, der einer entsetzlichen Gefahr mit genauer Not entronnen ist, ließ er sich am Tische nieder, ging den Aufsatz ein zweitesmal kopfschüttelnd durch und trank dann ein ganzes Krügel Pilsner ohne Absetzen aus. Und als einige Minuten später der Dürrkräutler Stahlkopf eintrat, da hatte Herr Surrm seine Ruhe, seine Geistesgegenwart und seinen gesunden Menschenverstand bereits so vollkommen wiedererlangt, daß er jenem entgegenrief:
»Kannst di' no' erinnern, was i euch am letzten Sunntag g'sagt hab'? Ja? Und hast 's heutige Abendblatt scho' g'segn? Naa? Alsdann schau dir 's jetzt an. Da, les … Wia i sag': Nur mit an schön' Titel, den was ma' an sein' ehrlichen Nam' anhängen kann, braucht ma' an z'razen, dann wird a jeder glei' verruckt und sitzt sogar dem dümmsten Gauner auf. Aber natürli, das kummt von dem – no, i mag mir net 's Maul verbrennen … Es is unglaublich!«