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Staub.

Der Herr Sekretär saß beim Frühstück und war vortrefflicher Laune. Er hatte soeben einen Zeitungsartikel mit der Ueberschrift »Der Kampf gegen die Tuberkulose« gelesen, der mit Begeisterung alle in der jüngsten Zeit zum Schutz der Gesundheit – des »höchsten öffentlichen Gutes« – getroffenen Vorkehrungen und Maßregeln aufzählte und dabei voll Lob seine, des Herrn Sekretärs, Behörde und sogar seinen, des Herrn Sekretärs, Namen erwähnte. Der Herr Sekretär hatte sich, das durfte er ohne Unbescheidenheit sagen, in seinem Amte jederzeit redliche Mühe gegeben, um die »kompetenten« Organe der Stadt auf ihre hygienischen Pflichten aufmerksam zu machen und zu deren genauer Erfüllung zu verhalten. Die Anerkennung, die ihm nun zuteil wurde, war daher selbstverständlich. Aber gerade das Selbstverständliche tritt ja selten ein, so daß man, wenn es einmal geschieht, sich immerhin darüber freuen darf.

Der Herr Sekretär freute sich also, faltete das Blatt zusammen und steckte es zu sich. Dann nahm er Hut, Rock und Stock und machte sich auf den Weg ins Bureau. Eben war die Hausmeisterin dabei, die Stiegen zu kehren. Sie machte sofort Platz und grüßte ehrerbietig. Der Herr Sekretär dankte, leicht hüstelnd, und trat auf die Straße.

Es hatte mehrere Tage lang heftig geregnet, aber man war keineswegs so voreilig gewesen, den Kot gleich mit großen Kosten wegzuschaffen. Und jetzt zeigte sich's, wie klug das gewesen war. Denn erst gestern gegen Abend hatte der Regen aufgehört, und heute früh bereits war, dank dem heftigen Nachtwind, das Pflaster wieder trocken; wirklich ganz und gar trocken, als ob es niemals naß gewesen wäre. Der Herr Sekretär stellte dies gewissenhaft fest, als das schrille, taktmäßige Läuten einer Glocke an sein Ohr drang, erst leise, dann nach einer Pause etwas lauter, und so mit regelmäßigen Unterbrechungen immer näher kommend.

»Der Mistbauer!« sagte der Herr Sekretär überrascht zu sich selber. »So zeitig heut' schon?«

Er sah mit mißbilligendem Kopfschütteln nach der Uhr. Doch sogleich glitt ein Lächeln über seine Züge:

»Richtig, neun ist's! Ich habe mich geirrt. Ja, der Mann ist an Pünktlichkeit gewöhnt worden.«

Vor den Haustoren standen Kistchen, Körbe, alte blecherne Töpfe und andere Gefäße, die mit Gegenständen der verschiedensten Art gefüllt waren: Asche, Sand, Glasscherben, Knochen, verrosteten Nägeln, Gemüseabfällen, Kleiderfetzen, abgesprungenen Knöpfen, Papierschnitzeln, Stiefelfragmenten, Zwirnsfäden und noch hundert ähnlichen Kleinigkeiten. Und von weitem schwankte auch schon, mit zwei kräftigen Pferden bespannt, von einem fröhlichen Kutscher gelenkt, klappernd, rasselnd und fortwährend feine Wolken nach beiden Seiten ausströmend wie ein Teekessel, der Kehrichtwagen heran. Der Herr Sekretär überzeugte sich, daß es ein »patentierter« sei, und bog dann in eine Seitengasse ein.

Noch war er darin keine zwei Dutzend Schritte gegangen, als etwas Weißes, Weiches aus der Luft herabschwebte und sich flockenförmig auf seinem dunkelblauen Winterrock verteilte.

»Mir scheint, es schneit,« dachte der Sekretär und sah in die Höhe. Da merkte er freilich, wie irrig und komisch seine Vermutung gewesen war. Zum Schneien war es ja viel zu warm. Nicht Schnee, sondern entzückende kleine Flaumfederchen waren es, sie lösten sich von dem Bettzeug ab, das in einem offenen Fenster des Hauses, an dem er gerade vorüberschritt, zum Lüften ausgelegt war. Die Federbetten so mit Sauerstoff durchtränken zu lassen, ist ja zweifellos sehr gesund, überlegte der Sekretär und ging auf die andere Seite der Gasse. Aber siehe, nach einigen Sekunden kam auch hier etwas aus der Luft, dunkler in der Farbe und mannigfaltiger in der Form als jenes frühere Phänomen. Und diesmal war der Herr Sekretär auch gar nicht im Zweifel, was es sei.

