Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
(Juni 1904.)
Ein Paradies war der nüchterne, öde, mit Bäumen, die nicht leben und nicht sterben konnten, spärlich bepflanzte Hof des Wiener Versorgungshauses in der Spitalgasse wohl niemals. So dürr und staubig wie um jene Sonnenwende aber zeigte er sich früher doch nicht. Denn schon hat man sich daran gemacht, ihn zu verwüsten, schon haben sie einen breiten Streifen von seinem Leib geschnitten, und dort wühlen Schaufel und Krampen im Boden, rollen die bekannten zweirädrigen Karren aus und ein. Und von dorther trägt jeder Windstoß Wolken von feinem roten und grauen Sand nach dem armen Garten und streut ihn über seine melancholischen Kastanien, Linden, Götterbäume und Akazien.
Überall merkt man schon, daß man in einem Hause ist, das die Bewohner demnächst fliehen und seinem Geschick überlassen werden. Die Fenster sind nicht so blank geputzt wie früher, Stiegen und Gänge weniger sorgsam ausgewaschen; der Portier achtet nicht mehr streng auf die Besucher, und ob sie sich unten am Eingang die Schuhe reinigen, das ist ihm gar gleichgiltig; allerlei unbrauchbares Gerümpel wird ausgemustert, dafür bieten geschäftskundige, fixe Hausierer den Insassen dies und jenes Ausrüstungsstück zum Kauf an, das sie für die bevorstehende Übersiedlung gut brauchen könnten, und unter einem Torbogen liegen viele gehobelte Bretter aufgeschichtet, aus denen flinke Tischlergesellen riesige Packkisten zusammenhämmern.
Alles rüstet zum Aufbruch. Links im Garten sind auf hohen Pflöcken zwei merkwürdige mechanische Kunstwerke zu sehen, die ein längstverstorbener Pfründner mit viel Geschick, Mühe und Zeit aus Holz geschnitzt hat. Eine Mühle stellt das eine vor, ein Schlachtfeld das andere. Wenn der Wind in die primitiven Flügelräder bläst, die das Ganze in Bewegung setzen, dann fängt auch das kleine Mühlenrad zu kreisen an, die hölzernen Müllerburschen schütten Korn auf, im ersten Stockwerk öffnen sich die Fenster, ein Herr mit einem dicken Buch und eine Dame mit einer mächtigen Haube schauen heraus, und auf dem Dache schnäbelt ein Taubenpaar; drüben auf dem anderen Pflocke aber beginnt eine scharfe Kavallerie-Attacke, gegen die sich brave österreichische Infanteristen mit gefälltem Bajonett erfolgreich wehren. Tausend und wieder tausend arme alte Leute, deren Schifflein nach manchen harten Stürmen auf diesen stillen Strand stieß, haben an der lustigen Spielerei ihre bescheidene Freude gehabt, die Frauen hauptsächlich an der gemütlichen, belebten Mühle, die Männer mit den patriotischen Bärten und den Kriegsmedaillen mehr an jenem schneidigen Getümmel. Darum sollen beide jetzt auch nicht der Vernichtung anheimfallen, darum dürfen sie mit ins neue Quartier. Einer, der noch Kraft und Sicherheit in den Beinen spürt, hat eine Leiter herbeigeschleppt und klettert mit Hammer und Bohrer und Schraubenzieher zur Mühle empor. Und eine teilnahmsvolle Schar von Greisen und Greisinnen sieht ihm mit andächtiger Spannung zu, wie er das Puppenhaus langsam, vorsichtig herabnimmt.
Laut und lärmend dagegen wird das große Ereignis in der Kantine erörtert, an den rohgezimmerten Tischen im Winkel neben der Küche. Dort sitzen die genußfreudigen und wohlhabenderen von den Pfründnern, die sich bewußt sind, daß ihnen »nix g'scheh'n« kann, und die selbst in der »Versorgung« auf das geliebte tägliche Gabelfrühstück nicht zu verzichten gedenken. Einer hat eine Zeitung vor sich und schildert an ihrer Hand den anderen die Vorzüge der neuen Anstalt, die ihnen in Lainz errichtet worden ist:
»Die neuen Bauten sind wirklich komfortabel zu nennen,« buchstabiert er.
»Was lest d' denn da wieder z'samm'!« lachen ein paar von den Zuhörern.