»Da beutelt jemand ein Staubtuch aus!« rief er, indem er ein zartes Lebewesen, das ganz entfernte Ähnlichkeit mit einem Marienkäferchen hatte, sehr geschwind vom Ärmel streifte. »Ein Skandal, so was! Ist denn kein Wachmann da?«

Nein, es war keiner in der Nähe. Und im nächsten Augenblick schon schämte sich der Herr Sekretär selber seiner grausamen Regung. Aufblickend, sah er ein überaus nettes Stubenmädchen mit allen Zeichen reizender Verwirrung an einem Fenster des ersten Stockwerkes stehen. Lächelnd drohte er der Missetäterin mit dem Finger, merkte sich für alle Fälle die Hausnummer und setzte seinen Weg fort. »'s ist halt ein Kreuz,« brummte er. »Wo sollen denn die armen Mädeln die Tücher ausbeuteln?«

Inzwischen hatte sich wieder ein leichter Wind erhoben, der die Beobachtung des Herrn Sekretärs über die Trockenheit des Pflasters vollauf bestätigte, indem er Schwaden von pulverisiertem Granit und Pferdemist vor sich hertrieb. Gerade wollte der Herr Sekretär im Geist nach einem Straßenkehrer seufzen, da stand auch schon das Gewünschte vor ihm. Und zwar gleich in zwei Exemplaren. Sie waren mit Besen und Schaufel bemüht, alles, was sich an Staub im Umkreis von anderthalb Schritten vorfand, zwischen einander zu einem zierlichen Hügelchen aufzuschichten. Dabei hatten sie die erbittertsten Kämpfe zu bestehen, nicht nur mit dem Winde, der ihnen ihr Kunstwerk immer von neuem zerblies, sondern auch mit den Gummiradlern, die, vergebens nach einer Gelegenheit zum Kotschleudern suchend, mitten durch das Häufchen rasten und dessen Hüter zu raschem Beiseitespringen zwangen. Doch die hielten wacker aus und begannen ihr dorniges Werk unverdrossen stets wieder von vorn. Nicht ohne Rührung betrachtete der Herr Sekretär die beiden verwitterten Biedermänner. Dann beschleunigte er seine Schritte, denn um acht begannen die Amtsstunden, jetzt war es halb zehn vorbei, und er rechnete sich zu den gewissenhaften Beamten. Eine Gasse hatte er noch zu durchschreiten. Als er sie betreten wollte, fielen ihm rechtzeitig die zahlreichen Neubauten ein, die sie heuer dort aufführten. So sehr der Herr Sekretär eine solche rege Bautätigkeit als Zeichen des Wohlstandes und des Fortschrittes schätzte, so gern verzichtete er darauf, sich mit Kalk- und Ziegelstaub überzuckern zu lassen wie ein Gugelhupf. Daher ging er ein Stück weiter, um die zweite Quergasse zu benützen. Allein kaum hatte er einen Fuß hineingesetzt, da prallte er förmlich betäubt zurück. Die ganze Breite der Gasse war von grauen, braunen und gelben Wolken erfüllt, die den Atem benahmen, die Augen beizten und majestätisch auf- und niederwogten wie der Rauch eines Seegefechts. Der Besitzer eines der größten Häuser hatte nämlich das Bedürfnis gefühlt, seine an einen unverbauten Platz stoßende Feuermauer frisch verputzen zu lassen, was ja allerdings nicht mehr überflüssig war. Nun wurde die Mauer abgekratzt, und der alte Mörtel, lästiger Bande ledig, drang übermütig in alle umliegenden Wohnungen und ließ sich schalkhaft auf die vergebens flüchtenden Passanten nieder. Natürlich kehrte auch der Herr Sekretär um und strebte, da es keine dritte Verbindungsgasse gab, einem ihm bekannten Durchhause zu. In dem langen, tiefen, engen Hofe dieses Durchhauses wurden zufälligerweise grade Teppiche geklopft. Der Herr Sekretär mußte, um nicht von hochgeschwungenen »Prackern« auf den Kopf und Rücken getroffen zu werden, sich wie ein Aal zwischen den rüstigen, staubumwallten Mägden durchwinden, was er auch mit gutem Humor tat.

Endlich war er beim Amtsgebäude angelangt und begab sich, vom Portier ergebenst salutiert, in sein Bureau. Aber von Arbeit war dort heute nicht viel die Rede. Fast alle Beamten hatten natürlich schon den Aufsatz »Der Kampf gegen die Tuberkulose« gelesen und überliefen nun den Herrn Sekretär mit Fragen, Erläuterungen und Glückwünschen. Der Herr Hofrat selbst ließ ihn rufen, gratulierte ihm und ermunterte ihn, in seiner ersprießlichen Tätigkeit zum allgemeinen Besten fortzufahren.

Auf ja und nein war es Zeit zum Nachhausegehen geworden, der Herr Sekretär wußte kaum, wie. Hochbefriedigt strebte er heimwärts, als ihm wieder das Gefährt des Mistbauers begegnete, das jetzt den letzten Teil seines Tagewerkes absolvierte. Der Herr Sekretär blieb stehen, um sich eine jener originellen Volksszenen anzusehen, die sich vor jedem Hause in gleicher Art abspielten. Alte Frauen, Dienstmädchen, Lehrjungen übergaben ihre wohlgefüllten Gefäße der Amtsperson, die, in dem Wagen stehend, eines nach dem anderen mit kühnem Schwung unter scherzhaften oder gemütvollen Ansprachen entleerte und dann zurückstellte. Da geschah plötzlich etwas völlig Unerwartetes. Ein kleiner Knabe drängte sich keck von rückwärts durch alle seine Vordermänner und Vorderfrauen dicht an den Wagen heran und stülpte dort sein Mistkistchen um, ohne die Hülfe des dazu bestellten Organs in Anspruch zu nehmen. Durch die große Hast des Beginnens fiel jedoch ein Handvoll Unrat aus dem Kistchen heraus auf das Straßenpflaster. Aber nun hätte man den Mistbauer sehen sollen! Sein Antlitz rötete sich, seine Augen, mit denen er den enteilenden Übeltäter verfolgte, flammten wie glühende Kohlen.

»Diabsbua, krauperter!« schrie er. »Kannst eppa net warten, bis die Reih' an di kummt? Versamst leicht was? Wann i di amal derwisch', du Rotzpipen, dann g'hör'n die Ohrwascheln mei'! So was! Auf's Pflaster schmeißt er 'n Mist, statt in 'n Wag'n eini, der Fallot, der z'niachte! Da soll's nacher net staub'n

Alle Umstehenden gaben dem Eifernden recht, der Herr Sekretär natürlich im Stillen auch. Zugleich aber durchzuckte ihn ein quälender Gedanke und ließ ihn nicht mehr los: Wie, wenn sich Fälle, wie der erlebte, öfter ereigneten? Und wenn sie nicht immer von einem strengen Ehrenmann, der seine Pflicht kannte, gerügt wurden? Dann waren ja alle Bemühungen um die öffentliche Hygiene vergeblich! Dann war die Tuberkulose einfach nicht zu besiegen!

Den Bruchteil einer Sekunde dachte der Herr Sekretär nach, nicht länger. Dann rief er seinem knurrenden Magen ein unerbittliches »Schweig!« zu und – kehrte in sein Amt zurück. Zu wichtig war die Sache um bis morgen zu warten, sofort mußte sie in Ordnung gebracht werden. Er sperrte sich in sein einfaches Zimmer und begann mit fliegender Eile zu schreiben. Kräftige, harte Worte entflossen seiner Feder, aber Milde war hier wahrlich nicht am Platze.

Nach zwei Stunden war er fertig. Mit strahlender Miene lehnte er sich in seinen Sessel zurück und überlas nochmals das Geschriebene: »Zirkularerlaß betreffend die wiederholte Einschärfung der bestehenden Bestimmungen über das Entleeren der Unratkästen (Misttrüherln) in die kommunalen Kehrichtwagen. – Aus Anlaß der gemachten Wahrnehmung eines vorgekommenen Falles der unterlassenen Beobachtung der zum Behufe möglichster Förderung der öffentlichen Gesundheitspflege hieramts erlassenen Vorschriften …«


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