»Bitte sehr, so steht's da! Schaut's selber her!«
»Aber geh', a Komfortabel und a Versorgungshaus san do zwarerlei. Net?«
»Komfortabel heißt an dieser Stelle soviel wie zweckmäßig, bequem,« klärt die Spötter ein sehr gelehrt, aber auch sehr schäbig aussehender Kollege auf, den sie allgemein den »Doktor« heißen.
»Ah so! Kammod mit an Wurt! Das is freili was anders. Kammod! Alsdann les nur weiter.«
»Die Einrichtung ist durchaus sek – sekzionistisch gehalten …«
»Sekzessionistisch,« verbessert der Doktor würdevoll.
»Ui je!« schreit einer und haut auf den Tisch. »Da hab' i schon g'fressen!«
»So?« spöttelt ein anderer. »I net. Im Gegenteil, i bin g'rad' auf'n – Fraß recht neugieri'. Wann der nur guat und vül is, dann kinnan s' mir'n weg'n meiner in an' altdeutschen Häfen oder in an sekzionistischen Lawur geb'n, is m'r Wurscht …«
Auch vorn im Garten, auf den dichtbesetzten Bänken in den Gebüschen und unter den Bäumen ist von nichts anderem die Rede als vom Umzug. Häufiger als sonst kommen jetzt auch Besucher in die Anstalt, um sie, bevor sie ihrer Bestimmung entzogen wird, noch einmal zu sehen. Und die armen Hascher auf den Bänken, die vor zwanzig, dreißig Jahren das »Volk von Wien« waren, fühlen nach langer Zeit wieder eine gewisse Wichtigkeit, sind voll Stolz, daß ihr abgeschiedenes Dasein nun plötzlich neue Beachtung gefunden hat. Hinter jedem Fremden, der einen gebürsteten Hut und gewichste Stiefel trägt, vermuten sie eine offizielle oder wenigstens halboffizielle Persönlichkeit.
»Schau'n S' den durt mit'n Zylinder an,« flüstert ein dürftig gekleidetes, runzliges Weiblein ehrfurchtsvoll seiner Sitznachbarin zu, »dös is g'wiß aner vom Ma'istrat, weil er all's so g'nau anschaut und in sein' Notizbüachl aufschreibt.«
»Da irren S' Ihnen,« erwidert die andere, eine zierliche Dame mit eisgrauen Schmachtlocken, »das is a Düchter. I hab' zuvuring g'hört, wia er zu an ander'n Herrn g'sagt hat, in diesem häßlichen Kasten, sagt er auf Hochdeutsch, verbirgt sich unendlich viel Poesie. G'rad' aso.«
»G'schwind', g'schwind',« winkt ihnen von weitem eine aufgeregte Dritte, »a Phortograph is da, der 's Haus a'nimmt. Wann m'r uns tummeln, kumman m'r ah auf das Bildl.«
Und die Greisinnen laufen und zupfen dabei an den dünnen Haarsträhnen und streichen die Schürzen glatt, um nur ja recht vorteilhaft auszusehen.
In der Allee, die sie durchqueren, steht eine Gruppe von Männern beisammen, gebückt und zittrig, auf Stöcke gestützt. Wehmütig geht ihre Rede:
»Das hätten mir uns ah net denkt, daß mir auf uns're alten Täg' no so a Ras' machen müassen, was?«
»Halt ja net. Und wann i sagert, daß i mi b'sunders g'freu' darauf, so müaßt' i lüag'n.«
»I scho gar net. Wann's no so schön is da draußten – i pfeif' d'rauf. I bin an mei' Ruah' g'wöhnt und an mei' Zimmer und an die Aussicht aufs Allgemeine Spital und auf'n Narrenturm.«
» Mir kann die Aussicht ganz gleich bleib'n,« sagt eine leise, leise, traurige Stimme. Und die andern schweigen und sehen einander mitleidig, bedeutungsvoll an. Denn der zuletzt geredet hat, ist blind auf beiden Augen …
In einem Marodenzimmer droben im ersten Stock sitzt ein alter Herr auf seinem Bette, der hält einen blonden Buben im morschen Arm, und vor ihm kniet eine junge, blühende Frauensperson, die einen Eßkorb auskramt.
»So, Vatta,« sagt sie, »da hab'n S' a Flascherl an' süaßen Roten und a Stück'l an' Kerschenstrudel, den hab' i selber g'macht, den Strudel, den därfen S' scho' essen, der schadt' Ihner nix.«
»I dank' d'r schön,« antwortet der Alte. »Du warst allerweil' a brav's Kind. Aber jetzt wirst di dann freili nimmer so fleißi umschau'n können um mi, und mein' liaben, liaben, klan' Poldl wer' i ah nimmer oft sehg'n.«
Er drückt das Enkelkind an sich und küßt es, und dabei fällt ein heißer Tropfen aus seinen armen, stumpfen, müdgeschauten Augen.
»Aber Vatta, wia reden denn Sö daher?« zürnt die Tochter und kämpft die eigenen Tränen tapfer hinunter. »Lainz is ja do ah net aus der Welt und i wir' scho recht häufi kumma. Mir scheint gar, Sö wanen? Gengan S' zua, san S' do net kindisch!«
»Is eh wahr. Aber i hab' mi halt scho so g'wöhnt g'habt d'ran, daß ös mi alli Wochen zwamal hamsuacht's. Und dös muaß si natürli jetzt aufhör'n, gelt?«
»Zwamal in der Wochen kann i freili net 'nausfahr'n nach Lainz,« muß jetzt die Tochter zögernd zugeben. »Aber amal … o ja, amal g'wiß. Jeden Sunntag bin i draußt, verlassen S' Ihner d'rauf.«
Und der Knabe schreit jubelnd:
»I fahr' ah mit, Großvatta! I kumm' ah zu dir!«
Der alte Mann lächelt ihm zu. Aber in seinem Herzen ist ihm so weh' und schwer. Warum, das kann die glückliche Jugend nicht verstehen. Dazu muß man erst alt werden, alt und einsam.
Und im Zimmer nebenan sitzen auch ein Mann und eine Frau, die sind aber beide ziemlich gleich an Jahren und, wie es scheint, sehr vergnügt.
»Wia kannst di denn du in die Männerabteilung 'rüberschleichen?« sagt er. »Das is do verboten.«
»Geh', du Wurschtel! Wann m'r sieb'nadreiß'g Jahr' mitanander verheirat't san.«
»Das nutzt nix. In der Versurgung gibt's kane Ehepaar'. In' Garten kannst zu dein' Mann kumma, aber in sei Zimmer net!«
»Geh' zua, bist du aber streng! Und g'scheit! No, so wer' i d'r halt jetzt was Neuch's derzähl'n: In Lainz draußten gibt's scho Ehepaar'. Durt hab'n s' eigene Zimmer eing'richt't für d'verheirat'ten Leut'. Und mir kriag'n ah a so a Zimmer!«
»Ah, ah, ah! Dös is aber a Neuigkeit! Und du Tschapperl hast wirkli glaubt, daß i da no nix davon waß? Aber geh', scho lang waß i dös! Nur g'sagt hab' i d'r nix, damit die Freud' dann am End' umso größer is.«
Und er greift nach den dürren Händen seiner Gefährtin und streichelt sie ein- über's anderemal:
»Ja, Lentscherl, so is' s, z'sammziag'n därf'n m'r wieder. Jessas, hab' i mi kränkt die ganze Zeit her, wo mir Zwa da herin san und do net beisamm' sei'hab'n därfen! Oft hab' i die ganze Nacht net schlafen können, und a jed's unb'schaffene Wurt is m'r dann eing'fall'n, was i d'r früher amal geb'n hab' … Ja, ja, brauchst mi net entschuldigen, i war schon oft a recht a grauslicher Ding … aber jetzt bin i marb word'n, ganz marb. Und wann's nur a Jahr' lang wieder so is wia ehender, dann stirb' i gern.«
»Du grauslicher Ding, du,« lächelt sein Weib, »wer wird denn jetzt vom Sterb'n reden? Jetzt, wo erst a neuch's Leb'n für uns anfangt!«
Und sie umschlingt ihn, und es ist ihnen alles eins, ob etwa jemand ins Zimmer tritt und ihr närrisches Gehaben sieht und sich gar lustig macht über sie.
Ja, so zwei verliebte Leute! Die können ihn freilich kaum erwarten, den Umzug.